Alpinismus und Sommerfrische von 1850 bis ins frühe 20. Jahrhundert
Mit der verstärkten Mobilität aufgrund des Ausbaus des Eisenbahnnetzes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte der Beginn des klassischen Tourismus in den Alpen:
„Will man überhaupt ein Datum für die Entdeckung des Montafons festlegen, so müßte es der Tag sein, wo der erste Zug vom Bodensee her in den Bahnhof der Stadt Bludenz einrollte; damals haben die Fremden angefangen, sich im Montafon sommerlich niederzulassen.“132
Nahezu zeitgleich hatte der St. Galler Kaufmann und Alpinpionier Johann Jakob Weilenmann (1819–1896) mit seinem Buch „Aus der Firnenwelt“ (1872) erstmals prominent die Gebirgsgruppen Rätikon, Silvretta und Verwall einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht.133
In dieser Zeit begann auch der – oft von Tourismuspionieren in Angriff genommene – Ausbau der Beherbergungsbetriebe im Montafon (z. B. Gasthof Rößle in Gaschurn, Hotel Taube und Stern in Schruns usw.) sowie die Gründung von Verschönerungsvereinen und schließlich jene des Landesverbandes für Fremdenverkehr. Wesentlich geprägt war diese erste Phase vom Aufschwung des Alpinismus, der schließlich den Bau von Schutzhütten und neue Berufe wie etwa jenen des Bergführers mit sich brachte. Das urbane Bildungsbürgertum aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zählte zu den Hauptproponenten dieser Frühzeit des Fremdenverkehrs. Die Reise- und Alpinliteratur führte zur Verbreitung des Abenteuertourismus in die Alpen, sodass er immer breitere Schichten der Gesellschaft erfasste. So wurde schon im Jahr 1856 erstmals in der Presse berichtet, dass sich das Montafon im Sommer „eines sehr zahlreichen Besuchs“ erfreue. „Ganz besonders scheint zu dieser Frequenz das kürzlich im J. G. Cotta’schen Verlag erschienene Buch ‚Der Bodensee und seine Umgebungen‘ beigetragen zu haben“.134 Allerdings ist zu bedenken, dass Vorarlberg – und damit auch das Montafon – zwischen der Schweiz, „die mit Eifer und Geschick ihren Platz als die wichtigste Sommerfrische Europas behauptet“, und Tirol, „das im Wettbewerb demselben Ziel zustrebt und ihm schon ziemlich nahegekommen ist“, liegt.135
Zugleich gab es aber von Anfang an auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem entstehenden Tourismus, denn manche befürchteten, mit diesem käme ein „verdorbener Lebensstil“ in die „heile Welt“ der Bergregionen. Die städtischen Touristen brächten gefährliche Schriften, liberale Ideen oder gar lutherische Ansichten mit sich, welche den rechten Glauben, Anstand und Moral gefährdeten. Während sich einerseits katholische Priester wie etwa der aus Bartholomäberg stammende und in Gaschurn wirkende Frühmesser Franz Joseph Battlogg für Alpinismus und Fremdenverkehr engagierten, wetterten andere – etwa ein erzkonservativer Galtürer Wirt – offen gegen die „protestantische Gefahr“. Für die Reiseschriftsteller protestantischer Herkunft haftete vor diesem Hintergrund dem größtenteils katholisch geprägten Alpenraum der Geruch der Rückständigkeit und Borniertheit an. So verfasste etwa der Erstbesteiger des Piz Buin, Johann Jakob Weilenmann aus St. Gallen, im Jahr 1866 eine wenig schmeichelhafte Beschreibung des glaubensübereifrigen Wirts und Gemeindevorstehers von Galtür im inneren Paznaun aus der Perspektive des aufgeklärten Weltreisenden:
„Man muss nämlich wissen, und Jedem, der nicht blos momentan in Galthür weilt, sondern vielleicht auf Tage dahin gebannt wird, thut es zu wissen gut, damit er sich danach richte, dass der Wirth, der zugleich Gemeindevorsteher und als solcher omnipotent, ein Religionsfanatiker der gefährlichsten Sorte ist. Seiest du noch so wenig zu Controversen aufgelegt, er reisst jede Gelegenheit vom Zaune, eine solche anzuregen, dir sie aufzudrängen, und arbeitet sich dabei in eine blinde Wuth hinein. In seinen Augen sind die Protestanten das niederträchtigste Gesindel, das auf Gottes Erdboden herumläuft, und jeder Unthat fähig. Hinterrücks und offen äussert er sich dir gegenüber in diesem Sinne. Und hältst du an dich, kann sein Gebahren dir höchstens ein Lächeln abzwingen, so ist’s gerade diese Ruhe, die seinen Zelotismus zum Aeussersten bringt. Vergebens suchte ich ihm begreiflich zu machen, dass das Exemplar von Protestant, das er eben vor sich habe, ein sehr missrathenes sei, höchstens ein Taufscheinprotestant – er ist nicht zu beschwichtigen. In seiner Amtshöhe dicht an mich herantretend, die Fäuste geballt, das Gesicht wuthverzerrt kreischt er mich an: ‚A Protestant glaubt weniger als a Hund!‘ und nur dem Dazwischentreten seiner Frau und ihrem Bitten ‚Thua doch net gar so wüast!‘ habe ich’s wahrscheinlich zu danken, dass er nicht handgreiflich wurde. Freilich dauerte es nicht lange und er war wieder der seines Interesses sich erinnernde kriechende Wirt. Einige Fortschritte in der Kultur hat dieser Ex-Jugendbildner, seit ich ihn kenne, immerhin gemacht; das beweist ein Item für ‚Schuhschmirbe‘, das heuer zum ersten Mal auf meiner Rechnung figuriert.“136
Und noch im Jahr 1896 verkündete der Brixner Bischof Simon Aichner, zu dessen Diözese damals auch das Montafon gehörte, es sei „eine erwiesene Tatsache, daß nicht wenige unter denjenigen, die das Fremdenwesen befördern, es auf nichts Geringeres als auf das sittliche und religiöse Verderben des Landes abgesehen haben“.137 Um die Jahrhundertwende stellte auch der Schrunser Pfarrer und Dekan Aegid Mayer fest, dass der Tourismus seinen Teil zur Verweltlichung christlicher Verhaltensweisen und kirchlicher Gebote beitrage, wobei das „Schlimmste, was das Fremdenwesen mit sich gebracht hat, […] das Offenhalten der Geschäfte während des Gottesdienstes an Sonn- und Feiertagen [sei], das sich das ganze Jahr fortsetze“. Ebenso wurde das Beobachten der Prozessionen kritisiert:
„Die Procession am M. Himmelfahrtstage wurde dieses Jahr in besonders feierlicher Weise abgehalten. […] Zwei Curgästen, die wahrscheinlich dem Volke der ‚Unartenlosen‘ angehören, wurde bedeutet, wie sie sich zu benehmen haben, wenn sie bei einer in unmittelbarer Nähe vorbeiziehenden Procession Zuschauer sein und bleiben wollen. Ein Herr fand es sodann für besser seinen Zuschauerposten zu verlassen. […] Die Procession […] ist eine alt hergebrachte feierliche ...