Ich bin so frei
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Ich bin so frei

Abgeschminkt, vernarbt und wunderschön

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ich bin so frei

Abgeschminkt, vernarbt und wunderschön

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wie kann ein Mensch, der sich in seinem Leben beengt oder sogar fehl am Platz fühlt, ein "Ja" zu sich selbst finden?Ille Ochs lädt auf eine heilsame Reise durch menschliche Geschichten ein, die Wege aus dem Gefängnis aus Angst und Erdrückung in eine kraftvolle Lebendigkeit aufzeigen. Sie zeigt Möglichkeiten, wie Lebenslügen entlarvt und fehlgeleitete Ansprüche an uns selbst entmachtet werden können. Und sie eröffnet Perspektiven zu einem Leben, in dem wir uns annehmen und entfalten können.

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II. Ins eigene Leben finden
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Das Ungeliebte annehmen

Ich befinde mich in einer Gesamtschule, in der ich ein Freizeitprojekt anbiete. Heute nehmen nur drei Schüler daran teil. Leon fühlt sich im Vergleich zu seinen Mitschülern minderwertig. Nicht nur, dass er einen Kopf kleiner ist als sie, er ist auch nicht so gelenkig, um sich wie sie in nahezu akrobatischem Breakdance auf dem Boden zu bewegen. Sein Standardsatz lautet: »Ich kann das nicht!« Seine Methode: Rückzug und Vermeidung.
Ich mache Leon einen Vorschlag: »Wenn ich jetzt Musik einspiele, stell dich einfach mal hin, schließ deine Augen und warte, ob vielleicht irgendeine Bewegung kommt, und wenn es nur der kleine Finger ist. Lass sie einfach entstehen. Wir anderen passen auf, dass du nirgendwo anstößt.«
Die Musik läuft, es passiert längere Zeit nichts. Die anderen beiden Jungen fangen schon an zu kichern. Doch schließlich beginnt Leon mit ganz kleinen, zaghaften Bewegungen. Angefeuert durch seine Mitschüler wird er immer mutiger und tanzt frei und wild mit geschlossenen Augen. Die anderen Jungen bieten ihm den Schutzraum – ein guter Lerneffekt – und klatschen Beifall.
Am Schluss bedankt Leon sich bei mir und sagt mit strahlendem Gesicht: »Ich wusste gar nicht, dass ich das kann.«
Genau das ist es, was wir Menschen brauchen, um unser Potenzial zu entfalten: erstens einen Schutzraum, in dem wir gehalten werden, auch wenn wir Fehler machen und Gefahr laufen, die Richtung zu verlieren, und zweitens das »Anfeuern«, die Bestätigung und die Ermutigung.
Wie viel mehr braucht es ein kleines Kind, das noch ganz und gar abhängig ist von seiner Bezugsperson. In der Bindung an diese Person lernt es ganz allmählich, sein eigenes Ich zu finden. Im Gesicht der Mutter, das es anschaut, sieht es die Stimmungen und Gefühle, schaut es wie in einen Spiegel, nimmt die Mimik wahr und erkennt damit allmählich sich selbst. Wie wunderbar ist es, sich ganz und gar ohne Wenn und Aber angenommen und geliebt zu fühlen.
Als wir in lockerer Runde in unserer Ausbildungsgruppe zusammensitzen und miteinander plaudern, berichtet eine Mutter von einem Erlebnis am frühen Morgen. Ihre beiden kleinen Kinder sind zu ihr ins Bett gekrochen, so wie sie es an jedem Morgen tun.
Plötzlich fragt das Mädchen: »Mama, hast du mich gewollt, hast du mich ausgesucht?«
Die Mutter antwortet: »Aber ja, klar wollte ich dich, dich und keine andere.«
Darauf sagt das Mädchen: »Ich wollte auch nur dich als Mama haben. Als du gekommen bist, um dir ein Kind auszusuchen, habe ich ganz laut gerufen: Ich, ich, ich!«
Was für eine schöne Geschichte! In der Runde unterhalten wir uns weiter über bedingungslose Liebe. »Ich liebe meine Kinder«, sagt die Frau, »auch dann, wenn ich mich über sie ärgere, auch wenn sie manchmal unausstehlich sind. Meine Liebe ist immer da!« Wie schön!
Wie anders war es bei Britta, die mir erzählt, dass sie nie in ihrem Leben von ihrer Mutter die Worte »Ich hab dich lieb« gehört hat. Als Erwachsene hat sie endlich den Mut zu fragen: »Mutti, hast du mich eigentlich geliebt?« Sie bekommt nur eine ausweichende Antwort: »Ach Kind, Liebe!« Diese Worte tun weh. Wie vielen Menschen ist es ähnlich ergangen? Nicht nur Kinder, die Gewalt erfahren haben, tragen Verletzungen davon. Nicht gesehen zu werden, keine Bestätigung zu bekommen, verletzt ein Kind zutiefst und wirkt sich auf das spätere Leben aus.

Unsere Identität und das Verletzte in uns

Identität meint vollständige Übereinstimmung. Das lateinische Wort »identitas« bedeutet »Wesenseinheit« und drückt aus, wer ich bin, was mich ausmacht und von anderen unterscheidet.9
Nun stellen Sie sich vor, ein verletztes Kind, das in seiner eigenen Identität verstört und verunsichert ist – innerlich im Stall, äußerlich aber auf der Rennbahn unterwegs –, trifft auf ein leistungsorientiertes System. Leider stoßen in unserer Gesellschaft unsere inneren Antreiber: »Ich muss es allen recht machen! Ich muss stark sein! Ich muss etwas leisten, um geliebt und anerkannt zu werden!«, auf offene Ohren. Das heißt, wir werden in unserer falschen Identität bestärkt. Auch in ein christliches Wertesystem passt diese Haltung hervorragend. Was passiert dann mit einem solchen zutiefst verunsicherten Kind?
Ich will Ihnen von Irene erzählen, die in ihrer Ursprungsfamilie keinen sicheren Ort hatte. Ihre Eltern glänzen hauptsächlich durch Abwesenheit, beide sind in ihrem Beruf sehr eingespannt. Irene lernt schon früh, sich selbst durchzuschlagen. Sie macht aber auch eine andere Erfahrung: »Wenn ich mich anstrenge und für meinen Papa arbeite, bekomme ich Lob und Anerkennung von ihm. Dann ist er stolz auf mich.« So wird sie sehr schnell zu einer kleinen Erwachsenen.
Dann lernt sie durch ihre Freundin eine Familie kennen, die ganz anders ist. Hier wird sie herzlich aufgenommen, erfährt Liebe und Geborgenheit. Bald werden die Bekannten ihrer Freundin eine Art Ersatzeltern für sie und eine wirkliche Anlaufstelle. Irene verbringt weitaus mehr Zeit mit dieser Familie als mit ihrer eigenen.
Es handelt sich um eine christliche, missionarisch sehr engagierte Familie. Daher lernt Irene nun auch die Bibel kennen, in der sie interessiert und höchst motiviert liest. »Ich wollte unbedingt alles richtig machen!«, erklärt sie mir heute. Irgendwann stößt sie auf einen Vers aus dem Lukasevangelium: »Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten. Denn welchen Nutzen hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder nähme Schaden an sich selbst?« (Lukas 9,23-25)
»Ich habe mich damals gefragt«, berichtet Irene, »was sich selbst verleugnen bedeutet. Da fiel mir die Geschichte von Petrus ein, der Jesus kurz vor seinem Tod dreimal verleugnet hat. Hier wird das gleiche Wort benutzt. Mein Fazit: Petrus hat so getan, als würde er Jesus nicht kennen. Genauso muss ich es machen. Ich muss so tun, als würde ich mich nicht kennen, als würde es mich gar nicht geben!«
Was für eine furchtbare Schlussfolgerung und was für ein fatales Missverständnis! In diesem Vers geht es ja gerade darum, sich selbst nicht zu verlieren, seine Seele nicht zu verkaufen, nur um »seine Haut« oder sein Hab und Gut zu retten. Jesus, der diese Aussage macht, ist sich selbst und seiner Berufung treu geblieben bis zum Tod. Doch wie sollte Irene diesen Text anders verstehen, da er doch nur ihre kindlichen Erfahrungen und Empfindungen bestätigte, die lauteten: »Ich werde nicht gesehen. Ich bin gar nicht da. Nur, wenn ich mich ganz doll anstrenge und alles richtig mache, dann werde ich wahrgenommen und sogar gelobt.« Das übertrug sie nun auch auf Gott. Die Antennen waren nach außen ausgefahren. Der Kontakt zu ihr selbst fehlte.
Irene ist auch als Erwachsene noch im Außen unterwegs, hat keinerlei Zugang zu dem verletzten kleinen Mädchen, das tief in ihr nach Liebe und Anerkennung schreit. Es ist verheerend, wenn dieses kleine Mädchen dann auch noch hören muss: »Mach Platz für Jesus, stell ihn an die erste Stelle deines Lebens, dann ist alles gut.« Nein, nichts ist gut. Jesus möchte das kleine Mädchen nicht ersetzen, er will es heilen, tröstend in die Arme schließen und ihm sagen: »Es ist so schön, dass es dich gibt. Ich bin stolz auf dich.«
Leider ist Irene kein Einzelfall. Verletzte, in ihrer Identität verunsicherte Menschen sind regelrechte Meister darin, alles gegen sich selbst auszulegen. Leider können Bibelworte erheblich zu dieser Sichtweise beitragen. Ich selbst habe sie lange genug durch den Filter meiner Selbstverachtung gelesen. So trafen sie voll ins Schwarze. Wie sagte schon der Kirchenvater Augustinus? »Das Wort Gottes ist der Gegner deines Willens, bis es der Urheber deines Heils wird. Solange du dein eigener Feind bist, ist auch das Wort Gottes dein Feind. Sei dein eigener Freund, dann ist auch das Wort Gottes mit dir im Einklang.«10
Rein äußerlich betrachtet – in Feindschaft zu mir selbst – scheint tatsächlich alles gut zu sein, wenn wir uns selbst verleugnen, wie Irene es tat. Es funktioniert. Ich begegne nicht meinem inneren Schmerz. Auf diese Weise, indem ich nach außen funktioniere, halte ich mein Inneres Kind ruhig, muss mich nicht mit ihm auseinandersetzen.
Wenn wir das Wort Identität auf diesem Hintergrund anschauen, erkennen wir jedoch, dass hier etwas ganz und gar nicht deckungsgleich ist. Da passt etwas nicht zusammen. Ich bin in mir selbst zerteilt, gespalten. Ich bin förmlich auseinandergerissen, deshalb reiße ich mich zusammen! »Zusammenreißen« – was für ein seltsames Wort. Es ist unvorstellbar, etwas zusammenzureißen. Man reißt es doch auseinander und nicht zusammen. Ein Synonym für zusammenreißen ist das Wort »zurückhalten« oder »an sich halten«.
In einem Tanzworkshop sagte mir einmal ein Teilnehmer, der während einer Einheit, die ihm sehr naheging, für kurze Zeit den Raum verlassen hatte: »Ich will hier nicht losheulen.« Man spürte förmlich, wie er an sich hielt, nach außen die Tür verschloss. Das musste er, damit das Abgerissene in ihm, das Zerrissene nicht zum Vorschein kam. Er musste sich zusammenreißen.
Oder musste er es vielleicht doch nicht? Im Tanzworkshop hätte er sich zeigen dürfen. Selbstverständlich braucht es dafür einen geschützten Raum, einen sicheren Boden, und in diesem Seminar war genau dieser vorhanden. Dennoch verstand ich ihn nur allzu gut, denn es gab hier viele Weggefährten von ihm, Menschen, die ihn kannten. Was würden die nun denken, wenn sie plötzlich etwas zu hören oder zu sehen bekamen, was sie bei dieser Person nie vermutet hätten? Es ist ungeheuer schwer, echt und ehrlich zu sein. Und so verstecken wir unsere ungeliebten Seiten nicht nur vor den anderen, sondern letztlich auch vor uns selbst, indem wir leugnen, dass es sie gibt. Da kann es manchmal hilfreich sein, wenn Menschen uns mit der Nase darauf stoßen, selbst wenn es vielleicht zunächst ausgesprochen platt erscheint.

Die Sache mit der Scham

Nach einem Gottesdienst komme ich mit einer Pfarrerin ins Gespräch und berichte ihr von einem Problem, das ich habe. Ein Satz von ihr treibt mich danach mächtig um: »Ille, ich glaube, du hast noch nicht alle Teile deiner Persönlichkeit angenommen!«
Das sitzt. Doch was meint sie damit? Immerhin habe ich schon eine große Wegstrecke meiner Aufarbeitung durch Seelsorge, Therapie etc. zurückgelegt, bin aus dem Käfig meiner Angst ausgestiegen. Was bitteschön soll ich denn noch nicht angenommen haben?
Im Laufe der Zeit entdecke ich allerdings, wie sehr ich trotz aller inneren Heilung, die ich bereits erlebt habe, immer noch mit der Frage beschäftigt bin, wie ich auf andere wirke. Sind sie zufrieden mit mir oder führen sie insgeheim eine Mängelliste? Nehmen sie mich ernst oder machen sie sich im Stillen über mich lustig? Das geschieht oft unbewusst, kann aber in irgendeiner Weise nach außen sichtbar werden.
Ein ganz simples Beispiel illustriert dies. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, vielleicht aber kennen Sie Ähnliches von sich selbst. Ich sitze in einem Seminar. Wir sollen uns der Reihe nach in ein paar kurzen Sätzen vorstellen. Je näher der Augenblick kommt, in dem ich an der Reihe bin, desto schneller schlägt mein Puls. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz sich nicht mehr in meiner Brust befindet, sondern sich in meinen Hals verlagert hat, direkt an meine Kehle. Es droht jeden Augenblick herauszuspringen. Das ist sehr unangenehm, aber noch nicht allzu schlimm, da die anderen es ja nicht mitbekommen. Doch dann spüre ich eine unangenehme Hitze, die mir allmählich über den Hals ins Gesicht steigt. Mein Kopf glüht. Und spätestens jetzt wird mir klar: Mein Zustand lässt sich nicht mehr vor den anderen verbergen, meine Gesichtsfarbe ist für alle sichtbar, dunkelrot gleich einer Tomate.
Mit dieser Reaktion bin ich bei Weitem nicht allein, das weiß ich. Nicht wenige Menschen haben damit Probleme. Wie oft schon habe ich bei Referenten hektische rote Flecken am Hals bemerkt. Und doch leide ich darunter, dass ich rot werde, denn ich kenne diese Situation von der Schule: Ein Lehrer spricht mich an, ich werde rot, die Klasse lacht und lästert über mich.
Mir ist klar, woher diese Scham kommt, die sich auf meinem Gesicht abzeichnet. Als kleines Mädchen bin ich durch den sexuellen Missbrauch zutiefst beschämt worden. Diese kranke Scham hat mich lange Zeit begleitet, aber auch in anderen Situationen habe ich Beschämung erfahren.
Der Gründer und ehemalige Leiter der Taizé-Bewegung Frère Roger sagte einmal in einem Interview, dass er sich in der Begegnung mit Menschen immer die Frage stelle, durch wen oder was sie beschämt wurden. Viele, vielleicht die meisten Menschen haben irgendwann in ihrem Leben Beschämung erlebt. Sexueller Missbrauch ist eine der größten Beschämungen überhaupt, weil die Grenze des intimen Raumes niedergetreten wird. Doch daneben gibt es viele andere Arten, Spott und Ironie zum Beispiel sind grausame Beschämungsmethoden. Hiermit meine ich nicht unbedingt die feine und gekonnte Ironie einer satirischen Sendung, obwohl auch hier manchmal Grenzen überschritten werden, sondern die Art von Sarkasmus, die sich boshaft auf Kosten anderer lustig macht, sie verhöhnt und erniedrigt.
Das Fatale: Wir können von Opfern zu Tätern werden. Ich selbst habe Ironie eingesetzt, um mich gegen den Spott anderer zu schützen. Sie war sozusagen meine Grenze. Während meiner theologischen Ausbildung hatte ein Kommilitone oft einen Spruch parat: »Ille am Morgen, Sarkasmus aufs Brötchen!« Er hatte recht. Das war meine Waffe. So werden Beschämte zu Beschämern.
Beschämung ist auch, wenn es sogenannte doppelte Botschaften gibt. Wenn man ein Lob ausspricht, das in Wahrheit ironisch gemeint ist, und die Empfänger die darin versteckte Ironie gar nicht mitbekommen und so zum Lacher für die Anwesenden werden.
In meinem ersten Jahr auf dem Gymnasium gibt uns die Lehrerin im Fach Handarbeiten, das ich mein Leben lang gehasst habe, die Aufgabe, eine Blumenampel aus Bast zu flechten. Sie stellt uns das Protomodell vor und erklärt die Arbeitsgänge. Am Tag des Abgabetermins bin ich mit meinem Exemplar zur Schule unterwegs, habe allerdings ein mulmiges Gefühl im Bauch, denn meine Blumenampel entspricht so gar nicht dem Modell der Lehrerin. Sie hat eine völlig andere, weit ausladende Form. Mir gefällt sie, was aber wird meine Lehrerin dazu sagen?
Als die Lehrerin mein Werk betrachtet, hält sie es hoch und zeigt es der Klasse mit den Worten: »Es sieht ganz anders aus, ist aber wirklich ein schönes Stück und irgendwie besonders!«
Ein Gefühl von Stolz steigt in mir auf, denn ich nehme das Lob der Lehrerin für bare Münze. Dass es in Wahrheit ironisch gemeint war, bekomme ich erst mit, als sie die Zensuren vorliest. »Strauch: sechs!«, ertönt es durch die Klasse.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Fortan bin ich verunsichert im Umgang mit dieser Lehrerin. Kann ich ihr trauen, kann ich mir selbst trauen, wenn ich etwas anders mache, als sie es erwartet? Ist es dann gut oder ist es schlecht?
Eine Beschämung trifft uns in unserer Würde und Identität, verunsichert zutiefst und kann je nach Schwere Folgen für das ganze Leben haben.
Doch zurück zu meinem Errötungsproblem: Ich selbst habe inzwischen so viel Heilung erlebt, deshalb frage ich mich: Warum werde ich immer noch rot? Manchmal ist die Angst davor so groß, dass ich erst recht rot werde.
»Ich will das endlich weghaben!«, sage ich einmal genervt zu meiner Therapeutin.
Doch die antwortet mir: »Nimm es an, lass es zu. Je mehr du dagegen ankämpfst, desto weniger wird es verschwinden.«
Zugegeben,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Über die Autorin
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Vorwort
  7. Einleitung
  8. I. Im Käfig zurückgelassen
  9. II. Ins eigene Leben finden
  10. III. Gelebte Freiheit
  11. IV. Gelebte Spiritualität
  12. Schlusswort und Dank
  13. Anhang