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Im ersten Essay unserer Städteserie zeigen wir, wie sich die Städte Europas nach dem postindustriellen Strukturwandel in pulsierende Metropolen verwandelten, die in puncto Wohlstand und Lebensqualität den weltweiten Vergleich nicht scheuen müssen.
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1. Einleitung
1.1 Europa und das Jahrhundert der Metropolen
Die Städte Europas stellen sich im Jahr 2018 wie ein Brennglas auf die Zukunft dar. Die europäischen Metropolen sind Bevölkerungsmagnete, Drehscheiben für Beschäftigung und Kultur, und natürlich sind sie politische Hauptstädte. Wandel und Wettbewerb liegen in der Luft. Dabei hängt Europas wirtschaftliche Zukunft wesentlich von einem Netz heterogener mittelgroßer Städte ab, die kleiner, kompakter und klarer eingrenzbar als ihre Pendants auf anderen Kontinenten sind. Im globalen Vergleich verfügen Europas Städte nicht über die Strahlkraft und Macht, die mit zehn oder mehr Millionen Einwohnern und dem Sitz von Weltkonzernen einhergehen. Sie sind aber auf andere Weise weltweit führend. Sie spielen auf wichtigen internationalen Bühnen wie Kultur, Gesundheit, Wissen und Bildung oder Nachhaltigkeit vorne mit. Bei der Lebensqualität und Krisenfestigkeit schneiden sie häufig sehr gut ab – ein großes Plus, gerade wenn man an den Klimawandel, die Instabilität in der Welt und den wirtschaftlichen Wandel denkt.
Abbildung 1: Lage und relative Größe europäischer Städte heute
In dieser Essayreihe zeigen wir, wie sich die europäischen Städte in den vergangenen 50 Jahren entwickelt haben und wie die Aussichten für die Zukunft sind. Das Zeitalter der Urbanisierung – das Jahrhundert der Metropolen – ist bereits zu einem Drittel verstrichen. Im groben Zeitraum zwischen 1980 und 2080 wird eine neue große Wanderung in die Städte stattfinden. Zum Ende dieses Jahrhunderts werden 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. In Europa wird sogar ein Urbanisierungsgrad von rund 90 Prozent erwartet.
Im Jahrhundert der Metropolen wird sich das Bevölkerungswachstum auf unserem Planeten voraussichtlich verlangsamen. Neue Technologien werden entstehen. Als Stichworte seien nur Smart Living, autonomes Fahren und die Automatisierung der Arbeit genannt. Auch unsere größte Aufgabe – der Kampf gegen die Erderwärmung und den Klimawandel – fällt in dieses Jahrhundert der Urbanisierung. Es könnte sehr wohl von unseren Städten abhängen, ob und in welchem Maße uns die neue räumliche Konzentration von Menschen und Wirtschaftstätigkeit, kombiniert mit maschinellem Lernen und exponentiellen Technologien, helfen wird, die wirtschaftliche Teilhabe zu verbessern und unseren Planeten zu bewahren. Dazu benötigen die Städte aber bestimmte Werkzeuge und Kapital. Voraussetzung dafür sind wiederum stabile politische Systeme, die in der Lage sind, auf die dynamischen Kapitalmärkte, die globale Unsicherheit, geopolitische Turbulenzen und den Populismus zu reagieren.
Die Herausforderungen sind also klar – und Europas Städte stehen mittlerweile für Aktion und Innovation. Zu Beginn unserer Geschichte dieser Städte werfen wir einen Blick auf die vergangenen 50 Jahre. Welche Rezepte für die Urbanisierung in Europas Städten gibt es bislang, und welche Rolle haben Investitionen dabei gespielt? Woher stammen die Investitionen in den Wandel? Und wie lässt sich das Finanzierungs- und Investitions-Know-how auf die Zukunft übertragen, damit die Wanderung in die Städte ein Erfolg wird?
1.2 Europas Städte: Die vergangenen 50 Jahre
Der Blick auf die Entwicklung der europäischen Städte von 1970 bis 2020 befördert Überraschendes zutage. Heute leben in den 28 EU-Ländern 72 Prozent der Einwohner in Städten und städtischen Regionen. Hinter diesem Durchschnittswert verbergen sich jedoch große Unterschiede. Der Urbanisierungsgrad variiert zwischen etwa 50 Prozent (Luxemburg, Rumänien, Kroatien) und über 80 Prozent (Italien, Niederlande, Großbritannien). Schaut man genauer hin, unterscheiden sich die europäischen Städte auch nach Größe und Art beträchtlich.
Abbildung 2: Anteil der Stadtbewohner in der EU und in den einzelnen Ländern in Prozent der Gesamtbevölkerung
In Europa gibt es heute eine Mischung aus kleinen, mittelgroßen und großen Städten, die jeweils eigene Aufgaben erfüllen und sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Den gängigen Definitionen zufolge gibt es in Europa keine Megastadt, denn kein städtisches Gebiet hat mehr als zehn Millionen Einwohner. Nur in den urbanen Ballungsräumen rund um London, Paris und Mailand leben jeweils mehr als zehn Millionen Menschen.
Im Jahr 2012 gab es laut OECD und EU-Kommission in der EU (plus Schweiz, Kroatien, Island und Norwegen) insgesamt 828 Städte. Darunter sind zwei Weltstädte (London und Paris), sechs große urbane Ballungsräume, deren Zentrum jeweils rund drei Millionen Einwohner hat (Athen, Berlin, Madrid, Barcelona, Mailand und Neapel), 18 kleinere Metropolen (eine bis zwei Millionen Einwohner) und 38 Großstädte (500 000 bis eine Million Einwohner). Die Hälfte der zuletzt genannten Großstädte liegt in Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
28 Prozent aller Stadtbewohner in Europa leben in Städten mit weniger als 250 000 Einwohnern. Dieser Anteil ist geringer als in Afrika (33 Prozent), aber höher als in Nordamerika (17 Prozent). Rund 26 Prozent leben in Städten mit einer bis fünf Millionen Einwohnern und rund 14 Prozent in Städten mit über fünf Millionen Einwohnern.
Abbildung 3: Anteil der Stadtbevölkerung gegenüber dem Gesamtgebiet in Prozent, nach Kontinent
Abbildung 4: Anteil der Stadtbewohner in Prozent der Gesamtbevölkerung nach Kontinent, in Prozent
Europa war jedoch nicht immer so städtisch geprägt. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Städtestruktur grundlegend geändert. In dieser Zeit entwickelte sich Europa von einem industriell und vor allem ländlich geprägten zu einem Kontinent der Städte und Metropolen.
Im Jahr 1961 lebten 37 Prozent der Bevölkerung in den 828 Städten des Kontinents. Bis 1981 stieg dieser Anteil auf 40 Prozent. Dort verharrte er geraume Zeit, bis zuletzt ein neues, kräftiges Wachstum der Innenstädte einsetzte. Dagegen konnten Kleinstädte, Vorstädte und stadtnahe Regionen ihren Bevölkerungsanteil in den vergangenen fünf Jahrzehnten stetig steigern, da die Menschen zum einen aus den Innenstädten in die Vorstädte und Stadtrandgebiete und zum anderen aus ländlichen Gebieten in kleinere Städte zogen. Neben diesen grundsätzlichen Verschiebungen – von ländlichen zu städtischen Regionen, aus den Kernstädten in die Vorstädte und von Einzelstädten hin zu Netzen von Nachbarorten – waren in jüngster Zeit noch zwei weitere Trends zu erkennen: eine Reurbanisierung, die zu einer Wiederbelebung der europäischen Innenstädte führt, und eine Metropolisierung, bei der sich benachbarte Städte, Vorstädte und Kleinstädte formell oder informell zusammenschließen und Nahverkehrsnetze und öffentliche Dienstleistungssysteme gemeinsam nutzen.
1.3 Ein europäisches Stadtsystem?
Die 28 Mitgliedsländer sind der EU in unterschiedlichen Phasen ihrer Entstehung und Erweiterung beigetreten, mit ihren jeweils eigenen, historisch gewachsenen Stadtsystemen und Stadthierarchien. Jedes Land wusste bei seinem Aufbruch nach Europa genau, wie seine Städte zusammenarbeiteten und welches nationale Stadtsystem dem zugrunde lag.
Durch die Integration in die EU öffneten sich diese gewachsenen Systeme für externe Einflüsse: Es ergaben sich Handelsmöglichkeiten, Bevölkerungsverschiebungen und neue Verkehrskonzepte, die Städte konnten sich wirtschaftlich spezialisieren, und der Austausch und die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg nahmen zu. Mit der Weiterentwicklung der EU haben Europas Städte diese neuen Chancen genutzt und sich in einem sehr viel weiter gespannten, kontinentalen Rahmen in einem stärker integrierten Europa positioniert. Weil die Städte auf die neuen Wahlmöglichkeiten und die neue Konnektivität reagiert haben, ist inzwischen ein neues Phänomen zu beobachten. Es bildet sich ein europäisches, interdependentes und polyzentrisches Stadtsystem neben den nationalen Stadtsystemen heraus, die ihrerseits dynamischer geworden sind.
Das neue europäische Stadtsystem ist außerordentlich heterogen. Ihm gehören nicht nur die 28 Hauptstädte mit ihren bisherigen unveränderten Rollen an, sondern auch andere, sehr unterschiedliche Städte mit besonderen Spezialisierungen (etwa in den Bereichen moderne Produktion, Finanzwesen, Wirtschaftsdienstleistungen, Kreativwirtschaft, Bildung, Technologie, Häfen und Logistik, Energie, Tourismus, Gesundheit oder Kultur). Städte wie München, Rotterdam, Krakau, Göteborg, Lyon, Manchester, Basel, Barcelona, Cork, Antwerpen, Bologna oder Oulu sind in ihrem nationalen Stadtsystem weder die größte Stadt noch die Hauptstadt, haben aber ihre Chance im Zuge der EU-Integration ergriffen und sind Spezialisten auf europäischer Ebene geworden.
Dabei sind auch neue, grenzüberschreitende Ballungsräume entstanden wie Wien–Bratislava, Kopenhagen–Malmö oder Triest–Ljubljana. Diese Makro-Stadtnetze haben häufig historische Wurzeln (Österreich und Ungarn) oder profitieren von geografischen Verbindungen wie Meeren (Ostseeregion oder Union für den Mittelmeerraum), Flüssen (regionale Stadtnetze im Rhein-Ruhrgebiet oder an der Donau) oder Gebirgen (transalpine Städtezusammenarbeit in der Schweiz, Frankreich und Italien).
Zunehmend entstehen auch eng miteinander verknüpfte Stadtcluster, die sich auf moderne Dienstleistungen, Innovationen oder die Kreativwirtschaft spezialisiert haben und dadurch zusammengehalten werden, dass sie Menschen, Arbeitsplätze, Kapital und Ideen anziehen. In Städtegruppen wie der Metropolregion im Nordwesten Europas (Amsterdam, Brüssel, Frankfurt, Paris, London) werden inzwischen insgesamt über 70 Prozent aller modernen Transaktionen in der EU abgewickelt. Sie zeichnen sich durch eine übergreifende Unternehmenspräsenz und mobile Arbeitskräfte aus und profitieren zunehmend von integrierten Schienennetzen und einem dichten Flugnetz. Derzeit entsteht ein Cluster aus mitteleuropäischen Hauptstädten (Berlin, Warschau, Prag, Budapest, Wien, Bratislava), die dank ihrer guten Verkehrsverbindungen als Standort für hochmoderne Wirtschaftszweige dienen. Auch skandinavische Städte (Oslo, Göteborg, Stockholm, Malmö, Kopenhagen) bauen ihre Zusammenarbeit aus und verbessern ihre Verkehrsverbindungen. Sie wollen zu einer Region mit insgesamt zehn Millionen Einwohnern werden, in der jede Stadt ihre Spezialisierung einbringt und gleichzeitig ihr Gewicht für das gemeinsame Ganze in die Waagschale wirft.
Dieses neue europäische Stadtsystem besteht aus unterschiedlichen Stadttypen. Dazu gehören zum Beispiel:
• westeuropäische Groß- und Hauptstädte, die als Zentren dienen,
• Städte, die sich nach einer Deindustrialisierung wieder erholen und durch Investitionen neu erfunden hab...