Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung
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Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung

Von archaischen Kulturen bis zur Renaissance

  1. 280 Seiten
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Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung

Von archaischen Kulturen bis zur Renaissance

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Was offenbart die historische Entwicklung der Mathematik über die Menschen, die sie betreiben oder anwenden? Was verrät sie über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben?Keine Wissenschaft spielt eine so dominante Rolle in unserer heutigen Kultur wie die Mathematik: Ohne sie wären die atemberaubenden Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik nicht möglich gewesen, denn das Prinzip der (mathematischen) Vorhersagbarkeit ist Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie. Dieser Vorhersagbarkeit liegt auch eine zeitliche Dimension zugrunde, sie sagt eine Bewegung voraus: die Einheiten, in denen diese gemessen wird, sind etwa Zeit, Strecke, Geschwindigkeit, Beschleunigung oder Kraft.Der Mathematiker Jörg Witte zeigt, was unser naturwissenschaftliches Weltbild über unser Selbstverständnis aussagt und wie sich dieses historisch entwickelt hat. Auf anschauliche Weise und mit einem niedrigschwelligen Zugang legt der Autor dar, wie sich die kulturellen Voraussetzungen im Wandel der Zeit verändert haben und welche Bedeutung dabei das Subjektverständnis zur eigenen Stellung in der Welt spielt.

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Information

1. Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit

Prolog

Während der Renaissance fanden erhebliche Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens statt. In der Folge wurde das Mittelalter von der Neuzeit abgelöst. Der selbstbewusste Mensch der Neuzeit betrat die Bühne der Geschichte; in den Stadtstaaten Oberitaliens, aber auch in Nordeuropa entwickelten sich bürgerliche Gesellschaften; es entstanden die Naturwissenschaften und Technik. Ihre Grundlagen sind empirische Beobachtungen während eines Experimentes oder Naturbeobachtungen, wie z. B. astronomische Beobachtungen, und die Mathematik, die nach einer Phase der Stagnation während des Mittelalters in der Neuzeit eine rasante Entwicklung erfuhr. Die bei einem Experiment oder in der Natur beobachteten Erscheinungen und Ereignisse begegnen einem Wissenschaftler nacheinander in einer linearen zeitlichen Reihenfolge. Ein Naturgesetz ist eine Aussage über den linearen Zeitverlauf von gewissen Bewegungen oder Veränderungen in der Natur, die von Bewegungen verursacht werden. Ein Naturwissenschaftler kann ein Ereignis vorausberechnen, wenn er ein geeignetes Naturgesetz kennt. Während eines Experimentes zeigt sich der Zeitverlauf gewisser Bewegungen oder Veränderungen. Dafür werden im Allgemeinen Gegenstände und ihre räumlichen Beziehungen mit ihren zeitlichen Veränderungen beobachtet und eine Ortsveränderung gemessen, etwa die eines Massekörpers oder elektrisch geladenen Teilchens, die Ausdehnung einer Feder oder der Quecksilbersäule eines Thermometers, mechanische oder elektromagnetische Schwingungen. Durch die Beobachtungen kann ein Naturgesetz bestätigt oder widerlegt werden. Welches sind die Impulse für die Entwicklung? Gibt es einen Zusammenhang des Selbstbewusstseins des modernen Menschen mit den Naturwissenschaften auf Basis der Empirie und der Mathematik? Der Mensch der Neuzeit unterscheidet sich nicht nur durch sein Selbstbewusstsein, sondern auch durch sein Gegenstandsbewusstsein und seine Mobilität von den Menschen des Mittelalters. Der neuzeitliche Mensch steht einem Gegenstand gegenüber. Er bezieht sich in seinem Wahrnehmen und Vorstellen räumlich auf den Gegenstand – und kann sich so von dem Gegenstand unterscheiden, eine zwingende Voraussetzung für sein Selbstbewusstsein. Räumliche Beziehungen erfahren wir durch Bewegung. Erfahrungen, insbesondere Erfahrungen durch Bewegung, setzen ein gewisses Erinnerungsvermögen voraus. Ich werde darlegen, dass Selbst- und Gegenstandsbewusstsein sowie Mobilität durch eine Art des Erinnerns in einem Zusammenhang stehen. Durch die Art des Erinnerns erfährt der neuzeitliche Mensch lineare Zeitverhältnisse, Merkmale der Ordinalzahlen, mit denen er Ereignisse linear zeitlich anordnen kann, und Merkmale der reellen Zahlen, mit denen er Zeitbestimmungen vornehmen kann. Im Mittelalter waren reelle Zahlen noch unbekannt. Wir werden die neuzeitliche Erinnerungskultur im Kontrast zur mittelalterlichen Erinnerungskultur[3] erkennen.
Der moderne Mensch erlangt Selbstbewusstsein, indem er sich von den Gegenständen unterscheidet, zudem erlangt er ein Gegenstandsbewusstsein. Die Gegenstände erscheinen ihm. Eine Erscheinung eines Gegenstandes scheidet seine Außenwelt von seiner Innenwelt. Sinneseindrücke eines Gegenstandes erhält er passiv von außen,[4] von innen her erkennt er sie aktiv, wenn auch meistens routiniert, als Eigenschaften des Gegenstandes.[5] Eine Erscheinung eines Gegenstandes besteht aus Sinneseindrücken, die als Eigenschaften eines Gegenstandes erkannt sind. Sie kann der neuzeitliche Mensch verinnerlichen. Anschließend kann er sich erinnern, dass er einen Gegenstand wahrgenommen hat, dass dieser ihm erschienen ist. Dabei erfährt er, dass er im Wechsel der Erscheinungen stets derselbe bleibt. Er erinnert sich daran, dass er selbst – der Erinnernde – den Gegenstand wahrgenommen hat, dass er ihm erschienen ist. Diese Art der Erinnerung nennen wir eine episodische Erinnerung. Eine episodische Erinnerung unterscheiden wir von einer semantischen Erinnerung, die ein Wissen ist, das wir in das Gedächtnis eingeprägt haben. So können wir z. B. wissen, dass Caesar 44 v. Chr. ermordet wurde, ohne uns episodisch an das Ereignis zu erinnern, ohne dass wir uns an eine wahrgenommene Erscheinung des Ereignisses erinnern. Der Wechsel der Erscheinungen deutet auf Bewegungen – nicht nur auf Bewegungen der Gegenstände, der moderne Mensch selbst erlangte während der Renaissance eine ganz neue Form der Mobilität, war nicht länger überwiegend ortsgebunden, wie noch im Mittelalter. Der mittelalterliche Mensch hatte in den Gegenständen religiöse Sinnbilder wahrgenommen, Symbole oder, in der Natur, Stimmungsbilder – und weniger Erscheinungen der Gegenstände. Die Wahrnehmung änderte sich daher durch Bewegungen nur geringfügig. Die Bedeutung religiöser Symbole oder Merkmale der Stimmungsbilder entnahmen sie dem semantischen Gedächtnis, während der Mensch der Neuzeit den Wechsel der Erscheinungen durch episodisches Erinnern erfährt. So symbolisieren die Größenverhältnisse abgebildeter Personen auf mittelalterlichen Bildern ihren sozialen Rang, aber sie drücken nicht die Entfernungsverhältnisse aus. Angehörige des Adels und des Klerus wurden stets größer dargestellt als Bauern oder Leibeigene. In den Bildern der Renaissance können wir dagegen die Entfernungsverhältnisse der abgebildeten Gegenstände erkennen, wie sie der moderne Mensch durch seine Mobilität und den dadurch hervorgerufenen Wechsel der Erscheinungen erfährt. Das episodische Erinnern fügt das Selbst- und das Gegenstandsbewusstsein sowie die Mobilität zu einem organischen Ganzen zusammen.
Das episodische Erinnern begann zur Zeit der Renaissance die Kultur der Neuzeit zu prägen. Die episodische Erinnerungskultur erfasste bereits in dieser Zeit alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – die Politik, die Wirtschaft und die Kultur. Während im Mittelalter die Machthaber über Ländereien herrschten, wurde in den Städten der Renaissance das gesellschaftliche Leben linear zeitlich organisiert, also in solchen zeitlichen Verhältnissen, wie sie der neuzeitliche Mensch durch episodisches Erinnern erfährt. Sinnfälliger Ausdruck dafür ist die öffentliche Uhr, die auf dem Rathaus oder einem Glockenturm angebracht wurde. Der selbstbewusste Bürger verlangte zudem nach politischer Mitbestimmung. In der arbeitsteiligen Wirtschaft stellt er seine Arbeitszeit, an die er sich später episodisch erinnern kann, anderen Menschen zur Verfügung und erwartet dafür eine Gegenleistung. Durch Handelsreisen trat die Mobilität des modernen Menschen in Erscheinung. Die antike griechische Geometrie wurde in der Kartographie und Navigation angewendet. Sinn und Zweck von Kartographie und Navigation war es, den eigenen Standpunkt zu bestimmen, der durch die Zentralperspektive der Malerei in der Renaissance ebenfalls ausgedrückt wurde. Das Bewusstsein über den eigenen Standpunkt ist also Ausdruck des Selbstbewusstseins, der Mobilität und des Gegenstandsbewusstseins. Auch dem kopernikanischen Weltbild liegt das Bewusstsein der eigenen Perspektive zugrunde. Die Astronomen der Renaissance waren sich darüber bewusst, dass sie mit ihren Fernrohren die Planeten aus einer irdischen Perspektive beobachteten – und, zumindest theoretisch, jede andere Perspektive einnehmen konnten.
Der Mensch der Renaissance erfuhr durch episodisches Erinnern, dass er einen Wechsel der Erscheinungen dadurch verursachen konnte, dass er sich selbst oder einen Gegenstand bewegte. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung entstand die Naturwissenschaft. In einem wissenschaftlichen Experiment veranlasst ein Wissenschaftler Bewegungen, er bewegt etwas. Die Bewegungen bewirken einen Wechsel der Erscheinungen, die der Experimentator beobachtet, um Zusammenhänge der Erscheinungen zu erkennen – sogenannte Naturgesetze. Sie wendet der Ingenieur an, um Bewegungen seiner Maschinen zu kontrollieren und zu steuern. Mit den Bewegungen halten wir den Schlüssel in der Hand, um uns die Bedeutung der Mathematik in Naturwissenschaft und Technik zu erschließen. Eine Bewegung hat zwei Aspekte: Raum und Zeit. Die räumlichen Verhältnisse einer Bewegung erfassten die Wissenschaftler und Ingenieure der Renaissance durch die antike, griechische Geometrie, die von Euklid überliefert wurde. Mit der Zeit entstand aber während der Renaissance etwas Neues, nämlich die moderne lineare Zeit. Zeitliche Verhältnisse können wir durch die Arithmetik erfassen, z. B. kann mit den Ordinalzahlen der modernen Mathematik eine linear zeitliche Reihenfolge begriffen werden. Auch die reellen Zahlen sind linear geordnet und haben die Struktur des Zeitkontinuums der Physik.
Lineare Zeitvorstellungen der Renaissance sind eine Erscheinungsform der episodischen Erinnerungskultur. Wenn ich mich episodisch daran erinnere, dass ich ein Ereignis erlebt habe und daran, dass ich mich während des Ereignisses an ein anderes Ereignis episodisch erinnert habe, dann habe ich eine Reihenfolge der Ereignisse erfahren. Ich habe erlebt, dass das letzte Ereignis während des ersten bereits vergangen war. Eine derartige Erinnerung an eine Erinnerung nennen wir eine rekursive Erinnerung. Eine lineare Anordnung von Ereignissen, d. h. eine Reihenfolge von Ereignissen, kann ich durch rekursive episodische Erinnerungen erfahren. Eine Erinnerung kann ich jedoch auch durch die Verwendung von Ordinalzahlen strukturieren: erstes Ereignis, zweites Ereignis, drittes Ereignis usw. Dadurch wird das Gedächtnis erheblich entlastet, denn die Struktur der Ordinalzahlen besitzt selbst das Merkmal der Rekursion.
Im 16. Jahrhundert wurde zum ersten Mal ein mathematischer Beweis geführt, der von dem Merkmal der Rekursion der Struktur der Ordinalzahlen Gebrauch machte. Das Merkmal der Rekursion ist eine notwendige Voraussetzung, um mit Ordinalzahlen zu rechnen. Eine axiomatische Fundierung der Struktur der Ordinalzahlen fand erst Ende des 19. Jahrhunderts statt. Da das Merkmal der Rekursion an rekursiven, episodischen Erinnerungen erfahren werden kann, ist der moderne Zahlbegriff ein Ausdruck der episodischen Erinnerungskultur. Aber schon der Umgang mit Zahlen während der Renaissance offenbart die neuzeitliche episodische Erinnerungskultur.
Im folgenden Kapitel möchte ich aufzeigen, auf welche Weise das Bewusstsein, die Kultur und die Gesellschaft durch episodisches Erinnern geprägt sind. Der Mensch der Neuzeit erfährt Merkmale des episodischen Erinnerns nicht nur durch individuelles Erinnern, sondern auch als kulturelles und soziales Wesen. Nützlich, wenn nicht gar unentbehrlich zur gesellschaftlichen und kulturellen Orientierung ist eine gewisse Vertrautheit mit den Merkmalen, die in der neuzeitlichen Kultur und Gesellschaft tief verankert sind. Die Merkmale finden wir in unserem modernen Zahl- und Zeitbegriff wieder. Wir werden verstehen, wie der moderne Mensch sie erfährt, und es eröffnet sich eine neue Perspektive auf die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung des modernen Zahl- und Zeitbegriffs. Deutlich wird, dass die moderne Mathematik und ihre Anwendung in Naturwissenschaft und Technik tief in unserer episodischen Erinnerungskultur verwurzelt sind.

Der Mensch der Neuzeit

Selbst- und Gegenstandsbewusstsein

Im 15. Jahrhundert begann die Renaissance, und damit die Epoche der Neuzeit. Auf das religiös geprägte Mittelalter folgte eine säkulare Epoche. Im Mittelalter war der Glaube verbreitet gewesen, dass Gott im Menschen denkt, seinen Willen ausdrückt und sich durch Wahrnehmungen offenbart. Nach und nach setzte sich die Überzeugung durch, dass der Mensch ein eigenständig denkendes Wesen ist, einen Willen hat, selbst einen Gegenstand wahrnimmt. Ein charakteristisches Merkmal der Neuzeit ist das Selbstbewusstsein der Menschen.
Wie aber gelangt der neuzeitliche Mensch zu einem Bewusstsein seiner selbst? Einen ersten Hinweis liefert der Blick auf archaische Kulturen, in denen sich die Menschen die Natur als von Geistern und Dämonen bevölkert vorstellten. So nahmen sie in einem Donnern den grollenden Zorn eines Gottes wahr. Sie unterschieden nicht zwischen dem eigenen Zorn und dem Donnern. Bis heute klingt die Vorstellung von seelischen Eigenschaften von Gegenständen in der Sprache nach. Wenn wir beispielsweise von einer schwermütigen Stimmung sprechen, haben wir einen Seelenzustand mit einer gegenständlichen Eigenschaft bezeichnet, nämlich der Schwere. Oder man denke an einen Hitzkopf! Auch Hitze ist eine gegenständliche Eigenschaft. Die Gegenstände in der Natur waren für die Menschen in archaischen Gesellschaften genauso beseelt wie sie selbst. Sie unterschieden nicht oder zumindest nicht maßgeblich zwischen sich und den Gegenständen, die sie in der Natur vorfanden. Ich bin mir aber nur dann meiner selbst bewusst, wenn ich mich von etwas anderem unterscheiden kann.
Der moderne Mensch kann sich kaum vorstellen, kein Gegenstandsbewusstsein zu besitzen. Wie soll das möglich sein, dass er nicht zwischen sich und den Gegenständen unterscheiden kann? Müsste er nicht an Gegenständen anstoßen, über sie stolpern, wie ein kleines Kind? Wenn ein Baby strampelt und seine Ärmchen in alle Richtungen ausstreckt, dann stößt es sich an den Gegenständen in seiner unmittelbaren Umgebung. Es wird durch die Gegenstände in seinem Bewegungsdrang gehindert. Dabei erfährt es ein raumzeitliches Merkmal: Seine Hand oder sein Fuß und ein Gegenstand können sich nicht gleichzeitig an derselben Stelle befinden. Freilich bildet es sich keinen Begriff über einen Gegenstand und seine raumzeitlichen Beziehungen – es begreift sie nicht. Folglich begreift es keinen Unterschied zwischen sich und einem Gegenstand. Aber es macht sich mit dem raumzeitlichen Merkmal vertraut. (Im dritten Kapitel werden wir das Vertrautsein als eine Vorstufe der bewussten Erinnerung kennenlernen.) Indem ein Kind sich mit diesem Merkmal vertraut macht, lernt es, sich zu bewegen, ohne an den Gegenständen anzustoßen.
Was nun bedeutet Vertrautsein? Auf die Wahrnehmung gewisser vertrauter Merkmale reagieren wir in der Regel routiniert, der Merkmale selbst werden wir uns dabei kaum bewusst. Denken wir etwa an einen Hochseilartisten, dem die Merkmale der Gleichgewichtslage so vertraut sind, dass er automatisch – ohne darüber nachzudenken – auf sie reagieren kann. Genauso routiniert bewegt sich ein archaischer Mensch zwischen Bäumen, Felsen und anderen Gegenständen fort, ohne sich zu stoßen, obwohl er in den Erscheinungen der Natur keine unbelebten Gegenstände erkennt, sondern ein möglicherweise sehr vitales Seelenleben der Naturgeister und Dämonen – ähnlich einem Traum.
Doch zurück zum Wachzustand. Was erfahren wir, wenn wir uns an einem Gegenstand stoßen? Angenommen, wir schlafen unruhig und stoßen im Schlaf irgendwo an. Sicher würden wir sofort aufwachen. Die Wahrnehmung eines Stoßes lässt sich nicht überschlafen. Einen Stoß nehmen wir nur mit einem wachen Bewusstsein wahr. Wir können auch jemanden wecken, indem wir ihn schütteln und rütteln. Er erfährt dann mit seinem Tastsinn den Druck, den wir auf ihn ausüben, was zu einer Gegenbewegung führt, folglich wird er aufwachen.
Im Verlauf einer Eigenbewegung kann ich mich an einem Gegenstand stoßen. In jedem Moment der Eigenbewegung entscheide ich über Richtung und Geschwindigkeit. Zur Kontrolle nehme ich Richtung und Geschwindigkeit meiner Eigenbewegung mit dem Bewegungssinn oder kinästhetischem Sinn wahr. Er besteht aus Sinneszellen in den Muskeln, Sehnen und Gelenken. Sowohl der Entschluss zu einer Richtung und Geschwindigkeit als auch die Wahrnehmung derselben zur Kontrolle sind oft routiniert und unbewusst – außer im Moment des Stoßes. In diesem Moment tritt anstelle der kinästhetischen Wahrnehmung eine Wahrnehmung des Tastsinns, die schmerzhaft...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. 1. Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit
  8. 2. Merken und Erinnern, Zählen und Rechnen
  9. 3. Phänomene des Erinnerns und Wahrnehmens
  10. 4. Zahl- und Zeitbegriffe
  11. 5. Zeit und Zahl in der antiken griechischen Erinnerungskultur
  12. 6. Eine Entwicklungslogik
  13. Zusammenfassung
  14. Glossar
  15. Literaturverzeichnis
  16. Anmerkungen