Der unendliche Faden
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Der unendliche Faden

Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas

  1. 236 Seiten
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Der unendliche Faden

Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas

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Über dieses Buch

Rumiz sucht nach den Wurzeln eines offenen, barmherzigen und in die Zukunft gerichteten Europa – und findet sie in den Klöstern der Benediktiner.Der Wanderer Paolo Rumiz spürt den Jüngern des heiligen Benedikt von Nursia, dem Schutzpatron Europas, nach. Er besucht sie in ihren Abteien im Veneto, in der Lombardei, in Südtirol, in der Schweiz und in der Normandie, in Bayern, Belgien, Niederösterreich und Ungarn. Er spricht mit den Ordensleuten und fndet in ihren Prinzipien eine positive Kraft – gerade heute, da Abgrenzung und Abschottung die Utopie der Gründer zu zerstören drohen. Europa, über Jahrhunderte geprägt von Invasionen und Migrationswellen, muss ein Raum der Gastlichkeit bleiben. Ein Raum, der auf ein menschenwürdiges Wirtschaften und der Hände Arbeit baut, auf die Freude an der Gemeinschaft, den Respekt gegenüber der Natur und vor allem auf Barmherzigkeit.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783990371053

1.

Das Glück im Kleinen

Praglia, Veneto

image
Das alte Kloster schläft im Herbstnebel, einem Schiff gleich, das an den Ausläufern der Euganeischen Hügeln vertäut ist. Jenseits der Basteien begrüßt ein Hahn den Morgen, als würde er mit dem Schnabel in der Dunkelheit graben, sein Krähen dringt in Kreuzgänge, Krypten, Lager, sogar in die Bibliothek ein. Es ist kalt. Ich streiche durch die langen Gänge, bis die Schritte der Mönche, die zum Morgengebet aufbrechen, die Stille durchbrechen. Sie biegen um die Ecke, jetzt sehe ich sie, schwarz, nicht zu verwechseln. Benediktiner. Höchstens fünfzehn. Wenige für so ein großes Gebäude. Doch im selben Augenblick verlassen in Frankreich, Deutschland, Spanien, Österreich, Polen, Ungarn und anderswo Tausende schwarzgekleideter Männer ihre Zellen, um den Tag zu begrüßen und Gott zu loben. Ein Heer.
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes / Und seiner Hände Werk zeigt an das Firmament.“ Um Viertel nach fünf ist es noch finster, doch an so einem Ort wacht man problemlos vor dem Morgengrauen auf. Wenn man die Stille nicht gewohnt ist, fällt man hier der Schlaflosigkeit anheim, Gedanken kreisen im Kopf, man fühlt sich aufgehoben in Zeit und Raum. Eine ähnliche Erfahrung habe ich schon einmal, auf einer einsamen Mittelmeerinsel gemacht. Ein Monat Einsamkeit, und man unternimmt unerhörte Wanderungen in den Labyrinthen der Seele. Wo bin ich? Padua ist nur einen Katzensprung entfernt, aber ich befinde mich nicht im Veneto und auch nicht in Italien. Praglia ist Europa. Das bezeugen der Weingarten am Fuße des Berges, das Land, der Duft des Brotes, der Obstgarten, der Bauernhof mit den Tieren, die gepflegte Lichtung vor dem Wald, die sorgfältig angelegten Terrassen. Das bezeugt die Klosterregel, die den Tagesablauf regelt und genau zwischen Gebet und Arbeit unterscheidet. Ora et labora, das Erbe Benedikts.
Ein Kurzschluss des Lebens, den die Ungläubigen als Zufall und die Gläubigen als Vorsehung bezeichnen, hat mich hierhergeführt. Die Benediktiner haben mich gerade in dem Augenblick gerufen, als ich sie brauchte, als meine Ängste bezüglich Europa immer größer wurden. Norbert, der Abt von Praglia, hat mich gebeten, an einer Tagung über „Verletzte Landschaften“ teilzunehmen. Der Anlass ist wie geschaffen, um meine Fragen zu stellen, bevor ich mich auf die Reise begebe. Genau das habe ich nach meiner Begegnung mit dem Heiligen in Norcia gesucht: eine Tagung auf halbem Weg zwischen Wissenschaft und Heiligem, mit Mönchen und Wissenschaftlern aus Polen, Frankreich und Deutschland, mit der Landschaft als zentralem Thema. Gewissermaßen eine logische Konsequenz des tragischen Erdbebens in Amatrice: Niemand hat die Landschaft des Kontinents mehr geprägt als die Benediktiner. Sie haben gewaltige Arbeit geleistet, um den Boden zu festigen, zu bewässern, Olivenbäume und Weinreben zu verbreiten, sie haben Wälder und Almen gepflegt.
Die Mönche haben in meiner Zelle ein Taschenbuch mit der Klosterregel auf das Nachtkästchen gelegt. Ein kleines graues Büchlein, das mich auffordert herauszufinden, wo sich auf den in dreiundsiebzig Kapitel unterteilten dreihundert Seiten das Geheimnis dieses wundersamen Abenteuers verbirgt. Ich entdecke darin großartige Lehren: Leadership mithilfe von Zuhören; die demokratische Wahl des Abtes; vom Alter unabhängiger Status; Öffnung auch für die Jungen; Versammlungen, um interne Streitigkeiten beizulegen (nach der Reform der Zisterzienser entwickelte sich daraus das erste Parlament des Kontinents); Disziplin, aber auch Sanftheit in menschlichen Beziehungen; die Unterscheidung in einen guten und einen bösen bzw. bitteren Eifer. Beeindruckend modernes Denken. Vielleicht ist es an der Zeit herauszufinden, ob die Klosterregel noch taugt, die Eliten aufzurütteln, Europa neu zu gestalten und den Rückfall in die Barbarei zu verhindern.
Praglia, allein der Name klingt gut. Eine Bastion des Glaubens mit einer bäuerlichen Seele. Ich frage mich, warum ich, ein unverbesserlicher Nomade, ein Grenzbewohner, der stolz darauf ist, keine Wurzeln zu haben, mich von der Enge gefangen nehmen lasse. In meinen Notizen lese ich einen Eintrag, den ich vor einem Jahr niemals geschrieben hätte: „Das Glück findet man auf engstem Raum.“ In der Klausur. Im templum der Römer, im témenos der Griechen. In einem abgeschlossenen Raum, den die Welt nur auf Zehenspitzen betreten darf. Vielleicht ist das Gelübde (stabilitas in congregatione), das die Benediktiner seit fünfzehn Jahrhunderten ablegen, um bis zu ihrem Tod im Kloster zu bleiben, eine Alternative zum Getöse der globalisierten Welt, die ausgrenzt, entwurzelt und Ströme von Flüchtlingen in Gang setzt. Schlauchboote und Billig-Nomadentum. Touristen und Flüchtlinge begegnen einander an ein und demselben tragischen Strand.
„Denn ihre Stimme war in der ganzen Welt zu hören / und ihr Wort bis an die Grenzen der Erde.“
Der lombardische Akzent Bruder Anselms hallt in der Votivkapelle wider, er betet den 18. Psalm über die Schönheit der Schöpfung. Abt Norbert antwortet ihm, die Mönche verneigen sich, stimmen einen aus nur zwei Tönen bestehenden Gesang an, während draußen der Wald erwacht. Spatzen und Nachtigallen, ein Crescendo. Untertags versteht man einen Ort, doch nachts fühlt man ihn. Die Akustik erweckt ihn zum Leben. Egal ob Donner oder Flüstern, die Akustik ist der Schöpfungsakt. Geist ist Atem, Stimme, Wort. Fühlen (verstanden als: das Wesentliche spüren) ist kein x-beliebiges Wort, es ist gekoppelt an die dem Schweigen abgetrotzten Klänge.
Morgengrauen. Auf den Gängen, im Labyrinth der vier Kreuzgänge, Keller, Treppen und Galerien erwacht die Maschinerie des Gebets. Auf einigen Grabsteinen am Boden lese ich die Aufschrift MONACORUM CINERES (Die Asche der Mönche), wer weiß, wie dieser Ort vor der Krise der Klöster aussah, als es hier von Männern in schwarzen Kutten wimmelte, die sich über Felder beugten, sich um Bienenstöcke kümmerten, sich zur Laudes hinknieten, als Europa noch keine nationalstaatlichen Grenzen kannte und die Landschaft von einem Netz von Pilgerwegen überzogen war, die von Kirchturm zu Kirchturm, von Kloster zu Kloster, von Stadttor zu Stadttor führten, in einer Welt, in der der Mensch und die Natur einander die Hand reichten.
„Nox et tenebrae et nubila / confusa mundi et turbida / lux intrat, albescit polus …“ („Weichet, Nacht und Dunkelheit und Nebel, was die Welt verwirrt und in Schrecken setzt; das Licht erscheint, der Himmel hellt sich auf …“)
7 Uhr 30, der Gesang der Laudes in der Kirche. Auch hier eine neue, unerwartete Erkenntnis. Die Apsis ist nichts anderes als ein Orchestergraben, ein Resonanzboden, der sich mit dem frühen Licht vermählt, das durch die Fenster fällt. Gesang und Licht, wahrscheinlich besteht darin das Wesen einer Liturgie, die gemeinsam mit Brot und Wein die Barbaren erst überrascht und über die Jahre christianisiert hat. Heute Morgen in Praglia fliegt das Latein auf den Flügeln des Männergesangs, ein Loblied auf den Triumph des Tages. Ich frage mich, ob die Krise der Klöster nicht mit der Abschaffung des gregorianischen Gesangs und der Arroganz der Architekten begonnen hat, die unfähig waren, den Kirchen eine gute Akustik zu verleihen.
Vielleicht verstehen nur noch die orthodoxen Mönche mit ihrem Grummelbass und der himmlische Gegengesang der Frauen zu verführen. Ich habe die Christen des Ostens in Serbien, in der Türkei, in Syrien und im Irak gehört: belagert von Minaretten, wie ein Heer im Halbdunkel ihrer Krypten, durch deren schmale Spalten nur wenige Lichtstrahlen drangen. Die gewaltigsten Glaubensgesänge habe ich nicht im Westen, sondern unmittelbar vor dem Krieg in Aleppo gehört. Heute existieren Aleppo und Syrien nicht mehr. Noch vor den Bomben haben wir das Ende Syriens besiegelt und aus Unwissenheit das Christentum von den Landkarten des Ostens getilgt. Und als die Christen auf der Flucht an unsere Türen geklopft haben, haben wir sie weggejagt wie Hunde.
Es regnet, das Kloster segelt durch einen grauen Vorhang. Eine Arche, ein über Jahrhunderte garantierter Ort des Heils, bereit, es mit der Sintflut aufzunehmen. Wie auf einem Schiff ist auch hier das Gemeinschaftsleben in allen Details geregelt. Um acht Uhr läuft die Maschine schon wie geschmiert, überall wird emsig gearbeitet und gebetet. Die einen harken den Boden, andere restaurieren Handschriften, überwachen die Gärung des Weins in den Fässern, wählen Heilkräuter aus, studieren die Liturgie, rüsten die Bienenstöcke für den bevorstehenden Frühling, wiederum andere empfangen Gäste. Der Abt – ein behäbiger und gutmütiger Mann – führt mich durch ein Labyrinth von Galerien, riesigen Brunnen, Laubengängen, Apotheken. Er zeigt mir Stollen, in denen im letzten Krieg Juden, Partisanen und Faschisten Unterschlupf fanden und einander möglicherweise begegneten. Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hier auch die vier Pferde vom Markusdom in Venedig in Sicherheit gebracht.
Der Abt beschreibt nicht nur ein Bauwerk, sondern einen perfekt funktionierenden Organismus, dessen Errichtung im Zeichen einer genauestens geregelten Spiritualität stand. Skriptorium, Kapitelsaal, Bibliothek, Schlafsaal, Küche, Refektorium, Krankenstation, Werkzeuglager, Keller, Backstube, Waschraum, Stall, ehemaliger Pferdestall, Gästezimmer, Lager, Werkstatt für die Restaurierung der Bilderhandschriften. Symbole bringen Transzendenz zum Ausdruck. Ein Brunnen ist nicht einfach ein Brunnen. Das Wasser ist ein Geschenk des Himmels, das auf seinem Weg durch den Boden zu Leben wird. Der Kreuzgang, der einem die Sicht auf die Landschaft versperrt, macht den Himmel zur Decke und wird so zu einem Sprungbett der Erhebung. Jedes Gebäude hat eine Seele, jeder Raum hat eine Botschaft und bringt einen Lebensstil zum Ausdruck.
Eine Frau namens Giordana besucht ebenfalls das Seminar. Sie ist über achtzig und äußerst vital. Ich bin ihr um fünf Uhr vor meiner Zelle begegnet, sie war schon hellwach. Sie war gekommen, um nachzusehen, ob ich zum Morgengebet aufgestanden war. Sie ist klein und heiter, lebt in Padua und ist die Tochter eines Arztes, der sich in einer Zeit, als das Veneto noch nicht auf das Thema Einwanderer fixiert war, für Afrika aufgeopfert hat. Er hat die Cuamm gegründet, eine Organisation, die seit der Nachkriegszeit mehr als zweitausend Freiwillige in Krankenhäuser des Schwarzen Kontinents entsandt hat. Giordana, eine Expertin für mittelalterliche Miniaturen, ist zur Tagung über die verletzte Landschaft gekommen, um sich den Kopf freizumachen. „Hin und wieder komme ich nach Praglia, um die Batterien aufzuladen“, sagt sie, während sie mir die Geheimnisse einer Handschrift aus dem 11. Jahrhundert erklärt.
Butter, Honig, Milchkaffee. Schon beim Frühstück erforscht der kühne Trupp Neuland. Das Refektorium ist Austausch, Spielwiese für Gedanken, wenn nicht gar das Herz des Klosters. Und schon spricht die Tischgemeinschaft über Brot, Wein, Käse und Bier, das Nahrungsangebot der Klöster, das inmitten der grassierenden Armut und des Elends im Frühmittelalter zu einem Werkzeug der Evangelisierung wurde. Priester sprechen nicht gerne über dieses Thema, Mönche jedoch schon. Sie kennen die magische Ambivalenz des Essens, sie akzeptieren die Hypothese, dass sich die Heiden nicht zuletzt aufgrund des Dufts aus den Brauesseln und von frisch gebackenem Brot haben bekehren lassen. „Warum sollte Gott Fleisch geworden sein, wenn die Materie verabscheuungswürdig wäre?“, wirft ein Mönch ein und schmiert sich Butter aufs Brot. Vor einigen Jahren hat mich ein alter Missionar namens Luigi um Zusammenarbeit gebeten, und ich habe nicht wegen seiner Argumente eingewilligt, sondern weil er mir lächelnd eine Tasse dampfender Suppe in die Hand drückte. Die entwaffnend schlichte Geste hatte meinen Widerstand besiegt.
Ich schneide ein anderes Thema an, das mir nach der Begegnung mit dem Heiligen in den Ruinen von Norcia am Herzen liegt: die Beziehung zwischen Apennin, Erdbeben und Mönchtum. Ich wende mich an Lukasz, einen polnischen Mönch, doch der kann mit meiner Vermutung wenig anfangen. Ich wage zu behaupten, dass Benedikt der Sohn einer chthonischen Welt ist. Er hat jahrelang allein in einer Höhle gelebt und gewiss das Brüllen Persephones gehört. Er war zutiefst mit dem tektonisch unruhigen Boden seiner Heimat verbunden und spürte dessen wahnsinnige Energie. Ich wage eine kühne Behauptung: „Vielleicht betete Benedikt nicht nur zum Himmel, sondern auch zum Boden, den Wäldern, den jahrtausendealten Quellen, den Schluchten. Warum sollte es nicht eine unbewusste, vielleicht sogar geheime Beziehung zwischen ihm und Sibylle, den alten Klöstern und den heidnischen Tempeln dieses riesigen Athos-Berges, der der Apennin ist, gegeben haben?
Wahrscheinlich überfordere ich damit den polnischen Katholiken. Er hört mir jedoch väterlich und geduldig zu.
„Vielleicht ist Rom gar nicht die Mutter der apenninischen Kultur, sondern deren Gegenteil? Warum sich nicht eingestehen, dass Rom von Hirten abstammt, die ihre Tiere ans Meer, ins Winterquartier der Herden, trieben, das schließlich zu einem festen, klar begrenzten Wohnort wurde? Lieber Lukasz, es ist doch offensichtlich. Bis zum 1. Jahrhundert vor Christus hat die Urbs weder Philosophie noch Mathematik noch Literatur hervorgebracht, sondern vielmehr eine unglaubliche Meisterschaft beim Bauen an den Tag gelegt. Woher kommt dieses unstillbare Verlangen nach Festigkeit, wenn nicht aus einer Welt, die ständig von Erdbeben heimgesucht wurde? Und was ist mit dem einzigartigen Recht? Könnte es nicht auch das Resultat einer Gebirgskultur sein, wo der rex – Romulus – den heiligen Kreis zieht, der notwendig ist, um den Boden einzuteilen, um eine Weide von der anderen zu trennen? Wo, wenn nicht auf den hochgelegenen Almen kann die Besessenheit der Römer für die gerade Linie der Straße und die Abholzung der Wälder entstanden sein?“
Draußen hat Wind angehoben. Wenige Meter vor den Fenstern wogt ein Meer aus Eichen und Robinien. Mir wird plötzlich klar, wie nah der dunkle Wald ist, wie nah die Euganeischen Hügel sind, die von Wildschweinen und Tausenden Vögeln bevölkert werden. Ein Nebeneinander, das auf den ewigen Widerspruch von offener und geschlossener Welt verweist, von Wald und Weinberg, unbebautem und bebautem Land. Der dunkle Ruf des Waldes ist mir wohlvertraut. Ich weiß, man muss nur ein Stück in den Wald eindringen und schon fühlt man sich wie ein Bär oder Wolf. Wenn man aus dem Wald kommt und sich einem Dorf nähert, betrachtet man voller Argwohn die Welt, aus der man stammt, die Häuser der Menschen, ihre Tore, ihre Wachhunde. Vor allem nachts. Vor Jahren habe ich im Apennin meine Familie, meine städtische Herkunft, sogar mich selbst verleugnet, sosehr war ich im Bann der Wildnis. Ich brauchte dafür nur vom dichten Wald aus das Familienleben in einem beleuchteten Fenster zu beobachten.
Die Geschichte der Benediktiner beginnt im Zeichen eines epischen Kampfes gegen den Wald, der sich nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches in ganz Europa ausbreitete. Das Kloster erhebt sich inmitten des Gestrüpps, ist über Meilen hin sichtbar, stößt in die Landschaft vor wie ein Raumschiff, das die Randzonen des Universums erobert. Es ist die Garnison, von der aus das Leben nach den Grundsätzen des Christentums neu geordnet und organisiert wird. Der Wald ist jedoch auch ein Ort, an dem der Teufel am deutlichsten sichtbar ist, ein Resonanzboden der Seele. Ein Ort der Extreme, an dem man den Glauben auf die Probe stellen und die geheime Energie der Orte erfahren kann. Das wusste auch der kürzlich verstorbene belgische Benediktinermönch Frédéric Debuyst, für den der Wald regenerierende Leere, fast eine Zen-Praxis, darstellte. Im Wald werden die Versuchungen nicht vom Lärm der Städte verdeckt und man kann ihnen leichter entgegentreten. Dante beginnt seine Reise in einem von Visionen bevölkerten Wald, und für Benedikt ist der Wald ein idealer Ort für einen Neubeginn nach dem Ende des Römischen Reiches. Nachdem er als Einsiedler im Wald gelebt hat, taucht der bärtige Mönch wieder mitten in der Welt auf und gründet Montecassino.
„Alles hat vor zwei Jahrhunderten in der Wüste begonnen“, sagt Gianmario Guidarelli, ein Architekturprofessor aus Padua, ein kleiner Mann mit listigem Lächeln. Mittlerweile diskutieren wir rund um einen Tisch voller Kaffeetassen über das Universum der Benediktiner. Das Frühstück ist inzwischen der interessanteste Teil des Seminars. Vor dreizehn Jahren hat meine Reise ins Gelobte Land genauso begonnen, mit einem heiteren Gespräch in der Mensa des Klosters Bose im Piemont. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen und mich in die richtige Bahn zu lenken. „Das Klosterleben entsteht aus dem Prinzip des desertum, der Wüste, aus der Suche nach der Leere, aus den Versuchungen des heiligen Antonius“, fährt der Professor fort. „In der Wüste entstehen die Vorläufer der Klöster, die ersten Festungen der Anachoreten. Hier erkundet der Mensch auf der Suche nach Gott wie ein Astronaut die Grenzen des menschlichen Daseins. Hier übersetzt der hl. Hieronymus die Bibel ins Lateinische und hier schreibt Theodorus über das Leben des hl. Pachomios, des frühen Klostergründers.“
Draußen regnet es und im Garten wimmelt es von Schnecken auf Durchreise. Ich sauge die Ruhe ein und stelle fest, dass es gefährlich sein kann, das Klosterleben auszuprobieren. Wenn man sich an die heitere Geselligkeit und das Schweigen gewöhnt, glaubt man bei der Rückkehr in die Welt zu ersticken. Am liebsten würde man sich hinter eine Mauer zurückziehen. Ich frage mich, wie so ein Ort es schafft, sich nicht von der Leere und der Abschaffung Gottes, von der Vulgarität und dem Geschrei, die ihn belagern, anstecken zu lassen. Es ist nur zu verständlich, dass viele Klostergemeinschaften die Versuchung verspüren, sich abzuschotten. Welches Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, sich der Welt zu öffnen, und der Faszination des geschlossenen Kreuzgangs ist möglich? Das ganze Leben der Benediktiner ist von dieser Dialektik durchdrungen. Das ist der ewige Gegensatz zwischen Franziskus und Benedikt. Die Franziskaner müssen in der Welt, in der Öffentlichkeit sein, sich anstecken lassen. Die Benediktiner hingegen bevorzugen den geschlossenen Raum.
Doch wenn ihre Klöster nur erstickende abgeschlossene Räume wären, wäre es unerklärlich, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Norcia, April 2017
  6. Bologna, zehn Monate später
  7. 1. Das Glück im Kleinen
  8. 2. Hopfen und Weihrauch
  9. 3. Geduldig den Faden aufrollen
  10. 4. Gottes Triller
  11. 5. Die Lichtmaschine
  12. 6. Die Apotheke der Seele
  13. 7. Klavier und Flüstern
  14. 8. Der Dämon des Mittags
  15. 9. Schwalben und Braukessel
  16. 10. Die Wunderkammer
  17. 11. Der Vorläufer des Om
  18. 12. Die Tyrannei der Sonne
  19. 13. Die Horde und die Steppe
  20. 14. Die Symphonie
  21. 15. Der unendliche Faden
  22. Impressum