1 Einführung und Überblick
1.1 Einführung und Problemstellung
Seit längerer Zeit zeigen zahlreiche Umfragen, dass die meisten Bürger
1 mit den politischen Prozessen und ihren Ergebnissen unzufrieden sind (
Kap. 2.3.9). Sie fühlen sich von den Politikern und den Parteien unzureichend verstanden, nicht adäquat repräsentiert und auf einigen Feldern zudem mangelhaft regiert. Viele Bürger kritisieren die fehlende Lösung zahlreicher Probleme, die langfristiger Natur und teilweise seit Jahrzehnten absehbar sind, die die kurzfristig orientierten Parteipolitiker aber offenbar überfordern. Dazu gehören unter anderem die gravierenden Klima- und Umweltprobleme, die Vernachlässigung der Infrastruktur bei Verkehr, Telekommunikation und Energie, die Probleme durch Demografie und Alterssicherung im weitesten Sinne, die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität etc. An verbalen Bekundungen mangelt es dabei nicht, wohl aber an effektiver Umsetzung in angemessenen Zeiträumen. Aus Sicht vieler Bürger geht es oft weniger um ideologische Unterschiede zwischen einzelnen Parteien, sondern vielmehr um die Performance der Politiker insgesamt.
Die Bürger haben zwar eine positive Einstellung zur Demokratie, aber nicht zu den vorhandenen Politikern und Parteien. Die Bürger haben das Gefühl, selbst nur einen geringen Einfluss auf die Politik zu haben. Sie wünschen sich mehr Partizipation. Die empfundenen Mängel werden primär den gegenwärtigen Parteien und Politikern angelastet. Allerdings basieren die eigentlichen Ursachen oft auf tieferliegenden Problemen, die aus dem politischen System resultieren. Die parteiendominierte Parlamentarische Demokratie zeigt dabei nicht nur immanente Funktionsmängel, sondern überfordert notwendigerweise auch die einzelnen Politiker, wie engagiert und gutwillig diese auch sein mögen.
Vor dem Hintergrund einer latenten Unzufriedenheit in der Bevölkerung und allerlei alarmistischer Kommentare über den Zustand und die Gefährdung unserer Demokratie in den Medien ist es erstaunlich, dass es in Deutschland zwar Detailerörterungen, aber bisher kaum grundsätzliche Diskurse gibt, die alle institutionellen Elemente des demokratischen Systems auf den Prüfstand stellen. Dieses wird weitgehend als Tabu betrachtet anstatt es ergebnisoffen zu analysieren und evtl. auch weitreichende Reformoptionen zu diskutieren. An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an. In ihm werden die Konstruktionsfehler und Unzulänglichkeiten der institutionellen Strukturen unserer Demokratie grundlegend analysiert und weitreichende Reformalternativen vorgestellt.
Im Mittelpunkt stehen dabei die Darstellung und die Diskussion einer Reihe konstruktiver Vorschläge, die zusammenfassend als »Demokratische Reformkonzeption« bezeichnet werden.2 Diese beabsichtigt einerseits, wirksamere Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger zu schaffen und andererseits die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Institutionen des Staates zu verbessern. Dies lässt eine höhere Akzeptanz »der Politik« und eine Stärkung der Demokratie erwarten.
In diesem ersten Kapitel werden zur Einführung und zum Überblick für die Leser die fünf Hauptprobleme der gegenwärtigen Parlamentarischen Demokratie und die wichtigsten Reformelemente skizziert. Anschließend wird eine knappe Übersicht über die Kapitel gegeben. Die fünf Hauptprobleme sind
(1) Wenig politische Partizipation der Bürger,
(2) Funktionsprobleme des Regierungssystems,
(3) Übermacht der Parteien,
(4) Rekrutierung des politischen Führungspersonals und
(5) mangelnde Information und mangelnde Nachhaltigkeit.
(1) Wenig politische Partizipation der Bürger
Die Teilhabe der Bürger an den demokratischen Entscheidungen des Staates wird üblicherweise als »politische Partizipation« bezeichnet (
Kap. 6.2). Dazu gehören die Beteiligung an Wahlen und Volksabstimmungen und die personelle Partizipation, das heißt die Parteimitgliedschaft und die eigene Ausübung von politischen Ämtern, insbesondere in Form von Abgeordnetenmandaten. Ferner zählen dazu die persönlichen Aktivitäten in Bürgerinitiativen, Protestbewegungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, bei Demonstrationen etc., die in unterschiedlicher Weise auf die Beeinflussung politischer Entscheidungen abzielen.
Die tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger sind gegenwärtig erstaunlich gering, wenn man sie am Anspruch von Art. 20 Grundgesetz misst, wonach »alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen« soll. Dieser Anspruch ist zwar formaljuristisch erfüllt, wird aber inhaltlich nur ungenügend realisiert. Ein Beleg ist etwa die Tatsache, dass die Wähler weder einen Einfluss auf die Personen haben, die ihre
bevorzugte Partei als Abgeordnete ins Parlament entsendet (
Kap. 4.1.2) noch auf die Führungspersonen des Staates (z. B. die Bundesminister,
Kap. 3.2.4).
Die Zahl der Parteimitglieder nimmt ständig ab und ist inzwischen mit weniger als zwei Prozent aller Bürger sehr gering (
Kap. 2.3.7), wenn man bedenkt, dass die Parteien die zentralen Machtfaktoren der Politik sind und die Rekrutierungskanäle zu allen öffentlichen Ämtern dominieren. Noch wesentlich kleiner ist die Zahl der aktiven Parteimitglieder (0,3 % der Bevölkerung),
3 die an der Programmatik und an der Kandidatenauswahl für das Parlament mitwirken. Gleichzeitig sind die Zugangsbarrieren zur Mitgliedschaft im Parlament für Nichtparteimitglieder praktisch unüberwindbar. Volksabstimmungen finden recht selten statt und auf Bundesebene gar nicht.
Der Buchtitel Bürger an die Macht betont ein wesentliches Ziel der Reformvorschläge, nämlich den demokratischen Einfluss der Bürger auf die politischen Entscheidungen deutlich zu erhöhen.4 Die Demokratische Reformkonzeption sorgt erstens dafür, dass die Bürger deutlich mehr Möglichkeiten erhalten, mit dem Stimmzettel Einfluss zu nehmen. Zweitens werden neue, politisch relevante Gremien geschaffen, in denen die Bürger mitwirken können, ohne ihren Beruf aufzugeben. Drittens verschafft die Reformkonzeption den Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Gruppen mehr institutionell fundierte Möglichkeiten, politische Entscheidungen zu beeinflussen.
Wahlen zum Parlament
Die bei weitem wichtigste Partizipationsmöglichkeit und für viele Bürger gleichzeitig die einzige, die sie bisher selbst nutzen, ist die Beteiligung an den Parlamentswahlen. Durch ihre Zweitstimme können die Wähler die quantitative Zusammensetzung des Parlaments bestimmen, wenn man davon absieht, dass alle Stimmen für Parteien unterhalb der 5 %- Sperrklausel verloren gehen. Die kollektive Möglichkeit, die Größe der Fraktionen im Parlament zu bestimmen, ist für die Demokratie eminent wichtig. Sie ist tatsächlich aber auch schon das Einzige, was die Wähler beeinflussen können.
Entgegen anderslautenden Vermutungen haben die Wähler nämlich keinen Einfluss darauf, welche Kandidaten ihrer bevorzugten Partei als Abgeordnete ins Parlament gelangen (
Kap. 4.1.2). Insofern ist die übliche Bezeichnung »personalisierte Verhältniswahl« irreführend. Stattdessen ist das System der Doppelstimme (Erst- und Zweitstimme) des deutschen Bundestagswahl...