Die Reform des Islam
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Die Reform des Islam

Durch Widersprüche und Rätsel zur Lösung

  1. 160 Seiten
  2. German
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Die Reform des Islam

Durch Widersprüche und Rätsel zur Lösung

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Gibt es einen europäischen Islam? Ist der Islam die Religion der friedlichen Familie oder des Ehrenmordes? Der Barmherzigkeit oder des brutalsten Terrors? Um die Lösung dieses Rätsels bemühen sich immer mehr Politiker weltweit. Denn es geht nicht nur darum, viele Menschen vor Terror zu schützen. Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Finden Sie heraus, warum es zur Reform des Islam mehr benötigt als eine neue Interpretation des Korans und was der Preis ist, den wir dafür bezahlen müssen.Kurt Beutler ist Theologe und Islamkenner. Er arbeitet als interkultureller Berater und hat zahlreiche Bücher und Artikel zu den Themen Islam und Koran veröffentlicht. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Zürich.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783775174695
Teil 1, Die Rätsel des Islam
DIE RÄTSEL DES ISLAM Teil 1

GOTTESBILD

Die Türangel des Islam

Die Reformation des Christentums geschah vor 500 Jahren. Sie kam nicht daher, dass die Mächtigen beschlossen, gewisse Dinge zu verändern. So eine Entscheidung hätte nur geringe Auswirkungen gehabt. Es ging auch nicht darum, ein paar Bibelverse anders auszulegen. Der riesige Erfolg war nur deshalb möglich, weil die Reformatoren sich darauf berufen konnten, dass sie das ursprüngliche Christentum wiederentdeckt hatten. Es waren Theologen, Priester, Mönche und Doktoren der katholischen Theologie, welche die Reformation auslösten. Auch die Reformation des Islams kann nicht von außen kommen. Sie muss aus der islamischen Theologie selbst geboren werden, wenn sie Faszination und Überzeugungskraft haben soll. Deshalb müssen wir mit der Frage beginnen, was das Herz des Islams ist. Nur wenn wir den Angelpunkt finden, um den sich alles dreht, ist eine Reformation möglich.
So wie in vielen anderen Religionen geht es im Islam letztlich um Gott. Er ist der zentrale Inhalt, um den sich alles dreht. Die entscheidende Frage ist daher, welche Kerneigenschaft den Gott des Islams prägt. Wer einen muslimischen Freund fragt, wird vielleicht die Antwort erhalten: »Gott ist nur einer.« Dies ist tatsächlich ein wichtiges Bekenntnis. Die absolute Einheit Gottes ist ohne Zweifel sowohl in der islamischen Theologie als auch im Volksglauben zentral. Allerdings fällt auf, dass dieser Satz im islamischen Gebetsrhythmus kein einziges Mal vorkommt. Was sich dagegen dort mehrfach findet, ist das Bekenntnis »Allahu akbar«, das bedeutet: »Gott ist größer«, auch wenn es oft fälschlich mit »Gott ist groß« übersetzt wird.
Ganze vierzigmal pro Tag wird »Gott ist größer« von den Minaretten über die Häuser und Dächer der muslimischen Länder ausgerufen. Während der 17 Gebetsgänge, die einem Sunniten vorgeschrieben sind, wiederholt er das Bekenntnis »Allahu akbar« mindestens 68-mal.
Das Bekenntnis »Allahu akbar« während des islamischen Gebets wird »Takbir« genannt. Die vier bis heute anerkannten sunnitischen Rechtsschulen Schafiten, Hanafiten, Malekiten und Hanbaliten geben zwischen 10 und 19 Bedingungen dafür an, dass ein Takbir vor Gott gültig ist. Dazu gehört, dass es auf Arabisch gesprochen werden muss, dass der Sprechende sich dabei in Richtung Mekka (Qibla) wendet und korrekt steht, dass er keine zusätzlichen Worte und keine längere Sprechpause zwischen »Allah« und »akbar« einfügt, dass er das erste A von »Allah« nicht dehnt1 und beide Worte korrekt ausspricht, dass der Betende die Worte laut genug sagt und sie im Laufe des rituellen Gebetes an der richtigen Stelle gesagt werden und dass das Takbir nicht gleichzeitig mit dem Imam (Vorbeter) ausgesprochen wird, sondern zeitlich etwas verschoben.2
Die Aussage, dass Gott größer als alles andere ist, beinhaltet automatisch, dass er nur einer sein kann. Wenn er größer als alle anderen ist, kann es weder einen Gleichwertigen noch einen ihm Überlegenen geben. Jeder andere kann also per Definition nicht auf derselben Stufe sein. Dies beinhaltet auch, dass er vor allen war, abgesondert und ohne Anfang. Wenn er größer ist als die anderen, dann muss er automatisch der Erste sein. Er ist aber auch der Letzte, denn wenn alle Menschen gestorben sind, ist er immer noch da. Der Gott, der größer ist als alle anderen, ist sowohl der Innerste als auch der Äußerste. Wenn nämlich irgendein Wesen weiter innen oder außen sein könnte als er, so wäre er nicht mehr der Größte. Der berühmte islamische Gelehrte Al-Ghazali erklärt: »Nichts ist wie er und er ist wie nichts anderes. Maß umschreibt ihn nicht und Grenzen können ihn nicht fassen.« Er sitzt zwar gemäß Aussagen des Korans auf dem Thron, aber: »Der Thron trägt ihn nicht … Nein, er ist vielfach erhaben über den Thron und die Himmel, wie er auch vielfach über die Erde und ihre Feuchtigkeit hinausgehoben ist.« – »Er existiert in keinem Ding, so wie auch kein Ding in ihm existiert.« »In seiner Wesenheit gibt es nichts, was ihm gleicht.« »Er ist weit entfernt von Wechsel des Zustands und des Ortes. Ereignisse haben nicht Raum in ihm und Unstimmigkeiten befallen ihn nicht.«3
»Allahu akbar« bedeutet gemäß einer Überlieferung von Abu Darr al-Gifaryy bei At-Tirmidhi auch, dass die Menschen Gott weder schaden noch nützen können, dass sein Reich weder durch die Frömmigkeit der Gläubigen größer noch durch die Sünden aller Lebewesen geschmälert wird und dass alle Gaben, die Gott verschenkt, nicht dazu führen, dass ihm etwas fehlt.4
Allah ist also schöner als jeder irdische Anblick, weiser als die größten Philosophen und brillantesten Wissenschaftler und mächtiger als Atombomben. Er spricht leiser, als Menschen denken, und doch lauter, als jede irdische Stimme es vermag. Er versteht, was für die Menschen ewig ein Rätsel bleiben muss, und tut daher notwendigerweise Dinge, die wir nicht verstehen können. Dies schließt gemäß Al-Ghazali auch die schweren Seiten des Lebens ein: »Er ist in der Lage, seinen Geschöpfen verschiedene Strafen aufzuerlegen und sie mit verschiedenen Arten von Krankheit und Schmerz zu prüfen. Wenn er dies tut, ist es Gerechtigkeit von seiner Seite, nicht eine schlechte Tat und ein Unrecht von ihm«. Seine Gedanken sind größer als das Denken der Menschen, die in ihren Leiden Ungerechtigkeit zu finden meinen. Der Gedanke, Gott anzuklagen oder seine Motive zu bezweifeln, ist für einen Muslim nicht zulässig, denn damit würde Allah auf die menschliche Ebene herabgezogen. Er gehört jedoch nicht in eine Kategorie, über die gerichtet wird.

Wenn Worte versagen

»Preis sei Allah! (Er ist hocherhaben) über alles, was sie (über ihn) aussagen« (Sure 37:159). Dieser Koranvers zeigt einen weiteren Aspekt dessen, was »Allahu akbar« bedeutet. Wenn Gott größer als alles ist, was es gibt, dann muss er notwendigerweise auch größer als alle menschlichen Worte sein. Damit wird es unmöglich, ihn zu beschreiben. Die Menschen sind zwar gezwungen, über Gott zu sprechen, und dazu benutzen sie notwendigerweise die ihnen bekannten Wörter, welche von menschlichen Eigenschaften ausgehen. Aber diese sind zu gering, als dass sie aussagen könnten, wie Allah wirklich ist. Kein Theologe, kein Gottesmann kann ihn letztlich in Worte fassen. Und doch ist es genau dies, was die Zusammenstellung der »99 schönsten Namen Allahs« versucht. Zwar sind diese dem Koran entnommen, der nicht als Menschen-, sondern als unerschaffenes Gotteswort gilt, aber auch der Koran bedient sich einer irdischen Sprache. Einerseits hat er nach der islamischen Lehre schon seit Ewigkeit im Himmel existiert, andererseits liegt er in Arabisch vor, und zwar in dem Dialekt, der vor 1 400 Jahren in Mekka gesprochen wurde und viele persische, aramäische sowie koptische Lehnwörter enthält.
Gemäß Sure 7:180 verlangt Allah, dass die Gläubigen ihn in seinen »schönsten Namen« (Al-Asma’u-l-husna) anrufen. Dass es gerade 99 sind, ist kein Zufall. In den Hadithen steht: »Allah hat 99 Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, geht ins Paradies.«5 Der hundertste Name soll gemäß einer unter Muslimen verbreiteten Auffassung unaussprechbar und den Menschen unbekannt sein. Damit wird auf andere Art das Gleiche wie in Sure 37:159 ausgedrückt: Dass man letztlich mit irdischen Worten Allah nicht ganz beschreiben kann. Auch wenn der Koran weit über hundert Namen enthält: Die Liste darf nur 99 aufzählen. Einer muss fehlen, damit niemand meinen könnte, Gott ganz erkannt zu haben.
Man kann die Liste auf verschiedene Arten lesen. Eine Möglichkeit ist, sich völlig auf das Auswendiglernen zu konzentrieren und die Namen unendlich viele Male zu wiederholen, indem man zugleich die 33 Kugeln der traditionellen Gebetskette durch die Finger gleiten lässt. Besser wäre es allerdings, bei jedem einzelnen Namen respektvoll zu verweilen und sich Gedanken darüber zu machen, was es bedeutet, einen Gott zu haben, der diese Eigenschaften besitzt. Noch weiter gehen die sogenannten Sufis, die islamischen Mystiker. Ihr Ziel ist es, sich diese Eigenschaften Allahs selbst anzueignen. Zu diesem Zweck haben verschiedene Orden unterschiedliche Techniken entwickelt.
Es ist möglich, einfach jeden Namen gesondert zu betrachten, ohne sie miteinander zu vergleichen. Wer sich jedoch tiefere Gedanken über die Bedeutungen macht, der trifft auf eine Schwierigkeit: Die verschiedenen Namen umfassen teilweise widersprüchliche Eigenschaften. So ist Allah gemäß dieser Liste nicht nur »der Nützliche«, sondern auch »der Schädliche«, nicht nur »der Vergeber«, sondern auch »der Rächer«, nicht nur »der Förderer« oder »Vorwärtsbringende«, sondern auch der »Hinderer« oder »Verzögerer«, nicht nur »der Gnädige«, sondern auch »der Richter«, nicht nur »der Zusammenziehende«, sondern auch »der Ausbreitende« nicht nur »der Versorger«, sondern auch »der Hinderer der Versorgung« (Al Qabid).
Prinzipiell sind widersprüchliche Eigenschaften kein Problem, wenn es nur darum geht, gewisse Taten zu beschreiben. Man könnte sagen, dass Allah auf unterschiedliche Situationen verschieden reagiert. Beispielsweise mag er jemanden zu dessen Ermutigung fördern, ein anderes Mal dagegen am Vorwärtskommen hindern, damit er nicht etwa stolz werde. Allerdings erscheint es unmöglich, dass jemand in derselben Situation hindert und zugleich fördert.
Über die Frage, wie die 99 Namen zu verstehen sind, erhob sich in der islamischen Theologie schon vor mehr als tausend Jahren ein großer Streit. Die Partei der sogenannten Mutaziliten6 befürchtete, dass Allah für das Böse verantwortlich gemacht werde. Sie wollten nicht akzeptieren, dass negativ klingende Wörter wie »der Stolze«, »der Unterdrücker«, der »Tötende« Gottes Eigenschaften beschreiben sollten. Außerdem bekämpften sie die Lehre der Vorherbestimmung. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Allah das Böse ebenso planen könnte wie das Gute. Weiter lehrten sie, dass der Koran zwar das Buch Gottes sei, aber nicht seit Ewigkeit existiere. Er sei eines Tages erschaffen worden, denn sonst müsste er ja ein zweiter Gott neben Allah sein.
Unter drei Kalifen7 wurde die freiheitliche Lehre der Mutaziliten sogar zur Staatsreligion erhoben. Die Anhänger der Gegenpartei wurden in Ketten gelegt und gefoltert. Der Berühmteste unter diesen war Ahmed ibn Hanbal.8 Er wurde nur deshalb nicht getötet, weil die Kalifen einen Volksaufstand befürchteten, denn die Lehre der Mutaziliten war hauptsächlich bei einigen Gelehrten verbreitet, während das Volk in ihr einen Verrat am Islam sah.
Schließlich sah sich der Kalif Mutawakkil gezwungen, wieder die konservativen Lehren anzuerkennen. Es gewann die Partei, welche in allen göttlichen Namen ewige Eigenschaften eines unveränderlichen Gottes sah, sogar in denjenigen, die ihm das Böse zu unterstellen scheinen. Das überrascht nicht, denn wer den Koran genau liest, erhält tatsächlich den Eindruck, dass mit der wiederholten Erwähnung der göttlichen Namen nicht sein Handeln in bestimmten Situationen, sondern sein unwandelbarer Charakter betont werden soll. Allah muss also jederzeit zugleich sowohl »Förderer« als auch »Verzögerer« sein, sowohl »der Erschaffer des Lebens« als auch »der Tötende«.
Wenn man lediglich mit der Vernunft argumentiert, sind die Ideen der Mutaziliten naheliegend. Sie lehrten auch, dass die Theologen des Islams und der Koran hinterfragbar sein müssten. Dem hielt die Mehrheit der Muslime die Unabänderlichkeit des heiligen Buches entgegen: »Er ist ein herrlicher Koran, auf wohlverwahrter Tafel« (Sure 85:22). Man könnte argumentieren, dass dieser Vers nichts Klares darüber aussagt, ob der Koran seit Ewigkeit existiert, und auch andere Verse, die für die Unerschaffenheit des Korans angeführt werden, sind alles andere als deutlich.9 Trotzdem hatten die Mutaziliten mit ihrer freiheitlichen Lehre über die Erschaffenheit des Korans auf die Dauer keine Chance. Sie wurden als Irrlehrer betrachtet, weil sie die Vernunft über den Koran stellten und heikle Verse anzweifelten. Ihnen erschien dies als der einzige Weg, die Widersprüche des Korans aufzulösen.
Eine ähnliche Position vertritt heutzutage beispielsweise der ägyptische Professor Nasr Hamid Abu Zaid, der (in bescheidenem Maß) historisch-kritische Betrachtungsweisen in die Auslegung des Korans einfließen lässt. Er wurde deshalb als Apostat angeklagt und seine Frau wurde von ihm zwangsgeschieden, da gemäß dem islamischen Gesetz keine muslimische Frau mit einem »Abgefallenen« verheiratet sein darf.
Dies ist nur ein kleines Beispiel für die vielen Verfolgungen, welche freiheitlich denkende Muslime über die Jahrhunderte erleiden mussten. Sie erlangten selten wieder einen wirklich größeren Einfluss. Zwar hätten sie die einzelnen Punkte ihrer Lehre sehr wohl verteidigen können, zum Beispiel lassen sich für den freien Willen des Menschen genauso viele Koranverse anführen wie für die Vorherbestimmung durch Allah, aber es geht um ein viel tieferes Grundproblem. Sie wurden als Menschen wahrgenommen, welche die Vernunft über den Koran setzen und damit Götzendienst betreiben. Dass Allah größer ist, auch als die Vernunft, ist das Herz des Islams. Dagegen hatten sie auf die Dauer keine Chance.
Der Mensch kann sich vernunftgemäß vorstellen, dass Gott zugleich der Erste und der Letzte ist, weil er vor allen Menschen da war und noch sein wird, wenn sie alle gestorben sind. Dass er aber beispielsweise zugleich ein Wohltäter sein soll und jemand, der Menschen schadet, fällt uns schon viel schwerer. Automatisch beginnen wir dann, uns eine zeitliche Abfolge vorzustellen. Wir denken an Situationen, in denen er jemandem genützt, und andere, in denen er jemandem geschadet hat. Doch gemäß der Überzeugung einer Mehrheit der Muslime ist gerade dies nicht gemeint. Damit hätten wir die göttlichen Eigenschaften herabgewürdigt. Der wohl prägendste islamische Theologe Al-Ghazali hat viel über dieses Thema nachgedacht. Auch er kam zu dem Schluss, dass mit den 99 Namen gleichzeitige und bleibende göttliche Charaktereigenschaften gemeint seien. Gemäß Al-Ghazali bedeuten die 99 Namen »alles und nichts«. Der eine Name hebe den anderen wieder auf und eine Eigenschaft überdecke die andere. Die offensichtlichen Widersprüche, die in den 99 schönsten Namen zu finden sind, können und sollen aber seiner Meinung nach nicht wegdiskutiert werden. Denn gerade diese würden ja zeigen, dass Gott größer als alles Irdische sei. Er sei nicht gezwungen, so zu handeln, dass es in menschliche Vernunftvorstellungen passt. Gott stehe auch über jedem Widerspruch. Was aus menschlicher Perspektive widersprüchlich erscheint, müsse es für ihn nicht sein.

Rätsel rund um Allah

Nur das Kamel soll den hundertsten Namen Allahs kennen. Darum sei es so stolz und erhebe seinen Kopf überlegen und geheimnisvoll lächelnd hoch über alle Menschen – so lautet eine verbreitete Volksweisheit, die die Grundannahme über Gott im Islam treffend beschreibt: Ihn umgibt ein Geheimnis, das niemand ergründen kann. Der Charakter Gottes ist für den Menschen unergründlich, darin sind sich die meisten muslimischen Theologen einig. Das Einzige, was Muslime wirklich über Gott aussagen können, ist, dass er größer ist. Größer als alle Götzen, größer als Leben, Träume und Gefühle der Menschen und größer als alles, was diese über ihn sagen. Dass man letztlich nicht mehr als »Allahu akbar« über ihn sagen kann, klingt einerseits enttäuschend. Andererseits ist dies jedoch nicht wenig. Denn daraus leiten sich alle Lehren des Islams ab, einer Weltreligion, der unzählbar viele Menschen angehören.
Diese Aussage ist das Herzstück des Islams. Darum kann es keinen Gott außer ihm geben, darum muss gemäß dem Koran auch sein Volk allen anderen überlegen sein und deshalb überflügelt sein Prophet alle vorherigen. Es ist nicht zuletzt die Andersartigkeit Allahs, dieses unlösbare Rätsel rund um den Charakter Gottes, welche die Gläubigen fasziniert. Als Al-Ghazali sagte, dass die 99 Namen »alles und nichts« bedeuten und sich gegenseitig überdecken, muss er sich bewusst gewesen sein, dass diese aus dem Koran, dem heiligsten Buch des Islams, kommen. Natürlich wollte der große Theologe damit nicht behaupten, dass der Koran Widersprüche enthalte. Er sah in den darin enthaltenen gegensätzlichen Namen Gottes vielmehr einen Hinweis auf die unendlich überlegene Persönlichkeit Allahs. Für Menschen mag es unvorstellbar sein, dass der Heilige Koran seit Ewigkeit unerschaffen im Himmel vorhanden gewesen sein soll, während viele seiner Verse nur aufgrund konkreter Lebenssituationen Mohammeds verstanden werden können. Wir können mit unserer Logik auch nicht vereinbaren, wie Allah zugleich Menschen in die Irre führt und sie dann dafür in der Hölle straft (Sure 17:97). Dass er Rache befiehlt und zugleich zu Vergebung aufruft, unser Leben vorherbestimmt und uns zugleich den freien Willen lässt, sind für uns Überforderungen. Aber für ihn ist nichts davon ein Problem. Er ist größer als dies alles und weder auf das eine noch auf das andere angewiesen.
Auf Menschen bezogen gilt »listig« als eine negative Eigenschaft. Im Duden finden sich zu diesem Wort Synonyme wie »schlitzohrig«, »gerissen«, »durchtrieben« oder »verschlagen«. Und doch wird Gott in Sure 3:54 als listig (makr) bezeichnet. »Sie waren listig. Und Allah war listig. Gott ist der Beste aller Listigen.« Wenn er größer ist als alle anderen, dann muss er auch listiger als die listigsten Menschen sein. Die Lösung dieses Rätsels ist nicht, zu behaupten, »listig« bedeute im Arabischen etwas anderes als in anderen Sprachen, denn das ist ganz einfach nicht wahr. Aus welchem Grund »der Listige« nicht in die Liste der 99 schönsten Namen Allahs aufgenommen wurde, ist uns nicht bekannt. Doch im Koran ist diese Bezeichnung vorhanden. Man könnte sich fragen, wie sich diese Eigenschaft mit dem göttlichen Namen »die Gerechtigkeit« (adl) verträgt, denn gemäß der allgemein gültigen Bedeutung ist der Listige jemand, der nicht Gerechtigkeit sucht, sondern andere Menschen mit un...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Das Rätsel
  7. Teil 1 | Die Rätsel des Islam
  8. Teil 2 | Die Lösung des Rätsels
  9. Nachwort
  10. Anmerkungen
  11. Leseempfehlungen