1Einleitung
1.1 VorĂŒberlegungen zu ReflexivitĂ€t und Reflexion
Beim Beratungsformat Supervision handelt es sich um eine Reflexionskommunikation. Dieses VerstĂ€ndnis erfordert, dass wir uns zunĂ€chst mit den Begriffen ReflexivitĂ€t und Reflexion sowie ihrer sprachlichen Herkunft beschĂ€ftigen. Das Wort »reflektieren« stammt vom lateinischen Verb »reflectere« fĂŒr »hinwenden« ab und bedeutet »widerspiegeln«. Schaue ich in einen Spiegel, so erhalte ich einen AuĂenblick auf mich, der mir ohne die Zuhilfenahme der ReflexionsflĂ€che nicht möglich wĂ€re. Aus dieser AuĂenperspektive gewinne ich neue Erkenntnisse ĂŒber mich. Der Blick in den Spiegel liefert gleichzeitig eine Idee darĂŒber, wie Selbstreflexion funktioniert. Auch besteht eine thematische Verwandtschaft mit dem Wort »Reflex«. Das EinĂŒben von Angriffs- und Abwehrtechniken im Karate wird gelegentlich als Konditionierung von BewegungsablĂ€ufen konzipiert. Ein kontinuierliches Training erlaubt dann, Angriffe des GegenĂŒbers reflexhaft zu parieren.
Im Allgemeinen kann man ReflexivitĂ€t als Kompetenz auffassen, Prozesse in der Supervision bewusst zu steuern. Denn ReflexivitĂ€t ermöglicht gleichsam ein flexibles Einnehmen von Selbst- und Fremdbeobachtungspositionen. Nach intensiver Ăbung kann der Supervisor wĂ€hrend der Supervision quasi automatisiert auf diese Perspektiven zurĂŒckgreifen. Mit Reflexion ist der Vorgang gemeint, Anliegen konstruktiv sowie kritisch zu untersuchen.
Was bedeuten diese Begriffsbestimmungen fĂŒr die Praxis? Versteht sich der Supervisor als ReflexionsflĂ€che fĂŒr den Supervisanden, dann wird er dem Supervisanden seine Beobachtungen widerspiegeln. Allerdings mĂŒsste man dann im Hinblick auf seine Spiegelbilder von Bildern mit UnschĂ€rfen sprechen â und zwar deshalb, weil wir den Supervisor als einen Beobachter betrachten, der das wahrnimmt, was er wahrnimmt. Ein anderer Supervisor hĂ€tte in derselben Situation andere Beobachtungen; seine Prozess-Steuerung wĂŒrde anders verlaufen. In jedem Fall entsprechen diese »Bilder« des Supervisors einer Art »Feedback«, das beim Supervisanden Prozesse der BeschĂ€ftigung mit sich selbst anregt.
Der Begriff Reflexion schlieĂt Selbstreflexion ein. Selbstreflexion bezieht sich auf ein Nachdenken ĂŒber das eigene Selbst. Sie findet in der Regel sowohl beim Supervisor als auch bei seinem Supervisanden statt und ermöglicht beiden eine Professionalisierung. Der Fokus liegt jedoch auf der Selbstreflexion des Supervisanden. Der Supervisand profitiert bei der Bearbeitung seiner Anliegen von der ReflexivitĂ€t des Supervisors. Denn die Interventionen des Supervisors laden den Supervisanden zur Selbstreflexion ein. Zudem dient der Supervisor dem Supervisanden als Modell dafĂŒr, wie sich Szenen analysieren lassen.
»Nachdenken ist die Freiheit, die man im VerhĂ€ltnis zu dem, was man tut, besitzt; es ist die Bewegung, durch welche man Abstand von sich gewinnt, sich selbst als Objekt konstituiert und ĂŒber das Ganze dieser Bewegung als Problem nachdenkt« (Foucault, zitiert nach Forster 2014, S. 596).
Das Ereignis, in dem ReflexivitĂ€t vollzogen wird, ist das der Reflexion. Reflexion beginnt, wenn man den Raum der Innenschau betritt. Hierin kann sich der Supervisand intensiv mit eigenen Handlungsweisen aus seiner Vergangenheit, Gegenwart oder im Hinblick auf seine Zukunft auseinandersetzen. Supervision bedarf der Reflexion im gleichen MaĂe, wie wir Menschen der Luft zum Atmen bedĂŒrfen. Die Reflexion kann sich auf verschiedenen Ebenen abspielen, die oft parallel existieren oder bewusst wie unbewusst im Hintergrund arbeiten. Unter Ebenen verstehen wir beispielsweise die Psychodynamik des Supervisanden, sein RollenverstĂ€ndnis sowie Strukturen und Prozesse in Organisationen, mit denen er konfrontiert ist. Die Frage, welche Ebene ein Supervisor fĂŒr die Reflexion fokussiert, hĂ€ngt u. a. von seinem Handlungskonzept, seiner Praxiserfahrung, seiner psychischen Ausstattung als Person und von der aktuellen Interaktion in der Supervision ab.
ReflexivitÀt
Im Speziellen bezeichnet man als ReflexivitÀt die FÀhigkeit, das eigene Handeln als Supervisor multiperspektivisch in den Blick zu nehmen. Damit verbinden wir das Ziel, das eigene professionelle Vorgehen zu verbessern. Weiterhin fassen wir ReflexivitÀt als Bewusstseinsprozess und als AktivitÀt auf (vgl. Forster 2014, S. 590). Moldaschl (o. J.) definiert ReflexivitÀt als die
»FÀhigkeit eines sozialen Systems oder einer Person, sich zu sich selbst zu verhalten, d. h., sich von eigenen PrÀmissen und Handlungsprogrammen zu dezentrieren, eine kritische Sicht auf sich selbst einzunehmen, den Standpunkt eines anderen einzunehmen, sich durch die Perspektive eines anderen zu betrachten«.
Mit unserem Buch möchten wir Sie als Leser zur SelbstreflexivitĂ€t anregen. Diese betrachten wir im Folgenden aus einer systemtheoretischen Perspektive. Bei der SelbstreflexivitĂ€t bezieht sich das psychische System auf sich selbst. Sie lĂ€sst sich deshalb als Selbstreferenz verstehen. Psychische Systeme zeichnen sich durch eine spezielle Arbeitsweise aus: In psychischen Systemen schlieĂen Gedanken an Gedanken an. Alle reflexiven Prozesse vollziehen sich in derselben Weise. Wie geht das psychische System dabei vor? Es orientiert sich bei diesen Prozessen an der Differenz zwischen vorher und nachher. Aus diesem Unterschied lassen sich Erkenntnisse gewinnen. Desgleichen erlaubt ReflexivitĂ€t eine Steuerung von Prozessen durch das psychische System selbst. Hierbei ist zu beachten, dass das psychische System in der Selbstreferenz operativ fĂŒr sich selbst nicht erreichbar ist, es bleibt fĂŒr sich unbestimmt (vgl. Luhmann 1987, S. 599 ff.). Diese Grenze in der Selbsterkenntnis stellt gleichzeitig eine Grenze selbstreflexiver Prozesse dar.
In unseren Supervisionsweiterbildungen im WIST MĂŒnster 1 zielen wir darauf, die ReflexivitĂ€t stetig zu fördern und auszubauen. Wir halten es fĂŒr lohnenswert, diese Kompetenz im Sinne eines lebenslangen Lernens stets weiterzuentwickeln. Wir beleuchten sie nun aus sieben Positionen:
Position 1: ReflexivitĂ€t erfĂŒllt keinen Selbstzweck nach dem Motto: Solange ich reflexiv bin oder ReflexivitĂ€t anrege, handele ich supervisionsgemĂ€Ă. Prinzipiell dient ReflexivitĂ€t dazu, KlĂ€rungsprozesse in Gang zu bringen oder AblĂ€ufe zur Zielerreichung zu unterstĂŒtzen. Eine Kombination beider Zwecke liegt daher nahe. Anders formuliert: Meine ReflexivitĂ€t als Supervisor ermöglicht eine genaue Untersuchung von VorgĂ€ngen wĂ€hrend der Supervision â beispielsweise, die Anliegenentwicklung zu untersuchen, Entscheidungen zu finden, das Zusammenspiel von willkĂŒrlichen und unwillkĂŒrlichen VorgĂ€ngen zu betrachten, Handlungen zu initiieren oder AblĂ€ufe zu beenden, die fĂŒr ein Vorhaben nicht mehr zieldienlich sind.
Position 2: Im Verbund mit Ziel- und/oder KlĂ€rungsprozessen können wir ReflexivitĂ€t als Metakompetenz einstufen. Unter Metakompetenz verstehen wir eine Kompetenz, die fĂŒr diverse Kontexte GĂŒltigkeit hat und zugleich als Bindeglied fĂŒr Einzelanalysen fungieren kann.
Position 3: ReflexivitĂ€t erlaubt Betrachtungen in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vorstellbar ist, dass ich als Supervisor vergangene Ereignisse zum Gegenstand meiner Ăberlegungen mache. Ich rufe mir Szenen in Erinnerung, die ich gerne erneut in ihrer Entwicklung oder in ihren Auswirkungen nachzeichnen will. Welche Motive, Absichten oder Anliegen haben mich beispielsweise dazu bewegt, so zu handeln, wie ich in der Supervisions-episode gehandelt habe? ReflexivitĂ€t lĂ€sst sich zusĂ€tzlich als Vorschau auf zukĂŒnftiges Handeln richten. Wie will ich reagieren, wenn im Team erneut anliegenferne Themen angesprochen werden? Welche Handlungsalternativen stehen mir fĂŒr meine Reaktion zur VerfĂŒgung? Ăberlege ich wĂ€hrend eines laufenden Supervisionsprozesses, wie ich auf die ĂuĂerungen des Supervisanden eingehe, kommt ReflexivitĂ€t einem Selfmonitoring in der Gegenwart gleich.
Position 4: ReflexivitĂ€t vollzieht sich stets in Interaktionen. Das sind z. B. innere Dialoge oder GesprĂ€che zwischen zwei und mehreren Personen. Sie ist somit Bedingung wie Treibstoff fĂŒr rekursive Prozesse. Als Supervisor bin ich zugleich Beobachter wie auch mein eigener Beobachtungsgegenstand: Ich beobachte, wie die Interaktion verlĂ€uft und wie ich selbst mit mir und mit dem Supervisanden interagiere. Dass sich diese Sichtweisen vermengen und gegenseitig beeinflussen (siehe oben), ist im Sinne der RekursivitĂ€t erwartbar (vgl. Forster 2014, S. 592).
Position 5: ReflexivitĂ€t stufen wir als notwendige Bedingung dafĂŒr ein, Prozesse steuern zu können â beispielsweise, wenn es darum geht, situativ einen konstruktiven Umgang mit Unerwartetem im GesprĂ€ch, mit Krisen oder mit Ambivalenzen zu entwickeln. Hierin zeigt sich ReflexivitĂ€t in ihrer Facette als Bewusstseinsprozess.
Position 6: ReflexivitĂ€t verstehen wir ebenso als sinnvolle und nĂŒtzliche Arbeitsweise. Mit ihrer Hilfe kann man a) das eigene supervisorische Vorgehen und dessen QualitĂ€t prĂŒfen und bewerten (Monitoring) sowie b) die ReflexivitĂ€t der Supervisanden beim Erreichen ihrer Supervisionsziele fördern. Denn ReflexivitĂ€t verstehen wir als bedingende Kompetenz fĂŒr Lern- und VerĂ€nderungsprozesse, die es in einer Supervision zu gestalten gilt.
Position 7: Angesichts diverser Lebensstile und Werthaltungen vermag uns unsere eigene ReflexivitĂ€t dabei zu unterstĂŒtzen, uns (begrĂŒndet) zu verorten. Im Neben- und Miteinander dieser Vielfalt begeben wir uns bewusst an unseren Standpunkt und beziehen Stellung. ReflexivitĂ€t verhilft uns dazu, verantwortungsbewusst eine moralische Haltung einzunehmen.
In diesen sieben Positionen scheint auf, dass wir ReflexivitĂ€t als Kompetenz, Arbeitsweise, Bewusstseinsprozess und Beobachtungsvorgang schĂ€tzen. Zugleich sind wir mit einer kritischen Perspektive auf die ReflexivitĂ€t selbst beschĂ€ftigt. Denn Studien deuten darauf hin, dass wir uns unsere ErklĂ€rungen ad hoc zurechtlegen, wenn wir nach unseren Motiven gefragt werden. Einige Stunden spĂ€ter nennen wir auf dieselbe Frage andere BeweggrĂŒnde (vgl. Chater 2019, S. 47). Diese Konstruktionsleistungen gehören zur ReflexivitĂ€t.
Wenn wir reflexiv sind, sprechen wir auch nach innen; wir fĂŒhren dann einen inneren Dialog. Aufgrund von drei Ăberlegungen verfolgen wir diesen Dialog mit Humor und Neugierde:
âąWir wissen, dass wir stets nach ErklĂ€rungen suchen, um zu verstehen, weshalb wir so handeln, wie wir handeln.
âąWir wissen, dass wir uns mithilfe von zurechtgelegten GrĂŒnden Prozesse erklĂ€ren.
âąWir wissen, dass wir darĂŒber hinaus PlausibilitĂ€ten und Sinnhaftigkeit erzeugen.
Die naheliegende Schlussfolgerung, dass wir unsere Welt konstruieren, befreit uns davon, (zeit)intensiv nach dem wahren Motiv zu suchen. Getrost können wir auf unseren PlausibilitĂ€ten weiterfĂŒhrende Ăberlegungen aufbauen, um andere Perspektiven einzunehmen â wohlwissend, dass sie wahrscheinlich nur fĂŒr eine kurze Strecke Orientierung verleihen. Mit Achtsamkeit fĂŒr liebgewonnene Deutungsmuster und mit einer Neugier fĂŒr Quergedanken plĂ€dieren wir fĂŒr eine Offenheit im Hinblick auf die BeweggrĂŒnde, die wir formulieren. Diese Offenheit kann die Grundlage fĂŒr eine verantwortungsbewusste und respektvolle KreativitĂ€t sein. Die Selbstreflexion kann hiervon profitieren.
Selbstreflexion lohnt sich auĂerdem, weil sie ein lebenslanges ...