Der Hölle entkommen
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Der Hölle entkommen

Flucht aus der Kriegsgefangenschaft

  1. 416 Seiten
  2. German
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Der Hölle entkommen

Flucht aus der Kriegsgefangenschaft

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Georg von Beeke und seine Kompanie geraten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Eingesperrt in ein Lager am Rhein erleben sie die Hölle auf Erden: Die Gefangenen leben im Matsch, zu Hunderten zusammengepfercht und der Witterung schutzlos ausgeliefert. Hunger und Krankheit sind ihre ständigen Begleiter. In der Gemeinschaft finden Georg und seine Kameraden immer wieder die Kraft, ihr Schicksal zu ertragen. Und noch etwas lässt Georg durchhalten: Die Sehnsucht nach seiner großen Liebe, Marie. Mithilfe seiner Kameraden kann Georg schließlich fliehen. Doch das Deutschland, das er kannte, gibt es nicht mehr. Er begibt sich auf den schwierigen Heimweg durch ein zerstörtes Land - eine Reise mit ungewissem Ausgang.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783933708748

Unterwegs

Dieppe

Der Wald hielt die Dämmerung noch fest. Georg stolperte einen schmalen Pfad entlang, der teilweise von Farn überwuchert wurde und schon lange nicht mehr begangen worden war. Ehe er sich versah, hatte er den Waldrand erreicht und stand am Rande einer großen, von Weidezäunen durchzogenen Weidefläche. In einiger Entfernung rechts vor ihm hob sich ein gedrungener Kirchturm gegen den heller werdenden Morgenhimmel ab.
Der Waldpfad ging in einen schmalen Wiesenpfad über und führte zwischen zwei Weidezäunen hindurch. Wie auseinandergezogene Watte lag niedriger Dunst kniehoch über den Koppeln. Zum ersten Mal seit Jahren war er wirklich ganz allein! Kein menschliches Wesen, das ein Wort an ihn richten konnte, niemand, an den er sich wenden konnte, niemand, der seine Bewegungsfreiheit einengte!
Er blieb stehen, bückte sich und strich mit seinen Handflächen über das taunasse Gras. Dann legte er die Hände auf seine Wangen und spürte ein kühles Prickeln auf der Haut. Dieser Augenblick der einsamen Freiheit schien ihn hier festhalten zu wollen, schien ihm den Zauber der Unschuld des Anfangs begreifbar machen zu wollen. Er legte den Kopf in den Nacken und sog die Luft ein wie jemand, der gerade aus einem muffigen Gewölbe wieder an die Oberfläche gelangt ist. Da waren die frühen Vögel, die schon beschäftigt unterwegs waren und die Stille mit ihrem Gesang erfüllten. Georg ging weiter, langsam, jeden seiner Schritte genießend. Dann schälte sich ihm etwas Dunkles, Starres aus dem Dunst entgegen. Es war eine Bank, auf der wohl schon ewig niemand mehr gesessen hatte. Eines der Rückenbretter war zerbrochen, und grünlich-weiße Flechten überzogen das grobporige Holz mit einem Polster.
Georg setzte sich und ließ seinen Blick über die vor ihm ausgebreitete erwachende Natur schweifen. Mit allen Sinnen sog er die Unschuld dieses Morgens in sich auf. Eine Lerche markierte hoch über ihm trillernd ihr Revier. Die Watteschicht hatte sich aufgelöst. Tautropfen glitzerten in der Morgensonne auf den Grashalmen. Es war ein Morgen wie zu Beginn der Schöpfung.
Ungerufen verdunkelten plötzlich die Bilder des Films im Lager diese Stimmung und verwoben ihren Leichenteppich mit anderen Toten, die, ebenfalls wie nutzlos weggeworfen, das ganze Grauen offenbarten, das Menschen Menschen antun können. Er sah sich an jenen Morgen zurückversetzt, der drei Jahre zurücklag. Es war ein Morgen wie dieser gewesen, aber eine andere Landschaft in einem anderen Teil Europas. Auch damals zog sich die Nacht gerade in ihren Dunst zurück und wollte den neunzehnten August zweiundvierzig an einen schönen Sommertag übergeben. An diesem Tag hatte er am Strand der kleinen Hafenstadt Dieppe in der Normandie das Töten gelernt.
Der milchigweiße Dunst, der wie eine dünne Watteschicht über dem Meer lag, verschmolz mit den auf den Strand zulaufenden weißgekrönten Wellenbändern zu einem einzigen mannshohen Strich. Darüber wich die Schwärze der Nacht gerade einem zunehmend heller werdenden Grau. Weiter im Osten bei Berneval, von wo Gefechtslärm zu ihnen herüberdrang, lag schon ein heller Schein auf dem Meer. Von dort her bewegten sich auch in rascher Folge lange, rötlich-gelbe Feuerzungen auf die Küste zu. Gleichzeitig rasten dunkle dröhnende Schatten über das Wasser und beteiligten sich an dem Feuerzauber. Dann jagten ebensolche Feuerzungen in die umgekehrte Richtung und hoch in die Luft, den fliegenden Schatten entgegen.
Georg lag neben Krumbiegl und Randauer, den beiden MG-Schützen seiner Gruppe, in einem betonverstärkten Unterstand am Rande der Esplanade. Schräg vor ihnen, an einem der ehemaligen Zugänge zum Strand, drohten gut getarnte Geschütze dem Meer und allem, was sich ihnen von dort her nähern sollte. Der Rest der Gruppe war in ähnlichen Unterständen um die Batterie herum postiert. Sie hatten die Aufgabe, die Geschütze vor angreifender Infanterie zu verteidigen. So wie bei ihnen sah es auch bei den anderen Strandzugängen aus. Hinter ihnen, auf der anderen Seite des Boulevards, der der gesamten Länge des Strandes folgte, hatten zwei Bataillone seines Regiments in der durchgehenden Häuserfront Maschinengewehrnester eingerichtet, die vom Strand her kaum auszumachen waren. Die anderen Bataillone des Regiments beschützten die Batterien auf den weißen Kalksteinkliffen, die den Zugang zum Hafen und zur Stadt malerisch flankierten. Von beiden Seiten aus konnte der Strand mühelos unter Kreuzfeuer genommen werden.
Georg richtete sein Fernglas auf die Wattewand und versuchte in ihr etwas zu erkennen, aber der Dunst kam dadurch nur näher an ihn heran. Das Einzige, was sein Fernglas mit scharfen Konturen erfasste, waren die gestaffelten Stacheldrahtverhaue, die den Strand überzogen.
Das Gelände vor ihm war auch bei Nacht gut zu überblicken und bot bei Tag ein ideales Schussfeld. Ein breiter Kieselstrand fiel vor der Esplanade sanft zum Meer hin ab und endete an einem niedrigen Deich, der ein Abspülen des Strandes verhindern sollte. Der gesamte Strand war etwa eineinhalb Kilometer lang und hatte vor dem Krieg im Sommer Scharen von Badegästen aus Paris und Rouen angelockt. Hier, wo einstmals Kinder herumgetobt waren, lagen sie nun in gut geschützten Stellungen, um einen direkten Angriff von See her auf die Stadt und den Hafen zu einem Fiasko werden zu lassen.
Sie waren heute Morgen um vier Uhr alarmiert worden und hatten nur zehn Minuten später ihre Stellungen besetzt. Die meisten hatten noch einen schweren Kopf vom Abend vorher. Pausbäckchen hatte an diesem gemeinsamen freien Abend mit viel Rotwein seinen Geburtstag bei Chez Henry nachgefeiert. Die Alarmlage stellte sich anfangs etwas konfus dar. Ein bewaffneter deutscher Konvoi war nicht weit von Berneval in eine Armada von Landungsfahrzeugen hineingefahren und hatte sofort Alarm ausgelöst. Welchen Umfang dieses Landeunternehmen besaß, war dem Oberkommando für diesen Küstenbereich noch nicht bekannt. Jedenfalls wurde aber schon in oder um Berneval gekämpft. Und nun warteten sie darauf, dass es auch bei ihnen bald losgehen würde.
»Na, was meint ihr?«, flüsterte Randauer in die gespannte Stille, »ist das der Beginn der Invasion? Dann haben wir hier aber die Kacke am Dampfen!«
Kaum hatte er es ausgeflüstert, als auch aus Westen bei Varengeville, wo ebenfalls Küsten-Batterien eingebunkert waren, Gefechtslärm zu hören war.
»Die wollen uns hier in die Zange nehmen!«, flüsterte Randauer wieder.
Da hörten sie plötzlich hinter sich eine ruhige Stimme: »Nur ruhig, Männer, nicht nervös werden! Dazu besteht überhaupt kein Anlass! Wir bekommen hier auch bald Arbeit, und dann heißt es, ruhig Blut bewahren und sie dahin zurückzuschicken, woher sie gekommen sind!« Oberleutnant Ferner stand als dunkler Schatten hinter ihnen.
»Gebt euer Bestes. Männer! Ich sehe mir noch die anderen Gruppen an! Wenn Sie etwas entdecken, von der Beeke«, wandte er sich direkt an Georg, »dann sofort den Kompaniegefechtsstand benachrichtigen!« Damit war er in der Dunkelheit verschwunden. Georg strengte seine Augen an und suchte nun in dem durchsichtiger werdenden Dunst nach Bewegungen. Er setzt das Fernglas ab und bemerkte, dass seine Handflächen feucht waren. Zum wiederholten Male überprüfte er den Zustand seiner Maschinenpistole und vergewisserte sich, dass die Magazintaschen auch wirklich geöffnet waren. Ein weiterer Griff prüfte den Sitz der Pistolentasche. Er hob seine Uhr an die Augen und stellte erstaunt fest, dass sie noch keine zwanzig Minuten hier lagen. Auch neben sich und vor sich erahnte er ein ständiges Hantieren an den Waffen. Die Nervosität der Männer nahm von Minute zu Minute zu. Sie schien wie ein zum Zerreißen gespannter Faden in der Luft zu vibrieren. Aus Berneval und Varengeville drang weiterhin heftiger Gefechtslärm zu ihnen herüber.
Dann ging alles sehr schnell. Donnernde und Feuer speiende Schatten jagten auf sie zu und durchpflügten den Strand vor ihnen. Von See her kamen Feuerbälle, die lange Rauchschwänze hinter sich herzogen, mit fauchendem Getöse auf sie zu und ließen Kiesfontänen vor ihnen aufspritzen. Einige Drahtverhaue tanzten plötzlich wie Wesen aus einer anderen Welt über den Strand. Weit hinter ihnen schlugen die ersten Granaten in der Stadt ein, und dort, wo noch vor wenigen Augenblicken die ungestörte Watteschicht die Sicht behindert hatte, wuchs eine hohe kantige Silhouette aus ihr heraus und schob sich auf den Strand. Die Vorderfront der Silhouette knallte auf den Boden, und heraus drängten Männer mit hochgehobenen Waffen und stürmten über den Strand auf sie zu.
Georg mochte die kleine Hafenstadt an der Mündung der Arques, die sich ihren Zugang zum Meer im Verlauf der Erdgeschichte mühsam durch die Kreideschichten geschaffen hatte. Man bekam allerdings nicht viel von der Flussmündung mit, denn sie lieferte zuvor ihr Wasser brav in dem hinteren der drei Hafenbecken von Dieppe ab.
Die Wellen des Ärmelkanals liefen gerade auf einen langen Kieselstrand zu, hinter dem sich eine lange und hohe Häuserfront präsentierte. An der linken Seite des Strandes befand sich unterhalb eines weißen Kliffs die Hafeneinfahrt. Von der Höhe herab grüßte weithin sichtbar eine Kapelle die einlaufenden Schiffe und versprach ihnen, dass sie jetzt in Sicherheit waren. Auf der anderen Seite des Strandes schaute eine Burg von der Steilküste auf das Meer hinunter. Hinter der langen seeseitigen Häuserfront erhoben sich die Türme zweier Kirchen. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt, die er in seiner dienstfreien Zeit mit den Kameraden unternahm, hatte sie ihm nach und nach ihren besonderen Charme enthüllt. Da gab es die vielen kleinen Plätze, die Quais der Hafenfronten, den Hafen selbst mit seiner trotz des Krieges bestehenden Betriebsamkeit. Auf einem dieser Streifzüge hatten sie ein kleines Bistro in der Nähe des Fischerhafens entdeckt. Vor der weit geöffneten Eingangsfront, durch die man mit einem Blick den ganzen Innenraum überblicken konnte, standen kleine Tische mit Stühlen. Als sie an einem der Tische Platz nahmen, erhoben sich die anderen Gäste, offensichtlich Fischer, ließen ihre noch halbvollen Gläser stehen, warfen ein paar Münzen auf den Tisch und gingen über den Quai zu ihren Booten.
»Wir scheinen wohl die Pest zu haben!« Krumbiegl war verärgert.
»Wundert dich das?« Georg fühlte sich auch nicht wohl. »Besatzer waren noch nirgendwo willkommen!«
Sie rührten sich nicht und taten so, als wäre Warten das Natürlichste auf der Welt für sie.
Schließlich kam der Wirt doch heraus, sammelte umständlich die Gläser von den Nachbartischen ein und klaubte die Münzen auf. Steinmetz, der als einziger von ihnen etwas Französisch sprach, bestellte für jeden von ihnen einen café au lait. Der Wirt, ein kleiner, dunkelhaariger Mann, der so gar nicht zu den normannischen Gesichtern dieser Gegend passen wollte, ließ ein geschäftsmäßiges »Oui, Monsieur« vernehmen und verschwand wieder. Es dauerte eine ganze Weile bis er zurückkam und vor jeden seiner ungebetenen Gäste eine große Tasse abstellte.
Steinmetz hatte die Zeit genutzt und seinen Skizzenblock hervorgezogen, den er auf seinen Streifzügen durch die Stadt immer mit sich herumtrug. Mit schnellen, sicheren Strichen zauberte er die Szene, die sich ihnen im Hafen bot, auf das Papier. Da stand eine kleine Gruppe Fischer vor einem Wald aus Masten und blickte dem Betrachter entgegen. Das Gesicht des Wortführers war besonders deutlich zu erkennen. Als sie bezahlten, drückte er dem verblüfften Wirt die Skizze mit einem »Pour vous, Monsieur« in die Hand.
Beim nächsten Besuch des Bistros – über der Markise schwebten ein paar verblasste Buchstaben, die den Namen Chez Henry erkennen ließen – blieben die Fischer sitzen. Auch der Wirt kam ungerufen heraus, wenn auch nicht übermäßig bemüht, und wartete auf ihre Bestellungen. Diesmal fertigte Steinmetz eine Skizze des Bistros an, die auch den Wirt mit seiner langen weißen Schürze und einem Tablett in der Hand davor zeigte. Von nun an herrschte zwischen den Fischern und den Männern aus Georgs Gruppe eine Art gleichgültigen Nebeneinanders.
So wie ihnen erging es vielen deutschen Soldaten in Dieppe. Überall in der Stadt hatten sich kleine Gruppen von Soldaten ihre Stammlokale gewählt. Nur die Gegend um die Place du Puits-Salé wurde von den einfachen Soldaten gemieden, um nicht ständig die Hände zum Grüßen hochreißen zu müssen. Dieser Platz befand sich im belebtesten Teil von Dieppe. Er saß wie eine Spinne im Netz und sammelte sechs Straßen ein, die auf ihn zuliefen. Dort verkehrten die Offiziere in einem Café, das mit seiner weißen Giebelfassade den ganzen Platz beherrschte.
Georg war meistens mit Krumbiegl, Randauer, Schulte und Steinmetz unterwegs. Für Steinmetz war die Stadt eine architektonische Offenbarung. Er sah die Gebäude mit anderen Augen als die Kameraden und verstand es, ihnen in wenigen Sätzen die unterschiedlichen Baustile zu erklären. Dabei flitzte sein Zeichenstift über das Papier und erfasste Fassaden und Details mit einer Genauigkeit, die an Zauberei grenzte.
Am meisten war Steinmetz aber von der Kirche Saint-Jacques beeindruckt. Vom Chez Henry aus führte eine Gasse direkt auf sie zu. Er hatte schon einen ganzen Skizzenblock mit Detailzeichnungen ihrer vielgliedrigen Fassaden angefertigt, als er Georg und Krumbiegl eines Nachmittags wie ein Verschwörer bedrängte, er müsse ihnen an Saint-Jacques unbedingt etwas Ungewöhnliches zeigen. Georg glaubte, er hätte ihnen schon bereits alles Wissenswerte über die verschiedenen Baustile der Kirche von der Romanik bis zur Renaissance erklärt, aber Steinmetz ließ nicht locker und versprach: »Ihr werdet schon sehen!« Er führte sie um die Kirche herum und wies dabei auf die Strebepfeiler, die das Dach des Hauptschiffes und die niedrigeren Dächer der Seitenschiffe stützten und trugen.
In Höhe der Dachtraufen reckten sich lange schmale Wasserspeier aus den Gesimsen heraus und erweckten den Eindruck, als wollten sie jeden Augenblick herunterstürzen. Sie besaßen die Gestalten von Fabelwesen, die ihre Schöpfer aus dem Reich ihrer Phantasie zu Stein hatten werden lassen. Keines der Wesen glich dem anderen. Manche Figuren glichen Vögeln, andere wiederum Reptilien und wieder andere schienen Mischwesen aus beiden Welten zu sein. In ihren Gesichtern vermeinte man sogar menschliche Züge zu entdecken, einige lachend, andere verzweifelt, zornig, böse oder geheimnisvoll blickend.
Steinmetz glühte vor Begeisterung, als er die ausdrucksstärksten von ihnen skizzierte: »Es sollen weit über hundert Wasserspeier sein! Und keiner ist wie der andere! Ja, das waren noch wirkliche Künstler damals, diese Steinmetze! Wahrscheinlich war einer meiner Vorfahren auch so einer! Mein Gott, wenn ich daran denke, dass mein Vorfahr vielleicht auch hier gearbeitet haben könnte … vielleicht ist ja der mit dem lachenden Vogelkopf da oben von ihm!« Er wies auf einen der Wasserspeier über ihm. »Die Steinmetze wanderten nämlich von Kirchenbau zu Kirchenbau und gehörten Geheimbünden an, die jedem ihrer Zunft beistanden, der in Not geriet!« Er geriet geradezu ins Schwärmen.
Eines Abends, die Fischer machten ihre Boote zum Auslaufen klar, kamen wie üblich deutsche Feldgendarmen, um die Boote vorher zu inspizieren. Das Gleiche geschah, wenn sie wieder mit ihrem Fang zurückkehrten. Bisher war das immer routiniert und reibungslos, wie eine lästige Übung, abgelaufen. Die Fischer nahmen die Kontrollen gelassen hin. An diesem Abend tauchte aber eine neue Truppe auf.
Georg saß mit seinen Männern vor dem Chez Henry, und sie bestellten gerade die üblichen café au laits. Randauer bemerkte das rüde Verhalten der Feldgendarmen zuerst.
»Nun schaut euch mal da drüben die Kettenhunde an!« So wurden die Feldgendarmen wegen der nierenförmigen Metallplatte genannt, die sie von einer Kette ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Zwischenspiel
  7. Das Lager
  8. Unterwegs
  9. www.rosenheimer.com