Ferienmüde
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Als das Reisen nicht mehr geholfen hat

  1. 152 Seiten
  2. German
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Als das Reisen nicht mehr geholfen hat

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Über dieses Buch

Das Schlagwort des vergangenen Jahres hieß "overtourism": Überfüllung der Städte, der Strände, der Traumdestinationen. Dann kam die große Stillstellung im Frühjahr 2020: Geschlossene Grenzen, gesperrte Flughäfen, menschenleere Innenstädte. Mit der Rückkehr zur Normalität wird dann auch wohl das Fernweh wiederkommen, der große Aufbruch in die Ferien. Aber wohin?Reisen im 21. Jahrhundert ist - nicht ganz freiwillig - eine postromantische Angelegenheit. Was haben die fast eineinhalb Milliarden Menschen gefunden, die sich 2019 auf die Suche nach der Schönheit gemacht haben, nach dem gelungenen Ferienerlebnis, nach der Auszeit, der großen Wiedergutmachung des eigenen Lebens durch Reisen? Urlaub war in keiner der großen Sozialutopien der letzten Jahrhunderte vorgesehen, in Tommaso di Campanellas Sonnenstaat ebenso wenig wie im kommunistischen Paradies oder in der vermeintlichen Auflösung aller Körper und Grenzen im selbstverwalteten Digitalien der 1990er Jahre. Umsturz? Revolution? Alles uninteressant. Am Beginn des 21. Jahrhunderts war der Urlaub die letzte große soziale Utopie, das Territorium der Freiheit, drei Wochen im Jahr. Dummerweise hört diese Utopie gerade auf zu funktionieren. Es ist voll und eng geworden im Paradies. Deswegen ist es – wie jedes Paradies – leider unlängst endgültig geschlossen worden. Die Erfüllung der Träume hat zu viel Schmutz hinterlassen, jede Menge Überdruss und Müdigkeit. Dann kam Corona. Und irgendwann kehrt die Normalität zurück. Grund genug für eine kleine Bilanz. Worum ging es beim touristischen Aufbruch in die Freiheit eigentlich - und was lässt sich heute damit anfangen?

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Information

1 Werde zum Entdecker

Eine Touristin, ein Tourist ist eine Person, die auf eine bestimmte Weise schaut. Der Ort ist nicht ihr Ort. Sie ist nicht gekommen, um hier zu arbeiten, Geld zu verdienen oder Information einzuholen. Sie ist keine Reporterin und kein Spion. Sie will ohnehin nicht unbedingt etwas erfahren: Ihre Informationen hat sie schon mitgebracht, deswegen ist sie ja da. Sie ist dorthin gereist, um das Schöne zu sehen.
Kerala, Südindien, Mitte Januar. Ach, sagte das ältere französische Paar beim Frühstück. Es sei so atemberaubend schön hier, das Meer, die Gewürze, die Farben und diese unglaublichen Strände, endlos groß und leer. Sie kämen jedes Jahr hierher, für vier Monate, von November bis Ende Februar. »Da ist es bei uns einfach zu kalt.« Wo sie denn wohnten? Montpellier. Vor uns glitzerte der Strand, der sich unabsehbar weit nach Norden und Süden erstreckte, dahinter Palmen. Zehn Uhr morgens, 32 Grad.
Der Strand, das ist das Ziel am Urlaubsziel: Diese Aufregung, wenn man dann endlich dort angekommen ist, man kann die Hosen gar nicht schnell genug ausziehen und sich ins Wasser schmeißen. Und dann Bilder davon machen. Geschätzte drei Viertel aller Bildschirmhintergründe in den Büros meiner Universität zeigen einen Strand – mit Palmen, menschenleer, wie in den Reisebüroprospekten. Im Frühjahr 2017 wurde eine Umfrage durchgeführt, was Schweizerinnen und Schweizer besonders intensiv mit Heimat verbänden. Die Familie, sagten 70 Prozent. Die Berge: 60 Prozent. Fast jede und jeder fünfte, 18 Prozent, meinte dagegen: der Meeresstrand.[5] Nicht nur die Franzosen und die Deutschen, sondern auch die Alpenbewohner sehnen sich nach den großen Sandflächen am Meer und fühlen sich dort daheim.
Sind der Strand und das Glück am Strand das, was uns alle verbindet, die Armen und die Reichen? Der Ethnologe Marc Augé hat das vermutet: Auf dem Sand zwischen Handtüchern und Sonnenschirmen, hat er geschrieben, fänden unsere eigenen archaischen Stammesriten statt. »Jeder verliert sich hier, und jeder findet sich wieder.« Die Dichte der Zeit werde spürbar, und diese Dichte verschaffe einem ein Gefühl von Kindheit: Eine Art Dauer. »Am Strand verbringt man die Zeit, und die verbrachte Zeit lässt sich nur am Strand wieder einfangen.«[6]

Ankommen am Strand

Eine nicht-subjektive Geschichte hat der Strand aber auch. Die heroischen Anfänge der europäischen Expansion werden als Strandgeschichten erzählt, im Film sowieso. Columbus, der in Ridley Scotts 1492 in Gestalt von Gerard Dépardieu mit Brustpanzer und nassen Pluderhosen auf den nassen Sand stapft und dort auf die Knie fällt, die Fahne mit dem Kreuz in der Hand. Weiter oben im Norden, erzählte das französische Ehepaar, seien die Strände noch leerer und größer. »Dort ist ja auch Vasco da Gama gelandet, 1498.« In Kappad Beach in Calicut, heute Kozhicode, erinnert ein Denkmal an den portugiesischen Entdecker; eine große graue Betonsäule mit englischer Aufschrift. Ein paar Schritte weiter kann man im Vasco da Gama Beach Resort einchecken.
Nach Vasco da Gama ist nicht nur die längste Brücke Europas benannt, an der Expo 1998 in Lissabon zum 500. Jahrestag der Entdeckung eröffnet, sondern logischerweise der Strand in seiner portugiesischen Geburtsstadt Sines; ebenso wie der große Platz am Strand in der Hafenstadt Kochi in Kerala, wo er 1524 gestorben ist. Monumentale Statuen von Columbus und Vasco da Gama bewachen auch die Kornhausbrücke, den alten Eingang zum Hamburger Hafen. Da steht Vasco bis heute, mit Glatze, Bauch und dickem Schwert, wie man sich 1903 eben einen Helden der Seefahrt vorstellte. Strand ist Anfang. Aber wovon eigentlich?
Als Vasco da Gama in See stach, war der sandige Zwischenraum zwischen Land und Meer noch kein Traumziel, sondern etwas sehr Nüchternes, eine Art Rampe: Niemand ging dort zur Entspannung hin. Weder Columbus noch Vasco da Gama wollten an den Strand, sondern in das Land voller verlockender Waren dahinter. Das war nicht nur in Übersee so, sondern auch in Europa. Als Michel de Montaigne 1580 nach Italien reiste, schilderte er in seinem Tagebuch dort alle möglichen Unterhaltungsangebote: Thermalbäder, Spiele, Feste und Prozessionen, aber keinen einzigen Strand. Aus dem Wallfahrtsort Loreto notierte er, dass es so nahe an der Adria liege, das man angeblich vom Ufer bei schönem Wetter die Berge auf der anderen Seite des Meeres sehen könne – aber er selbst ging nicht dorthin, und den Grund dafür nennt er auch. Aus Furcht vor Türkeneinfällen sei der Ort von einer Mauer umschlossen und befestigt. Während seines Aufenthalts in Pisa im Juli 1581 überfielen in der Morgendämmerung drei türkische Galeeren die Küstendörfer vor der Stadt »und raubten fünfzehn bis 20 Leute, Fischer und arme Patres.«[7]
Am Beginn der Neuzeit waren Strände riskante und unkontrollierbare Ränder der christlichen Welt. Bis weit ins 18. Jahrhundert waren sie im Mittelmeer Schauplätze der Razzien von Piraten in osmanischen Diensten, die ihre Opfer in die Sklaverei nach Nordafrika und Istanbul verschleppten, wenn sie nicht noch über Zwischenhändler, die alfaqueques, gegen Lösegeld freigekauft wurden.[8] Dieses Feilschen um Lösegeld geschah häufig direkt am Strand – das war praktischer und zeitsparender. Deswegen trägt der Playa de Alfaqueque in der Nähe von Valencia seinen Namen, ebenso wie der von Vendicari auf Sizilien, die teuren Gekauften. Die pittoresken weißen Klippen an der sizilianischen Südküste bei Agrigent mit dem türkisen Strand davor heißen bis heute Scala dei Turchi, die Treppe der Türken.
Montaigne hatte also gute Gründe, sein Handtuch nicht allzu nahe am Meer auszubreiten. Wenn er es überhaupt erwähnt, dann aus der Ferne. Als er auf der Rückreise durch die Versilia reiste, beschrieb er Massa di Carrara (»der Ort ist hübsch, hat schöne Straßen und schöne bemalte Häuser«) und die Ruinen der antiken Stadt Luna, aber keine Aussicht aufs Meer. Die Strände um Viareggio und Forte dei Marmi, die im 19. Jahrhundert zu einer der Landschaftssensationen Italiens wurden, waren für einen Reisenden dreihundert Jahre früher alles andere als verlockend, und die Küste entvölkert. »Die Luft soll so schlecht sein, dass man dort nicht bleiben kann und die meisten sterben.«[9] Noch 1780 warnte Roland de la Platière in seinem Reisebericht vor den »fauligen Dämpfen« und »erstickenden Dünsten«, die man überall an den toskanischen Küsten einzuatmen drohe; es wimmele von Kadavern und verwesenden Tieren. Sein Landsmann Pierre Thouvenel schrieb 1797 in seinem Traktat über das italienische Klima, dass alle sumpfigen Orte am Meer für ihre Bewohner tödlich seien. Kinder und Erwachsene dort seien »bleich wie lebende Gespenster«; wer an den südlichen Küsten entlangfahre, dem drohe Niedergeschlagenheit und »seelische Bestürzung«. Die Strände von Ostia seien grauenerregend, bemerkte Carl Victor von Bonstetten, der am Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Spuren von Vergil in Italien unterwegs war: eine »abscheuliche, verpestete Küste«.[10]

Buena ventura!

Und der Entdecker Vasco da Gama? Als er 1498 in Kerala ankam, ist er nicht an den schönen Palmenstrand gestapft. Er ließ vor der Küste Anker werfen und wartete erst einmal ab, wie der anonyme Autor des zeitgenössischen »Roteiro« berichtet. Aus Kenia über den Indischen Ozean navigiert hatte seine Schiffe ein arabischer Lotse, den Vasco dort in seine Gewalt gebracht hatte und der Italienisch sprach; und arabische Kaufleute waren es auch, die seine bewaffneten Karavellen in Kerala begrüßten. Der Kommandant ging nicht selbst an Land, sondern schickte einen degregado, einen verurteilten Sträfling, um die Lage zu erkunden. Der wurde zu zwei arabischen Händlern an Land gebracht, die Spanisch und Genuesisch konnten. »Hol Dich der Teufel«, begrüßten sie ihn, »was bringt euch hierher?« Sie suchten Gewürze und Christen, gab der Portugiese an, und einer der Händler begleitete ihn zum Schiff zurück und verhieß den erstaunten Entdeckern buena ventura, buena ventura, viel Glück und gute Geschäfte, denn das ganze Land sei voller Rubine und Smaragde. »Wir waren«, notiert der Autor des Berichts, »überaus erstaunt, als wir ihn hörten, und konnten kaum glauben, dass es so weit weg von zuhause jemanden gab, der unsere Sprache verstand.«[11]
An Land gegangen ist Vasco da Gama erst eine weitere Woche später einige Kilometer nördlich, um den Herrscher von Calicut zu treffen – ein gründlich misslungener Versuch in kultureller Verständigung, wie der Historiker Sanjay Subrahmanyam gezeigt hat. Die europäischen Entdecker machten sich von dem, was sie entdeckten, eindeutige, aber falsche Vorstellungen. So wie die spanischen Konquistadoren in Mexiko die aztekischen Tempel als »mesquitas« – Moscheen – sahen, glaubten die Portugiesen in einem Vishnutempel in Calicut, sich in einer Marienkirche zu befinden; und ihr Versuch, mit dem Herrscher von Calicut freundliche diplomatische Beziehungen anzuknüpfen, endete in gegenseitigen Vorwürfen und Feindseligkeiten. Auch ihre Rückreise war alles andere als triumphal. Vasco da Gama verlor fast die Hälfte seiner Besatzung und musste eines seiner drei Schiffe aufgeben. Er machte auf seiner Reise, so der Autor einer neuen Überblicksdarstellung etwas harsch, »ungefähr jeden Fehler, den man sich vorstellen konnte.«[12]
Für seine Heroisierung als mythischer Entdecker war das schon im 16. Jahrhundert kein Hindernis. Sie ist bis ins 21. Jahrhundert munter fortgesetzt worden. Populäre politische Indienstnahmen von Geschichte sind gegen die Ergebnisse historischer Forschung bemerkenswert immun, vor allem dann, wenn sie sich für große Jubiläumsfeiern eignen wie die von 1998. Aber wer hatte 1498 eigentlich was entdeckt? Überall, wo Vasco und seine Leute in Indien an Land gingen, trafen sie auf Personen, die sie auf Italienisch und Spanisch ansprachen – Juden und Araber aus dem östlichen Mittelmeer. Wenn die keine Entdecker waren, wieso dann die Portugiesen?
Am Praia do Vasco da Gama in seiner Geburtsstadt Sines will das historische Gefühl ohnehin nicht so recht aufkommen. Der Strand und die zerfallende Altstadt darüber sind eingerahmt von Raffinerien und einem riesigen Terminal für Öltanker. Aber die Spezialität der lokalen Konditoreien ist nach dem großen Sohn der Stadt benannt: Vasquinhos – süße runde Kuchen aus Mandelteig, von den Mauren auf die iberische Halbinsel gebracht. (Schon wieder die Araber.) Von der Frühstücksterrasse des Hotels »Dom Vasco« sieht man auf Raffineriefackeln und Sozialwohnungen, und auf den traurigsten Kneipen prangt das Werbeschild für die Biermarke Superbock: »La vida é super«.
Fort Kochi in Kerala dagegen, wo Vasco 1524 gestorben ist, summte von Menschen, als ich im Januar 2017 da war. Die Besucher der großen Biennale für Gegenwartskunst mischten sich mit europäischen und indischen Touristen, die Vasco da Gamas Grab in der Franziskanerkirche besichtigten. Es ist leer – sein Körper wurde schon im 16. Jahrhundert nach Portugal überführt, der tote Held wurde daheim dringend benötigt. Das Grab ist aber geschmückt mit einem Blumenkranz und bunten Fahnen in einem gläsernen Schrein; gestiftet von einem Fußballverein in São Paolo, der den Namen des Entdeckers trägt. Fußball gespielt wurde auch auf dem langen Strand am Vasco da Gama Place fünf Minuten weiter, wo man auf die Hafeneinfahrt schauen konnte, auf Verladeterminals und Containerschiffe. An der Strandpromenade drängten sich zwischen den Imbissständen Spaziergänger, die den auffrischenden kühlen Wind bei Sonnenuntergang genossen. Sechs Uhr abends, und immer noch 27 Grad.
Die Strände von Kerala sind ein guter Ort, um über die »Dichte der Zeit« nachzudenken, wie Marc Augé das so poetisch nennt. Kerala ist der am dichtesten besiedelte indische Bundesstaat: Er bietet Fülle in jeder Hinsicht, an Sonne, Gewürzen, gutem Essen, freundlichen Menschen, großen Marx- und Che-Guevara-Porträts (seit 1955 von kommunistischen Parteien regiert) und noch größeren Werbeplakaten für Shopping Center und Goldschmuck. Morgens vor Sonnenaufgang hört man die Muezzine und die Messgesänge aus den syrisch-orthodoxen und den katholischen Kirchen, denn Kirchen wie Moscheen haben große Lautsprecher. Nachts verwandeln sich die Straßen in einen Glitzerfilm aus Leuchtgirlanden und Neonskulpturen; die Hindutempel und Kirchen sahen wie anheimelnde Raumstationen in rosa und hellblau aus und waren abends um halb zehn voll mit Menschen.
»Mais c’est drôle içi«, sagte das ältere französische Paar. Obwohl immer die Sonne scheine, sei der Himmel nie richtig strahlend blau, als ob alles ganz fein verpixelt sei. Die Sonne ging morgens in einem rosa Dunst auf, der aus Feuchtigkeit bestand und aus dem Rauch von all den Feuern, auf denen in den kleinen Häusern unter den Palmen um uns das Frühstück gekocht wurde; die Auspuffschwaden der Busse, Autos und ratternden Zweitakter und ein zarter Hauch von brennenden Plastiktüten. Fülle macht einen leicht desorientiert, man wird von allen Seiten her ständig angeschubst. Für Erfüllung dagegen braucht man einen ordentlich großen und ordentlich leeren Leerraum, einen lang gestreckten Mangel.

Willkommen bei den Krähen

Und deswegen der Strand. Denn am Strand – und nur am Strand – hatte man ganz viel leeren Raum um sich: Man konnte Kilometer um Kilometer am wilden grünen Meer entlang geradeaus gehen, ohne jemandem zu begegnen. Es gab auf den Sand hinaufgezogene Fischerboote, einen angeschwemmten Fisch manchmal oder eine tote Schildkröte, tote Krabben, die von den anderen Krabben im Sand noch nicht aufgegessen worden waren; Müll, leere Schnapsflaschen. Über den Kokospalmen standen weißköpfige Seeadler im Westwind, wie stillgestellt im großen Blau. Sie stießen hohe maunzende Kinderschreie aus, die gar nicht zu ihrer sieghaft-räuberischen Erscheinung passen wollten. Einer lag im Sand und konnte nicht mehr auffliegen; seine Kollegen umkreisten ihn und machen Sturzflüge zu ihm herunter, die er kreischend und flügelschlagend abwehrte. Und drumherum, auf dem Sand, auf den Booten, in den Bäumen, überall die Krähen.
»Eine einzelne Krähe«, heißt es am Beginn von Salman Rushdies Autobiografie, »fliegt vom Himmel herab und landet auf dem Klettergerüst.« Dann vier, eine fünfte, bis viele hundert Krähen auf dem Hof sind, und Abertausende den Himmel verdecken. »Als die erste Krähe landet, wirkt sie besonders, spezifisch, einzigartig. Später, als die Plage sich ausbreitet, fällt es den Leuten leicht, in der ersten Krähe einen Vorboten zu sehen. Als sie aber auf dem Klettergerüst landet, ist sie nur ein einzelner Vogel.«[13]
Krähen sind in Kerala überall, aber besonders am Strand. Der Strand ist das Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Land. Er ist das Territorium der Aasfresser, an dem man nie jemandem begegnete, wenn es keine Touristen gab, und die gab es nur an relativ kurzen Streifen vor den Strandhotels; dann viele Kilometer lang niemand. Nur manchmal ein Fischer, in der Hocke zwischen den Dünen mit heruntergelassenen Hosen, der sich verschämt zurückzog, bis man an ihm vorbei war. Erst vor Sonnenuntergang, wenn die große Hitze vorbei war, nahmen die Einheimischen den Strand in Besitz, in großen vergnügten Gruppen, die angezogen im Meer planschten; oder zu zweit, als schüchterne Liebespaare, die sich hinter einem aufgespannten Schirm aneinander schmiegten.
Bei den Hindus, hatte der männliche Teil des älteren französischen Paars erzählt, plötzlich sehr ernst, gäbe es keine Gespenster. Denn alle Tiere seien wiedergekehrte Tote: Elefanten, Kühe, Hunde, Seeadler, und die schwarzen Krähen auch. »Die Krähen!«, rief meine Begleiterin nach einem Spaziergang am Strand in der zweiten Woche plötzlich aus, »hast Du die Krähen gesehen? Die Krähen sind schrecklich. Hast Du gesehen, was sie da aus dem Sand ausgraben?« Nein, ich hatte nicht so genau hingeschaut. Vormittags waren überall auf dem Strand kleine braune, rote und schwarze Häufchen. Die Fischer hatten sie hinterlassen, die sich mit hochgeschlagenem dhoti hinhockten. »Genau«, sagt sie angeekelt. »Und dann stochern sie mit dem Schnabel darin und verteilen sie überall hin. Und dann schnäbeln sie miteinander, uuh.« Sie war richtig schockiert.
»Krähen bleiben mysteriös, ohne exotisch zu sein«, hat Cord Riechelmann in seinem schönen Buch über sie geschrieben. Dort kann man auch lesen, dass nichtbrütende Krähen den Nachwuchs ihrer brütenden Artgenossen töten und fressen. »Ihre Sozialstrukturen sind sehr komplex.« Bei ihm geht es um Berlin; Krähen in Übersee kommen nicht vor. Als Krähen, lehrt das indische Gesetzbuch Dharma-shastra aus dem 12. Jahrhundert, würden diejenigen wiedergeboren, die in einem früheren Leben als Angehörige einer niedrigen Kasten hochmütig geworden und gegen ihren Status rebelliert hätten – Karma Police.[14] In Indien, 1,2 Milliarden Menschen, verfügt ein Drittel der Bevölkerung über keinen eigenen Stromanschluss. (In China ist es ein Prozent.) Ein Fünftel lebt in absoluter Armut. Auch in Kerala, einem vergleichsweise fürsorglichen Bundesstaat, hat nur jedes zweite Haus eine Toilette.[15] Die Hälfte der Bevölkerung ist gezwungen, ins Freie zu scheißen: jeden Tag, überall.
Wem man am Strand aber ebenfalls begegnete, waren Brautpaare – immer an der gleichen Stelle, weil man dort mit dem Auto nahe dranfahren konnte. Begleitet waren sie von einem Fotografen: Die Braut in Weiß, der Bräutigam in elegantem Anzug, und sie musste sich in seine Arme legen, im Sand und dann im kniehohen Wasser in immer neuen Arrangements, während der Fachmann seine Nikon klicken ließ; umkreist von einer Drohne, die der Assistent startete und die surrend ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Neustart
  6. 1 Werde zum Entdecker
  7. 2 Zeug am falschen Ort
  8. 3 Wunderwaffe Bildermachen
  9. 4 Selbsterforschung
  10. 5 Am Ziel der Träume
  11. 6 Entlassung aus der Pflicht
  12. Nachweise
  13. Anmerkungen