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Homophobie als Herausforderung

  1. 168 Seiten
  2. German
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Homophobie als Herausforderung

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Über dieses Buch

Ist die "Bewegung" in eine Falle gelaufen, als sie Toleranz für eine "Liebe wie jede andere auch" forderte? Werden nur solche Homosexuelle geduldet, die so lebenwie die Heteros, in festen Partnerschaften, nach deren Mustern? Und wie brüchig ist diese Duldung? "Demos für alle", "besorgte Eltern" und die beschämendenReaktionen auf den tödlichen Anschlag von Orlando/USA haben diese längst gärenden Fragen ins Bewusstsein gerückt. Auch die Frage nach den Perspektiven: Was müssen wir tun, dass sexuelle Vielfalt endlich respektiert wird – egal ob in Partnerschaften oder promisk, lesbisch, schwul, bi oder trans*?Darüber schreiben Birgit Bosold, Ansgar Drücker, Dirk Ludigs, Bodo Niendel und andere.

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Information

QUEERSOZIAL

Hegemonie, Rechtsruck und Klassengesellschaft

Bodo Niendel
Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!
(Bertold Brecht 1967: 1835)
In einem Vortrag im August 2016 zum Paragraphen 175 im Rahmen der Pride Week des Hamburger CSD merkte der Historiker Gottfried Lorenz an, dass wir uns nicht zu sicher fühlen sollten, wir befänden uns nur auf einem kurzen gesellschaftlichen Hoch. Die meisten Anwesenden, ich eingeschlossen, wollten seinen Worten nicht recht glauben. Mittlerweile scheint die Erde sich schneller zu drehen. Mit Donald Trump wurde überraschend ein egomaner Rechtspopulist zum mächtigsten Mann der Welt gewählt. Er ist mit einem Beraterstab, bestehend aus Erzreaktionären, Queerhassern, Abtreibungsgegnern und Faschisten, ins Weiße Haus eingezogen. In Moskau regiert unangefochten ein autokratischer Herrscher. Die Türkei scheint in Richtung einer Diktatur getrieben zu werden. Und über ganz Europa schwappt eine Welle des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, die auch vor Deutschland nicht haltmacht. Aller Voraussicht nach wird eine radikalisierte Alternative für Deutschland (AfD) in den Deutschen Bundestag einziehen. Der Hass auf Minderheiten wird damit wieder salonfähig. Auch wir Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle sind wieder zur Zielscheibe geworden. Ein neuer Hass macht sich breit: «Aber Hass ist nicht einfach da. Er wird gemacht» (Emcke 2016: 19). Im Folgenden werde ich versuchen den globalen und hiesigen Rechtsruck mit der ambivalenten Durchsetzung neoliberaler Vergesellschaftung zu verbinden. Zugleich möchte ich anregen, dass wir uns auch die Schattenseiten des Kapitalismus ansehen sollten. Denn wenn queere Politik mehr bedeutet als Interessenspolitik für eine bestimmte Klientel, dann müssen wir gerade jetzt – im Angesicht der größten Gefahr – für eine neue Idee des Sozialen und Emanzipatorischen streiten.
Ein Blick zurück
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Fall der Mauer schien die Welt wieder in Ordnung. Demokratie und freier Markt feierten ihren Siegeszug. Einige riefen gar das Ende der Geschichte aus (vgl. Fukuyama 1992). 1994 wurde Homosexualität von der WHO von der Liste klassifizierter Krankheiten gestrichen. Im gleichen Jahr wurde auch in Deutschland der Paragraph 175 aus dem Strafgesetzbuch gekippt. 1996 wurde auf der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver die Kombinationstherapie für HIV-Positive vorgestellt und die Todesdrohung an Aids zu sterben, insbesondere für schwule Männer in den westlichen Staaten, nahm Stück für Stück ab. Außer in etlichen osteuropäischen, afrikanischen und arabischen Staaten erlangten queere Menschen weltweit mehr Bürgerrechte. Der britische Historiker Jeffrey Weeks beschreibt die queere Bewegung als die bislang erfolgreichste Identitätsbewegung weltweit (2014). In Deutschland wurde 2001 mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz durch die rot-grüne Bundesregierung die sogenannte Homo-Ehe eingeführt. Kaum mit Rechten, aber mit umso mehr Pflichten ausgestattet, wurden gleichgeschlechtliche Partnerschaften erstmals staatlich anerkannt. Einige linke Kritiker_inner monierten nicht ganz zu Unrecht, dass hier eine Normativität geschaffen werde, die wiederum Ausgrenzung schaffe (Bubeck 2000). Doch retrospektiv betrachtet kann man zu Recht behaupten, dass mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Queers gestiegen ist. Das Recht hat uns anerkannt (Bruns 2016). Doch bis heute blockieren CDU / CSU die vollständige Gleichstellung, insbesondere die Öffnung der Ehe. Da ernstzunehmende Argumente gegen die Gleichstellung von Lesben und Schwulen fehlten, war Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer TV-Befragung zur Bundestagswahl 2013 gar gezwungen, ihr «Bauchgefühl» gegen gleiche Rechte zu bemühen. Doch das Bundesverfassungsgericht hat seit 2009 sehr deutlich zu unseren Gunsten entschieden. Seit 2011 sitzt mit Susanne Baer eine offen lesbische Juristin im höchsten Rechtsorgan des Staates. Nicht zuletzt stärkte das Bundesverfassungsgericht stetig die Rechte von Transsexuellen, indem es menschenrechtswidrige Artikel des Transsexuellengesetzes außer Kraft setzte und den Gesetzgeber zu Neureglungen zwang. Auch viele andere europäische Staaten schufen Gesetze, die staatlich legitimierte gleichgeschlechtliche Partnerschaften ermöglichten, oder öffneten die Ehe für Lesben und Schwule und gewährten Transsexuellen mehr Rechte. Die Paraden zum Christopher-Street-Day haben massiven Zulauf gewonnen. Demonstrierten 1979 in Berlin nur 400 Personen, so waren es ab 2010 schon mehr als 400.000. Die Demonstration wurde vielerorts zu einer Parade mit bassstarken High-Tech-Anlagen, die für Außenstehende kaum noch von einer Love-Parade zu unterscheiden war. Linke Kritiker_innen veranstalteten alternative Demonstrationen (Tietz 2012). Doch auch hier drückte sich der gesellschaftliche Rückenwind in einer gesteigerten Partylaune aus. Queere Netzwerke und Strukturen bauten sich aus und professionalisierten sich, auch die Aidshilfen sind vielerorts ein etablierter Teil dieser Strukturen. Mit der Gründung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wurden zwar unterfinanzierte, aber medienaffine Player für unserer Sache geschaffen. Die Bildungspläne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind herausragend und von langfristiger Bedeutung (Rieder 2013). Doch wer genau hinschaute, musste schon damals erkennen, dass die Gegenstimmen nie wirklich verstummten. Man musste nur zu öffentlichen Anhörungen in den Bundestag oder den Ausschusssälen der Länder fahren und sich anhören, was die von der Union benannten Sachverständigen zum Thema Lebenspartnerschaftsgesetz von sich gaben. Auch wenn die Statistiken zur gesellschaftlichen Akzeptanz uns beruhigen sollten (z. B. NORC-Studie 2014), ist das Raunen der Stammtische nie wirklich verstummt.
Queeren Menschen gelang es in vielen Teilen der Welt, ihre Stimme zu erheben, Menschen zu mobilisieren, politischen Einfluss zu gewinnen und das Recht und den Staat zu verändern. Entgegen der vom Sexualwissenschaftler Martin Dannecker (1986) gegenüber staatlichen Institutionen – nicht ganz zu Unrecht – geäußerten Skepsis gelang dies in relativ kurzer Zeit. Die sog. Homo-Ehe geriet zu einem Lackmustest, wer sich dagegenstellte, gehörte der Vergangenheit an. Im Sinne der Theorie der Philosoph_innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991) könnte man dies für den deutschen Diskurs auch als «leeren Signifikanten» bezeichnen. Ähnlich wie die Losung «Freiheit für Nelson Mandela» aufgeladen war mit dem Einsatz für Menschenrechte, Entkolonialisierung und Antirassismus, so war das Eintreten für die «Homo-Ehe» ein Eintreten für Menschenrechte, Demokratie und eine offene Gesellschaft. Ein ungeheurer Erfolg.
Die AfD und der Rechtsruck.
Vor diesem Hintergrund befinden wir uns heute in einer neuen Situation und sehen uns kaum erwarteten Bedrohungen gegenüber. Im Jahr 2013 gründete sich unter der Führung des Hamburger Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke die Alternative für Deutschland. Elitär und national-konservativ wandte sie sich gegen den Euro und forderte eine Rückkehr zur D-Mark. Mittlerweile existieren in der AfD drei große Strömungen: Eine wirtschaftsliberale, eine christlichfundamentalistische und eine völkische. Zwar lässt sich im derzeitigen Personalund Führungsstreit der Partei noch nicht absehen, in welche Richtung sie sich entwickelt (vgl. Kellersohn / Kastrup 2016), doch zeichnet sich ein stabiler Einfluss des völkischen Flügels um Bernd Höcke, Andrè Poggenburg und Peter Gauland ab (Funke 2016).
Die AfD steht für eine elitäre und formierte Gesellschaft, die sich beispielsweise in einem völkischen und elitären Umbau der Hochschulen (Gohlke / Schafft 2016), einer nationalen (gleichgeschalteten) Medienlandschaft, einer nationalistischen Kultur («Denkmale statt Mahnmale»), dem Abbau von Teilhabe- und Mitbestimmungsrechten und einer reaktionären Geschlechter- und Familienpolitik ausdrückt. Sie tritt auf gegen «Gender-Mainstreaming» sowie gegen eine «Frühsexualisierung» durch Bildungspläne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, knüpft an altbekannte Ressentiments an: schwul = pädophil. Die Familien- und Geschlechterpolitik gerät damit zum innerparteilichen ideologischen Kitt. Denn konservative Neoliberale, christliche Fundamentalist_ innen und Neofaschist_ innen in der AfD eint die Orientierung an einem rückwärtsgewandten Familienbild, somit wird der Kampf gegen unsere queeren Rechte massiv geführt (Kemper 2016, Wimbauer u.a. 2016).
Auf dem Nährboden eines vorgefundenen Rassismus und einer Xenophobie (vgl. Decker /Kiess /Brähler 2016) wächst die AfD und trägt ihre Positionen immer stärker in die Gesellschaft. Die Töne, die aus den Reihen der AfD erklingen, werden immer schriller, und das ist gewollt. Mit der PEGIDA-Bewegung verfügt sie über einen bedeutenden mobilisierungsfähigen zivilgesellschaftlichen Akteur. Mit dem Institut für Staatspolitik (IfS), geleitet von dem Rechtsintellektuellen Götz Kubitschek, verfügt die Strömung der Neuen Rechten über eine intellektuelle Nachwuchsbildungsstätte. Das IfS dient der Radikalisierung und Aufrechterhaltung des Bewegungscharakters und versucht zudem, Brücken zum traditionellen Konservatismus zu bauen.
Zugleich forcieren internationale Geldgeber den Rechtsruck. Die im Trump-Wahlkampf so erfolgreiche Website Breitbart-News der Alternative Right eröffnet ein Büro in Berlin und das rechtsextreme Verschwörungsmagazin Compact lässt sich seine Veranstaltungen indirekt von der russischen Regierung finanzieren. Es fließt Geld und es ist ein strategischer Zangenangriff auf die Gesellschaften. Der neue globale Rechtsextremismus und Rechtspopulismus will sowohl intellektuell in die Mitte der Gesellschaft und diese radikalisieren als auch abgehängte Bevölkerungsschichten ansprechen, indem die sozialen Fragen ethnisiert werden. Nicht zuletzt werden hiermit Spannungen angeheizt und zunehmend Gewalt in die Gesellschaft getragen (Funke 2016).
Gemeinsam ist beiden Strategien, dass das nationale «Wir» als ein letzter Rettungsanker gegen die Ängste vor einem Untergang funktioniert, die infolge der fortschreitenden Globalisierung immer stärker werden (Sennett 2001, Müller 2016, Priester 2013).
Die Hilflosigkeit der queeren Bewegungen
Auf diese Situation sind queere Bewegungen nicht vorbereitet. Zum einen können wir nicht die Augen davor verschließen, dass die neuen Rechten reale Probleme sozialer Verwerfungen aufgreifen, die auch eine große Zahl von queeren Menschen betreffen. Zum anderen verzetteln wir uns gelegentlich in Grabenkämpfen, die kaum mehr etwas mit unserer Lage zu tun haben.
Einerseits: Es trifft zwar zu, dass ein Großteil der neuen Migrant_ innen nach Deutschland kommen, weil hier Demokratie herrscht und Menschenrechte geachtet werden, aber es trifft ebenso zu, dass patriarchale und paternalistische Vorstellungen sowie die Ablehnung von Homosexualität unter den neuen Migrant_innen stärker verbreitet sind (Brückner u.a. 2016). Tradierte Vorstellungswelten, zum Teil religiös motiviert, muss man ernst nehmen, zumal diese unter den Bedingungen von Perspektivlosigkeit und Gettobildung nicht selten noch verstärkt werden. Außerdem ist mit dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 auch der Terror des Islamischen Staats in Deutschland angekommen. Beides führt zu Debatten, die den Rechten nützen und in denen es uns offensichtlich schwer fällt, Positionen zu entwickeln, die der drohenden Gefahr etwas entgegensetzen und uns nicht ungewollt zu Komplizen einer gegen unsere Interessen gerichteten Politik zu machen.
Andererseits: Insbesondere queer-politische Ansätze, die sich besonders radikal geben wollen, haben mancherorts zu Grabenkämpfen und skurrilen Situationen geführt, die unsere Hilflosigkeit gegenüber der realen Bedrohung verstärkt: So hat sich beispielsweise in Berlin die CSD-Bewegung an der Frage des «Pinkwashings» gespalten. Mit dem Begriff Pinkwashing wird dem Staat Israel unterstellt, queere Menschen besser zu behandeln und das im Rahmen der Tourismuswerbung auch besonders zu betonen, um damit von einer diskriminierenden Politik gegenüber den Palästineser_innen abzulenken. Vertreten wurde diese Position auf der Abschlusskundgebung des XCSD in Kreuzberg ausgerechnet von einem Mitarbeiter von Russia Today Deutschland (vgl. Blech 2016). Dass sich in Deutschland hinter einer solchen Israel-Kritik häufig tief verwurzelter Antisemitismus verbirgt und ein Mitarbeiter eines russischen Staatsfernsehsenders, der zwischen Propaganda und Verschwörungstheorie changiert, keine geeignete Person für eine linke Abschlusskundgebung sein kann, haben die Veranstalter in Kauf genommen. So etwas spaltet die Bewegung.
Erst wenn wir es vermeiden, kulturelle Unterschiede und Konflikte zu bagatellisieren, den islamistischen Terror ernst nehmen und uns nicht in neue Dogmatismen flüchten, können wir eine Antwort auf die neuen Bedrohungen finden. Die Ursachen für das Erstarken rechter Positionen liegen aber im Sozialen und vor allem darin, dass die einst sozialistischen oder sozial-liberalen Kräfte keine Alternative für jene bieten, die sich abgehängt fühlen, die im Prekariat leben, Ängste vor dem sozialen Abstieg haben und auch für jene, die man auch heute noch Arbeiter_innenklasse nennen kann, wenngleich die heutige Arbeiter_innenklasse weniger unter Tage oder am Band sondern eher im Start-Up, im Krankenhaus oder bei McDonalds arbeitet (vgl. Nachtwey 2016). Der französische Soziologe Didier Eribon beobachtete für die französische Gesellschaft, dass die Arbeiter_innen keinen Bezugspunkt mehr zu linker Politik haben, denn:
«Ein Gutteil der Linken schrieb sich nun plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, das zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten [...] worden war. Die linken Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten [...] und wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich, und zwar mit einer verbalen Gewalt, die von den Betroffenen durchaus als solche erkannt wurde» (2016: 121).
In zunehmendem Maße gelingt es in der Folge den Rechtsextremist_ innen, sich als Anwälte der «kleinen Leute», der Abgehängten und Abstiegsbedrohten darzustellen. In ihrer Rhetorik werden bewusst soziale Probleme aufgegriffen, diese aber national, völkisch und auch sexualpolitisch überformt. Als ob sie dadurch zu lösen wären. Die Antworten, die wir suchen, müssen also auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung bezogen werden und queere Perspektiven mit sozialen Perspektiven zusammenführen. Um sie finden zu können, müssen wir aber erst einmal rekapitulieren, wie grundsätzlich sich die soziale und wirtschaftliche Lage in den letzten Jahrzehnten verändert hat und welchen Platz wir innerhalb dieser Veränderung einnehmen.
Die Freiheit des Marktes
Während queere Menschen in der westlichen Welt auf einer Welle der wachsenden Akzeptanz und Gleichstellung schwammen, veränderten sich die Gesellschaften grundlegend; es brach eine neue Ära des Kapitalismus an. Und das war kein Widerspruch. Frauen, Lesbenund Schwulenbewegung u.v.a. drängten auf mehr Selbstbestimmung und die Überwindung von Konformität, und gerade dies fügte sich in die ökonomische Entwicklung und gab dieser einen Innovationsschub (Boltanski / Chiapello 2013). Politische Entscheidungen, getragen vom Geist des Neoliberalismus, befeuerten Prozesse der Deregulierung (insbesondere der Finanzmärkte), der Flexibilisierung und der Privatisierung – das dreifaltige Mantra des Neoliberalismus. Staatliche Aufgaben wurden dabei an ökonomischen Prinzipien ausgerichtet und der Staat sollte seine Ökonomie im globalen Wettbewerb optimieren (Bourdieu 1997). Der Staat entwickelte sich zum «nationalen Wettbewerbsstaat» (Hirsch 1995): Stellen im öffentlichen Dienst wurden abgebaut, private Unternehmen übten einen Teil dieser Tätigkeiten aus. In den privaten Unternehmen wurden die Beschäftigten deutlich geringer entlohnt. Die Gewerkschaften verloren an Einfluss, weil viele Betriebe nicht an Tarifverträge gebunden waren. Der tiefgehende technologische Umbruch durch die Informationsund Kommunikationstechnologie schuf neue Möglichkeiten, die auch eine Neustrukturierung der Arbeitswelt mit sich brachte (Candeias 2004). Sie ist gekennzeichnet durch ungesicherte Arbeitsverhältnisse, die ALG-II- bzw. Hartz-4-Gesetze (mit dem Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen), Leiharbeit, Lohndumping, die enorme Konzentration des Vermögens auf wenige und die zunehmende Armut in der Gesellschaft.
Für gering qualifizierte Arbeiter_ innen war damit eine Entwicklung zum arbeitenden Armen verbunden (Ehrenreich 2001). Viele Menschen wurden so zu einem Objekt der Flexibilisierung. Die neue flexible Kultur des Kapitalismus überrumpelte viele Menschen (Sennett 2000). Diese Prozesse wurden auch in Deutschland politisch befeuert. Ausgerechnet ein Regierungsbündnis aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen sollte die neue Kultur etablieren, nachdem Helmut Kohl abtrat und die bleiernen 16 Jahre seiner Kanzlerschaft endlich vorbei waren. Zwar verkleinerte sich das Heer der Arbeitslosen, doch mit einer unvergleichlichen Rasanz hielt das Heer der arbeitenden Armen Einzug. Realeinkommen, gerade bei jüngeren Menschen, sanken. In der veränderten Arbeitswelt wurde den Menschen gerade im Niedriglohnbereich ihre Würde geraubt (Negt 2001). Die Leistungen des Sozialstaats wurden zurückgefahren und die Lohnarbeitsgesellschaft veränderte sich in allen westlichen Staaten grundlegend und damit wurde auch eine Axt an die soziale Kohäsion der Gesellschaft gelegt (Castel 2000). Das, was man alt-link als Klassengesellschaft bezeichnet hatte, trat in neuer und anderer Gestalt hervor.
Die queeren Bewegungen haben sich währenddessen auf einen emphatischen Begriff der Menschenrechte und der Bürgerrechte gestützt. Zugleich haben sie den sozialen Teil dieser Menschenrechte zumeist ausgeklammert, obwohl die skizzierte Entwicklung die Lebensbedingungen auch vieler que...

Inhaltsverzeichnis

  1. Demo. Für. Alle.
  2. Verlagstext
  3. Titel
  4. Detlef Grumbach: Demo! Für! Alle! – Vorwort
  5. Gabriel Wolkenfeld: Orlando – Was geht mich das an?
  6. Jan Schnorrenberg: Der braune Regenbogen
  7. Muriel Aichberger: Schwul. Männlich. Menschlich. Plädoyer für ein vielfältiges Männerbild
  8. Joachim Bartholomae: Wie weit muss die Schwulenbewegung gehen? Ein Gedankenspiel
  9. Peter Rehberg: Jenseits von homophobem Essentialismus und toleranter Hyperkultur
  10. Volker Woltersdorff: Zwischen Homotoleranz und Homophobie. Sexuelle Differenz in Zeiten neoliberaler Ungleichheit
  11. Bodo Niendel: Queersozial. Hegemonie, Rechtsruck und Klassengesellschaft
  12. Werner Hinzpeter: Größer denken. Anregungen zur fast unlösbaren Herausforderung, eine schlagkräftige Bewegung für Lesben, Schwule und Transgender zu schaffen
  13. Birgit Bosold: Rosa Sonntagsreden! Warum LGBTIQ reine Rhetorik ist und was das mit dem populistischen Backlash zu tun hat
  14. Gert Hekma: Schwule Kultur statt Normalisierung. Wider die freiwillige Sklaverei der Schwulen
  15. Ansgar Drücker: Gleich und anders. Warum Schwule die selbstgebaute Falle zwischen Anpassung und Widerstand aufbrechen sollten
  16. Kriss Rudolph: Auf in den Kampf!
  17. Dirk Ludigs: Wir – sind – allein!
  18. Über die Autorin & die Autoren
  19. Impressum
  20. Inhalt