Teil 1
Vom Armutsideal bis zum Bauen von Hütten der Liebe
Frühe Theorien der Sozialen Arbeit
Einleitung
Wir Menschen sehen uns selbst im Unterschied zu anderen Lebewesen als vernunftbegabte und unserer selbst bewusste Lebewesen an. Als vernünftige Menschen müssten wir eigentlich aus unserer eigenen Geschichte und der Geschichte anderer Menschen lernen. Doch dies tun wir nicht immer, auch nicht im Bereich der Sozialen Arbeit. Selten wird die Geschichte der Menschheit erforscht, um zu erfahren, wie früher jeweils mit sozialen Problemen umgegangen worden ist. Genauso selten befassen wir uns mit den theoretischen wie auch praktischen Lösungsversuchen unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, um daraus für unsere Zeit zu lernen. Wir scheinen eher auf die Gegenwart fixiert zu sein und vernachlässigen darüber unsere Einbindung in die Geschichte. Oft wird davon ausgegangen, dass unsere heutige Situation und die gegenwärtige Art und Weise, über soziale Probleme nachzudenken, einmalig seien. Unsere Lebenssituation hat es zwar so, wie sie jetzt ist und wahrgenommen wird, noch nie zuvor gegeben, dennoch ist sie nicht völlig neu. Wenn wir nach dem Neuen fragen, dann sollten wir immer auch das Alte sehen. Dann würden wir auch sehen, dass das Alte nie so alt gewesen und das Neue nie so neu gewesen ist, wie es scheint (Hans-Georg Gadamer). Die Gegenwart ist immer das Ergebnis vorhergegangener Ereignisse. Die Vergangenheit vergeht nicht, sondern wirkt in die Gegenwart und in die Zukunft weiter. Probleme, die sich in der Gegenwart stellen, folgen oftmals nicht zuletzt aus früher praktizierten Problemlösungen.
Wenn man in der Sozialen Arbeit aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen will, ist zu fragen, bei welcher Zeitepoche man bei einem solchen Rückblick anfangen soll. Hierüber gibt es, je nachdem, wie Soziale Arbeit definiert wird, kontroverse Auffassungen. Ein weiter Konsens besteht unter TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit allerdings darin, dass die berufliche Soziale Arbeit mit der vom Frühkapitalismus produzierten Massenarmut ihren Anfang genommen hat (vgl. z. B. Mollenhauer 1959/1987; Staub-Bernasconi 1986; Böhnisch/Schröer 2011). Aufgrund dieser Festlegung gehen viele AutorInnen vom 19. Jahrhundert als Beginn der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Praxis aus. Wir schließen uns allerdings der davon abweichenden Auffassung an, dass bereits mit dem Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit (um 1450 bis 1500), näherhin mit der beginnenden Urbanisierung und sich verändernden Produktionsbedingungen, entscheidende Bedingungen für gegenwärtige soziale Probleme und damit auch für die berufliche Soziale Arbeit als Antwort auf diese Probleme in Europa entstanden sind (vgl. z. B. Scherpner 1974; Mollenhauer 1987). Die Auflösung der hochmittelalterlichen Gesellschaftsordnung führte zu frühen Formen des Kapitalismus und der Industrialisierung. Die Wurzeln heutiger Sozialer Arbeit in Theorie und Praxis reichen – aus unserer Sicht – daher bis in das hohe Mittelalter (Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts) bzw. in den Beginn des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert zurück (vgl. Sachße/Tennstedt 1980). Im 12. Jahrhundert wurden außerdem die europäischen Universitäten gegründet, an denen von Anfang an auch soziale Fragen bedacht worden sind (vgl. 1.1).
Ausgewählt haben wir sieben Autoren aus verschiedenen Ländern (Deutsches Reich, England, Frankreich, Italien, Schottland, Spanien/Niederlande, Schweiz) und aus unterschiedlichen Wissenschaften (Theologie, Philosophie, Pädagogik, Nationalökonomie, Recht, Medizin, Politik). Alle haben sich in ihrer Zeit mit der Lösung sozialer Probleme befasst und/oder waren aktiv daran beteiligt. Ihre Theorien und Programme haben für den europäischen Raum insgesamt wichtige Impulse für die Praxis der Sozialen Arbeit und für die Reflexion dieser Praxis gegeben. Die von uns getroffene Auswahl zeigt zugleich die disziplinären Orte, an denen in Europa Theorien zur Sozialen Arbeit entwickelt worden sind. Der Zeithorizont reicht vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Wir haben den zeitlichen und territorialen Kontext, in dem die Autoren gelebt haben, jeweils zu Beginn der Darstellung ihrer Theorien in der gebotenen Kürze beschrieben.
Auch wenn sich die hier vorgestellten Autoren nicht persönlich gekannt haben, haben untereinander vielfältige Verbindungen und Bezüge aufeinander bestanden. So hat zum Beispiel Vives (vgl. 1.2) die philosophischen und theologischen Lehrbücher von Thomas von Aquin (siehe 1.1) sehr gut gekannt und sich in seinen eigenen Arbeiten auch auf sie bezogen. Pestalozzi (vgl. 1.5) hat die Thesen Rousseaus (vgl. 1.3) zeitweise völlig übernommen und als Ausdruck seiner Verehrung seinen einzigen Sohn nach Rousseau benannt. Wichern (vgl. 1.7) kannte die Auffassungen von Pestalozzi. Smith (vgl. 1.4) hat die Arbeiten Rousseaus studiert und dessen Gedanken geschätzt und bei seiner eigenen Theoriebildung berücksichtigt. Malthus (vgl. 1.6) kannte als Zeitgenosse – mit denselben Studienfächern wie Smith – selbstverständlich die Werke von Smith und hat sich auch auf sie bezogen; beide haben in ihren Arbeiten – sehr verschieden – die Armengesetzgebung in Großbritannien kommentiert und bewertet sowie mit ihren Theorien auch beeinflusst.
Die hier vorgestellten „Theorien Sozialer Arbeit“ sind von ihren Autoren nicht ausdrücklich als „Theorien der Sozialen Arbeit“ verstanden und vorgelegt worden. Man kann und sollte sie daher aus heutiger Sicht als vorwissenschaftliche Theorien oder – wenn man das Wissenschaftsverständnis der jeweiligen Epoche zugrunde legt – als Teiltheorien im Rahmen von Gesamttheorien oder auch nur als sozialpolitische Programme ansehen. Im Übrigen betrachten wir die Texte der sieben Autoren mit ihren Reflexionen und Vorschlägen zur Bewältigung sozialer Probleme als eine umfangreiche Material- und Ideensammlung, die die heutige wissenschaftliche Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit und die Bemühungen, soziale Probleme zu bewältigen, unterstützen und bereichern kann.
1 Gott und den Nächsten lieben
Thomas von Aquin (1224 – 1274)
Thomas von Aquin ist, „versucht man ihn in unsere Gegenwart zu versetzen, klassische Apo, ein Aussteiger, ein Achtundsechziger – und er blieb einer, trotz übelster Verleumdungen, Drohungen, Boykotte“ (Heinrich Böll 1984, 41).
1.1 Historischer Kontext
Die Epoche, in der Thomas von Aquin lebt, bezeichnet die Geschichtswissenschaft als das „hohe Mittelalter“, das etwa von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts dauert. Mit dem 11. Jahrhundert beginnt in ganz Europa ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung. Günstige klimatische Voraussetzungen erhöhen die landwirtschaftliche Produktion. Sie geht einher mit einem deutlichen Bevölkerungswachstum und der Erschließung neuer bewirtschafteter Flächen durch Rodung von Wäldern. Die Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft ermöglicht eine Steigerung des Ertrags der bewirtschafteten Flächen. Gleichermaßen Grundlage und Folge der wirtschaftlichen Blüte in Europa während des Hochmittelalters sind die Ausdehnung des Handels und des Handwerks. Die Ausweitung der handwerklichen Produktion, das Entstehen gewerblicher Märkte und die Ausdehnung des Fernhandels bilden die Grundlage für Stadtneugründungen und für das Aufblühen der Städte (z. B. die „Hanse“ ab Mitte des 13. Jahrhunderts). Damit gehen eine Ausdifferenzierung der Aufgaben und der Befugnisse der Verwaltung, des Handels und des Handwerks und eine zunehmende Autonomie der Stadt und der Stadtbevölkerung (Patrizier, Zunftangehörige, Kaufleute) von den feudalen Besitz- und Rechtsverhältnissen der Stadtherren einher. Die Marktrechte werden zu Stadtrechten. Im Sozialgefüge des hohen Mittelalters stellen die Städte das vorwärtsdrängende Element dar. Denn im ländlichen Bereich bleiben die feudalen Grundstrukturen und die ständische Ordnung trotz aller Änderungen erhalten: Das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche System wird zwar noch wesentlich von der (Adels-)Herrschaft über Grund und Boden bestimmt, doch zu dieser Ausstattung des Adels als herrschender Schicht mit Landbesitz und damit verbundenen politischen, militärischen und gerichtshoheitlichen Vorrechten kommt im Hochmittelalter die zunehmende Feudalisierung von Ämtern. Ministeriale steigen damit aus der Schicht der Abhängigen zu edelfreien Rittern auf. Die Grundherrschaft (neben Adligen auch Bischöfe und Klöster) über Land und Leute sowie die genossenschaftlichen Ordnungen in den Gemeinden konstituieren sehr unterschiedliche dingliche und persönliche lehensrechtliche Bindungen (Treueverhältnis) zwischen den Beteiligten. Mit der Auflösung des alten Fronhofsystems (Villikation) werden die Untertanen zu Grundholden, die ihre Abgaben an den Grundherrn in Form von Zins- und Grundrenten vornehmen.
Kriege und Schlachten zerstören immer wieder ganze Landstriche und verursachen Leid und Not. Missernten, Hungersnöte, Seuchen, Feuer- und Wasserkatastrophen verursachen Armut, Elend und Tod. Die Abhängigen und Untertanen werden trotz Besserung der Lebensverhältnisse ausgebeutet und bleiben politisch ohnmächtig. Den wenigen Herrschern und Reichen stehen viele Beherrschte und Arme gegenüber. Das sind hörige Bauern, besitzlose Tagelöhner, Angehörige „unehrlicher Berufe“ (Spielleute, Huren), Witwen, Waisen, „Krüppel“, Kranke und Alte (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–30). Wo Bedürftige sozial und rechtlich in einen grundherrschaftlichen Familienverband oder in eine zünftig verfasste Handwerkerorganisation eingebunden sind, finden sie dort auch organisierte Hilfen. Den anderen bleibt nur die Unterstützung durch private „Liebestätigkeit“. Für kranke und alte Notleidende unterhalten die Kirche und die Orden in den Städten Hospize.
Thomas verbringt sein Leben überwiegend in Italien und Frankreich; im Deutschen Reich hält er sich nur während seiner Studienzeit in Köln länger auf. Zu Beginn des Hochmittelalters befindet sich das deutsche Kaisertum auf dem Höhepunkt der Macht. Das durch Reformen gestärkte Papsttum will nicht nur den politischen Einfluss der weltlichen Herrscher auf kirchliche Angelegenheiten zurückdrängen, sondern strebt selbst nach Weltherrschaft. Der Konflikt schwächt den deutschen Kaiser; ab Mitte des 13. Jahrhunderts verliert das Kaisertum beständig Macht an die Landesfürsten und Städte. Innerkirchlich schließen sich Gläubige im 13. Jahrhundert im Zuge einer Reformbewegung zur Vertiefung der Frömmigkeit zu (Bettel-)Orden zusammen und geloben, arm zu leben. Wegen der weltlichen Herrschaftsansprüche der Kirche wenden sich aber auch viele Gläubige von ihr ab und gründen eigene Glaubensgemeinschaften (z. B. die Katharer, Albigenser), um den evangelischen Idealen – vor allem dem Armutsideal – zu folgen. Die kirchliche Inquisition bekämpft mit Bann, Klosterhaft und Todesstrafe jede Form von „Häresie“ und „Sektierertum“. In dieser Zeit werden mehrere neue Orden gegründet, unter anderen auch die Dominikaner, denen sich der junge Thomas anschließt.
Bereits 100 Jahre früher ist die Unterwerfung der Slawen im Ostteil des Reiches weitgehend abgeschlossen (Ostkolonisation). In Italien erwerben die Städte in Nord- und Mittelitalien im Zuge der Auseinandersetzung des Papstes mit dem deutschen Kaiser zunehmend Autonomie. Von großer wirtschaftlicher Bedeutung für sie sind die Kreuzzüge, die das abendländische Christentum vom Ende des 11. bis Ende des 13. Jahrhunderts zur Befreiung des „Heiligen Landes“ aus den Händen des sich ausbreitenden Islams durchführt. Die Städte werden vielfach von ehrgeizigen Machthabern beherrscht, die den Einfluss der Stadt auf das Umland ausweiten, die wirtschaftliche Entwicklung fördern, die politische Ordnung demokratisieren. Das französische Königtum, das schon seit dem 10. und dann vor allem im 13. Jahrhundert an Macht gewinnt, schaltet die feudalen Partikulargewalten aus und wendet das Lehensrecht konsequent an, erweitert seine Krondomäne, reformiert die Verwaltung und betreibt eine offensive Städtepolitik.
An Kloster- und Kathedralschulen bilden sich Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden. Auf diese Weise werden in der Mitte des 12. Jahrhunderts die ersten Universitäten gegründet (Bologna, Paris). Die große Mehrheit der Bevölkerung bleibt aber von jeglicher Bildung ausgeschlossen und kann weder schreiben noch lesen. Die Philosophie und die Theologie sind im Hochmittelalter die führenden Wissenschaftsdisziplinen. Mit der (Hoch-)Scholastik findet eine spezifische Form des wissenschaftlichen Argumentierens (Begründung der Glaubensinhalte) und der Systematisierung des Wissens ihren Höhepunkt. Diese wissenschaftlichen Bemühungen sind vor allem durch neue naturwissenschaftliche Themen hervorgerufen, die durch die Erforschung der Schriften des „heidnischen“ Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) und arabisch-islamischer und jüdischer Autoren (Medizin, Astronomie, Mathematik) aufgeworfen und in Kommentaren und Summen (das sind zusammenfassende und abschließende Systeme der Welterkenntnis) reflektiert werden. Es werden aber auch kritische Stimmen gegen an Autoritäten orientierte Wissenschaftsauffassungen laut; so fordert der englische Franziskaner Roger Bacon (um 1214 bis 1292/1294) als Methode wissenschaftlichen Arbeitens das Zurückgehen auf die unmittelbare Erfahrung, das heißt auf die Beobachtung und Befragung der Natur mittels des Experiments, in dem er die Quelle allen wahren Weltwissens sieht.
1.2 Biografischer Kontext
Thomas von Aquin wird um die Jahreswende 1224/25 als Sohn des Grafen von Aquino, eines Verwandten der hohenstaufischen Kaiserfamilie, in der Nähe Neapels geboren (vgl. Chenu 1995; Forschner 2006; Schönberger 2012 u. a.). Mit fünf Jahren kommt er zur Erziehung zu den Benediktinern ins Kloster Monte Cassino. Als 14-Jähriger beginnt er an der Universität Neapel zunächst die freien Künste, dann Theologie zu studieren (1239–1244). Zum Entsetzen seiner reichen Familie und seiner Freunde entschließt sich der 17-jährige Thomas, in den gerade gegründeten Bettelorden der Dominikaner einzutreten, um Gott und der Wissenschaft in Armut zu dienen. Gegen den massiven Widerstand seiner Familie setzt er seinen Entschluss durch. Kurz nach dem Tod seines Vaters (1244) reist Thomas bereits als Ordensmitglied nach Paris, um dort seine Studien fortzusetzen. Mitglieder der Familie überfallen den Reisenden in der Toskana, entführen ihn, hindern ihn mit Gewalt daran, seinen gewählten Weg zu gehen, und setzen ihn in Haft. Da Thomas sich auch nach einem Jahr Haft nicht dem Willen der Familie beugt, lässt man ihn frei. Thomas nimmt sogleich sein Ordensleben wieder auf und macht sich erneut auf den Weg nach Paris.
An den Universitäten in Paris, dem damaligen Zentrum der europäischen Theologie, und in Köln vertieft Thomas seine Studien (1245–1252). Sein wissenschaftliches Interesse gilt vorrangig dem Werk des griechischen Philosophen Aristoteles, das er erforschen und für die Theologie aufarbeiten will. Die von Arabern und Juden nach Europa gebrachten Werke des „Materialisten“ Aristoteles werden von der Kirche als heidnisch abgelehnt und dürfen nicht gelehrt werden. Von 1252 an ist Thomas als theologischer Lehrer in Frankreich und Italien tätig; 1254 wird er Magister der Theologie. Mit seinem Kölner Lehrer und Ordensbruder Albertus Magnus (1200–1280) verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft. Den Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn erlebt Thomas bei seinem zweiten Aufenthalt in Paris von 1269 bis 1272. Während dieses Aufenthalts verfasst er auch seine „Summa theologica“ (Theologische Summe). In dieser Zeit wird Thomas in Europa als herausragender Gelehrter und Lehrer gefeiert und zugleich von Klerus und Professoren wegen seiner Lehren heftig bekämpft. Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbringt er wieder lehrend in Neapel an der dortigen Ordensuniversität. Thomas wird nur 50 Jahre alt und stirbt am 7. März 1274 in dem Zisterzienserkloster Fossanova (Latium) ...