X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Über das Neue am digitalen Kapitalismus

  1. 220 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Über das Neue am digitalen Kapitalismus

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Nehmen uns Roboter die Arbeit weg? Wer diese Frage stellt, missversteht die Digitalisierung - sie ist keine industrielle Revolution mit anderen Mitteln. Sabine Pfeiffer sucht nach dem wirklich Neuen hinter der Digitalisierung und dem digitalen Kapitalismus. Sie stellt in ihrer Analyse dem Marx'schen Begriff der Produktivkraft die Idee der Distributivkraft zur Seite. Von der Plattformökonomie bis zur kĂŒnstlichen Intelligenz wird damit verstehbar: Es geht immer weniger um die effiziente Produktion von Werten, sondern vielmehr um deren schnelle, risikolose und auf Dauer gesicherte Realisierung auf den MĂ€rkten. Neben der Untersuchung dieser Dynamik und ihrer Folgen wird auch diskutiert, warum die Digitalisierung als Distributivkraft zu einer ökologischen Destruktivkraft zu werden droht.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783732854226
Auflage
1

1.Einleitung


Es ist ja ĂŒblich geworden, selbst wissenschaftliche und analytische BĂŒcher mit biografischen Anekdoten zu beginnen. Einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens ist, dass die möglichen biografischen BezĂŒge sich hĂ€ufen und es leichter wird, da mit den individuellen und – sieht man von strukturellen und historisch-konkreten, prĂ€genden Dynamiken ab – meist zufĂ€lligen Erfahrungen auch die FĂŒlle der Anekdoten zunimmt. Keine Sorge, das mit den Anekdoten spare ich mir. Den biografischen Bezug aber kann ich mir nicht verkneifen, denn eines begleitet mich tatsĂ€chlich, seit ich ins Erwerbsleben eingetreten bin: das, was wir heute Digitalisierung1 nennen. Ich verwende bewusst diesen mittlerweile alltagstauglichen Begriff, der mit seiner ursprĂŒnglichen Bedeutung (technische Verfahren zur Umwandlung analoger Informationen in digitale) kaum mehr etwas zu tun hat und in unseren Zeiten sozusagen zum Meta-Tag2 der gesellschaftlichen SelbstverstĂ€ndigung um Reichweite, Richtung und Tiefgang der vermuteten Transformation geworden ist.
Als Soziologin habe ich mich von Anfang an mit der Digitalisierung beschĂ€ftigt. Zuvor, in meiner frĂŒheren Arbeit als Werkzeugmacherin3 hat sich die Digitalisierung dafĂŒr von Anfang an mit mir beschĂ€ftigt. Mitte der 1980er Jahre – noch wĂ€hrend meiner Ausbildung – arbeitete ich zum ersten Mal an einem Computer. Ich sage bewusst an statt mit. Ich bediente eine Messmaschine, mit der gebogene Rohre im dreidimensionalen Raum vermessen werden konnten. Ich wusste noch nicht, dass ich in einem Anwendungsprogramm arbeitete und dass sich »dahinter« ein Betriebssystem verbarg. Ich versuchte vergeblich aus dem Anwendungsprogramm der Messmaschine mehr rauszuholen, weil ich ahnte, dass der Computer noch mehr und anderes kann.
Mein Ausbildungsbetrieb war ein familiengefĂŒhrter MittelstĂ€ndler, der – heute wĂŒrde man das wohl diversifiziert nennen – so Unterschiedliches wie Extrudermaschinen, Turbinenschaufeln, Schneidwerkzeuge und Auspuffanlagen herstellte. CNC-Maschinen und Schweißroboter mit sogenanntem Teach-in-Verfahren waren dort in der Fertigung schon angekommen und selbst in unserer Ausbildungswerkstatt stand eine NC-FrĂ€smaschine4 – obwohl das vor der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe 1987 offiziell noch gar nicht zu den Ausbildungsinhalten zĂ€hlte. Ich erwĂ€hne das nur, um zu zeigen: Ich arbeitete damals nicht gerade an der informationstechnologisch vordersten Front der produzierenden Branchen und trotzdem bereits als Auszubildende an einem Computer. WĂ€hrend zur gleichen Zeit in unseren BĂŒros die Digitalisierung kaum eine Rolle spielte: In der Konstruktion gab es Zeichenbretter und noch kein CAD-System5, und die sogenannten Werkstattschreiberinnen (ja, alles Frauen und ja, es gab noch BĂŒroarbeitsplĂ€tze in der Fertigung) bewegten vor allem Papier und freuten sich, wenn sie eine elektronische Schreibmaschine hatten. Mir ist diese biografische Randnotiz zum Einstieg wichtig. Denn: Bis heute ĂŒbersieht die wissenschaftliche Debatte um die Digitalisierung beharrlich, dass die Produktion bzw. der Shopfloor frĂŒher, flĂ€chendeckender und integrierter digitalisiert wurde als andere Bereiche, einfach weil man dort vieles von der digitalen Technik nicht sieht. Embedded Systems etwa heißen nicht umsonst so: Sie sind eingebettet in die stoffliche Technik, deswegen aber nicht weniger digital. Und der Bildschirm an einer Maschine oder Anlage ist nicht nur eine Bedieneinheit, sondern Interface eines vollstĂ€ndigen Rechners.
Die Digitalisierung erreichte mich also als gewerblich-technische Auszubildende bei einem eher bodenstĂ€ndigen MittelstĂ€ndler. Bei meinem nĂ€chsten Arbeitgeber (ein Vertrieb fĂŒr CNC-Werkzeugmaschinen) hatte ich ab Ende der 1980er Jahre mit CAD/CAM6-Systemen zu tun und wurde schon beim BewerbungsgesprĂ€ch mit der Vision von CIM7 und Flexiblen Fertigungssystemen (FFS) bekannt gemacht (die Realisierung von CIM ließ dann auf sich warten, FFS aber entstanden hier und dort, wenn sich dies hinsichtlich der StĂŒckzahlen lohnte).
Beim nĂ€chsten Arbeitgeber hatte ich endlich auch viel mit dem »Dahinter« zu tun, dem Betriebssystem (vor allem MS DOS, teils OS/2 oder Unix), richtete Computer fĂŒr unsere Kunden ein, installierte Schnittstellen-Karten (IEEE) fĂŒr die Verbindung zu 3D-Koordinaten-Mess-Maschinen oder Touchscreen-VorsĂ€tze fĂŒr die Bildschirme. Unsere Entwicklungsabteilung schickte uns neue Versionen der Messmaschinen-Software ĂŒbers Telefonnetz und Akustikkoppler an unseren Vertriebsstandort. Auch zu Hause stand lĂ€ngst ein PC (der erste ein Amstrad Schneider 1512 mit Doppellaufwerk) und ratterte bald ein 9- und spĂ€ter ein 24-Nadel-Drucker.
Als mich mein zweiter Bildungsweg Jahre spĂ€ter erst ins Ingenieur- dann ins Soziologiestudium fĂŒhrte, blieb die digitale Technik sowohl Arbeitsmittel als auch Arbeitsgegenstand. Und schließlich saß ich (es muss 1996 gewesen sein) in einem Volkshochschul-CafĂ© zum ersten Mal vor einem Rechner mit Internetzugang und Netscape als Browser. Mit meiner eigenen Domain und meiner ersten, noch in einem einfachen HTML-Editor erstellten Webseite ging ich 1998 online. Meine erste Bestellung bei Amazon erfolgte ein Jahr spĂ€ter (nicht, dass ich das noch erinnern wĂŒrde, aber Amazon vergisst nichts). Technik – die stoffliche wie die digitale – war fĂŒr mich also in meiner Erwerbs- und schnell auch in meiner Lebenswelt eine ebenso selbstverstĂ€ndliche wie wichtige Komponente. Sie blieb es (fĂŒr mich ebenso selbstverstĂ€ndlich) auch, als ich Werkbank, Maschine und CNC-Code durch SoziologiebĂŒcher, Theorien und Statistik-Syntax ersetzte.
Dieser biografische Hintergrund erklĂ€rt, warum ich dieses Buch schreibe. Aber wohl auch, wie ich es schreibe. Die Technik und ihre Möglichkeiten bleiben ein wichtiger Bezugspunkt. Zugleich hat mich meine erste (mehr als meine aktuelle) berufliche Praxis eines gelehrt: Ob Technik im Unternehmen ankommt; ob und wie sie genutzt wird, um Arbeit zu verĂ€ndern oder zu ersetzen; ob dabei besser oder schlechter bezahlte Jobs entstehen oder neue Qualifikationen – all das kann abhĂ€ngig von den beteiligten Akteuren und den VerhĂ€ltnissen zwischen ihnen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. Das Ergebnis aber wird nie losgelöst sein von ökonomischen Intentionen und technisch-faktischen (Un-)Möglichkeiten. Was sich im Sozialen, in der Arbeit, im Leben, in der Gesellschaft wandelt, lĂ€sst sich nur ĂŒber Technik und Wirtschaft verstehen. Und ĂŒber ihre jeweiligen und gemeinsamen PfadabhĂ€ngigkeiten.
Aus dieser Erkenntnis, die ich durch das konkrete Erleben von technischem Wandel in meiner ersten beruflichen Praxis gewonnen habe, folgte eine immer wiederkehrende Irritation ĂŒber die Antworten meiner aktuellen beruflichen Praxis. Denn bis heute beschĂ€ftigt sich die Soziologie meist in je unterschiedlichen Nischen mit Technik, mit Arbeit, mit Wirtschaft, mit Lebenswelt. Sie meidet Theorieangebote, die zumindest versuchen, alles zusammenzudenken. Zudem nimmt die Soziologie Technik oft nicht in ihrer konkreten Erscheinungsform ernst, sondern macht sie entweder zu etwas »rein« Sozialem oder missbraucht sie als vage Metapher fĂŒr große, aber nicht immer weiterfĂŒhrende Gesellschaftsdiagnosen. Als ich von der Technik in die Soziologie wechselte, musste ich das erst begreifen, spĂ€ter hat mich das manchmal geĂ€rgert, heute kann ich das entspannter nachvollziehen.
Gesellschaft und gesellschaftlicher Wandel sind und waren noch nie ohne ihre technischen Grundlagen, technologischen RealitĂ€ten und ihren Technikeinsatz zu verstehen, ebenso wenig wie Gesellschaft und Technik – vor allem in ihrem Wandel – ohne die ökonomischen ZusammenhĂ€nge, mit denen und durch die sie sich entwickeln. Wie Arbeit, Produktion und Leben sich gestalten, was sie uns ermöglichen und wie sich das individuell und kollektiv anfĂŒhlt – das ist ohne das alles verbindende Netz von Wirtschaft und Markt nicht zu durchschauen. Ob sich all dies – möglicherweise fundamental – Ă€ndert und wir uns am Anfang oder mitten in einem Prozess der Transformation oder Disruption befinden, diese Debatte bewegt unsere Gesellschaft nun seit einigen Jahren.
Schließlich wird ĂŒber kaum etwas so viel diskutiert und geforscht wie ĂŒber den digitalen Wandel. In Deutschland hatte dieser Diskurs mit der Erfindung des Begriffs »Industrie 4.0« im Jahre 2011 seinen bewusst inszenierten Take-off. Von Anfang an war nicht nur die engere, auf Produktions- und Automatisierungstechnik ausgerichtete Fachöffentlichkeit angesprochen, sondern vielfĂ€ltige Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft. Schnell aber verließ der Diskurs diesen Industrie-Bezug, kreiste immer mehr um die digitale Transformation im Großen und rĂŒckte andere digitale Technologien in den Mittelpunkt: Wo zu Beginn der Debatte noch Roboter, mobile GerĂ€te und Social Media im Vordergrund standen, ist heute KĂŒnstliche Intelligenz und insbesondere Machine Learning prĂ€senter.
Mit Publikationen und VortrĂ€gen auf zahllosen Konferenzen und Workshops, auch außerhalb des engen wissenschaftlichen Kontexts, war ich selbst Teil dieses Diskurses. Und habe bei solchen Veranstaltungen zunehmend einen großen Bedarf an fundierten Analyseangeboten gespĂŒrt, die dabei helfen, das Hier und Jetzt besser zu verstehen, und Gestaltungsoptionen wie -grenzen aufzeigen. In diesem Sinne grenzt sich dieses Buch bewusst ab von den zahlreichen utopischen oder dystopischen Prognosen.
Um die Digitalisierung reiht sich zunehmend Zeitdiagnose an Zeitdiagnose. Diese Deutungs- und Prognoseangebote – so unterschiedlich sie in Stoßrichtung, adressiertem Kreis und disziplinĂ€rem Hintergrund auch sein mögen – sind sich in drei Aspekten weitgehend einig: Erstens, dass wir es mit einer umfassenden Transformation zu tun haben, die in ihren Ausmaßen und ihrer VerĂ€nderungsdynamik mit historischen VorlĂ€ufern wie der Entstehung der Agrargesellschaft oder der industriellen Revolution vergleichbar ist. Zweitens, dass die Ursache dieser Transformation im technischen Fortschritt – insbesondere in der Robotik, der gestiegenen Rechengeschwindigkeiten und der KĂŒnstlichen Intelligenz – zu suchen ist. Und drittens, dass daraus dramatische UmwĂ€lzungen in Wirtschaft und Arbeitswelt erwachsen, die in ihren Folgen dringend gesellschaftlicher Bearbeitung bedĂŒrfen. Wohin man schaut, was immer man liest: Letztlich finden sich diese drei Annahmen in allen Diagnosen zur Digitalisierung, mal explizit formuliert, mal implizit angedeutet, mal stillschweigend vorausgesetzt. Die EinschĂ€tzungen, wohin das Ganze fĂŒhrt, was wo und wie und nach welchen Kriterien gestaltbar ist (oder eben nicht), mögen unterschiedlich sein, die grundlegende Annahme des technischen Fortschritts als eigentliche Ursache aber zieht sich durch; manchmal verpackt als anthropologische Konstante – der Mensch als zwanghafte Innovationsgattung, die nicht anders kann, als immer neuen technischen Fortschritt zu produzieren –, manchmal als quasi-evolutionĂ€rer Prozess, an dessen Ende der Mensch sich selbst ĂŒberholt.
Dieses Buch will in diesem Sinne kein weiteres Diagnose-Angebot machen. Es wird diesen Dreischritt – Technikentwicklung entfacht Wirtschaftsdynamik mit wiederum gesellschaftlichen Folgen – nicht gehen. Dieses Buch will sich auch nicht einreihen in die immer lĂ€nger werdende Liste von Publikationen, die sich an Prognosen zu diesen Folgen abarbeiten und darĂŒber streiten, welche Jobs wann ersetzt werden und ob das Grundeinkommen eine Lösung ist. Dieses Buch wird keine weitere, an technischen Artefakten festgemachte Phaseneinteilung – von der Agrarwirtschaft bis zur Datenökonomie, von der Dampfmaschine zum Internet der Dinge, vom Buchdruck zu Social Media – vorlegen. Und dieses Buch will auch keine von der Technik inspirierte Metapher – sei es das Netzwerk, der Algorithmus, das Muster – zum neuen Gesellschaftsbegriff erheben oder als schon immer Dagewesenes entlarven. All das gibt es, all das sind wichtige und wertvolle DebattenbeitrĂ€ge und ist Ausdruck des offensichtlich großen gesellschaftlichen BedĂŒrfnisses, uns darĂŒber auszutauschen, was gerade (mit uns? durch uns?) passiert.
Auch dieses Buch geht von einer Transformation aus und begibt sich auf die Suche nach dem Neuen und seinen Verbindungen zum Alten. Dieses Neue, seine strukturellen Ursachen und die damit verbundenen spezifischen Folgen verstehbar zu machen, ist das Ziel. Gewagt wird ein Blick hinter die PhĂ€nomene der Digitalisierung (ohne dabei die RealitĂ€ten der Technik zu vernachlĂ€ssigen). Versucht wird eine analytische Perspektive, die Technikentwicklung, ökonomische Logik und gesellschaftliche Dynamik gemeinsam statt als sequenzielle Abfolge betrachtet. Verfolgt wird schwerpunktmĂ€ĂŸig eine Diagnose jĂŒngerer Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, verbunden mit zwei Intentionen: Verschiedene StrĂ€nge der aktuellen Digitalisierung sollen zusammengefĂŒhrt, bilanziert und diese Entwicklungen analytisch-theoretisch gedeutet werden.

1.1Die zentrale These – in bad neighborhood?

Armin Nassehi fragt in seinem Buch Muster (2019), das eine Theorie der digitalen Gesellschaft vorlegt, fĂŒr welches Problem die Digitalisierung eine Lösung sei (vgl. ebd.: 12). Seine Antwort lautet – sehr verkĂŒrzt und seinen AusfĂŒhrungen nicht gerecht werdend –, dass die Moderne immer schon digital gewesen sei und immer schon Muster zur KomplexitĂ€tsbewĂ€ltigung genutzt habe, die DigitalitĂ€t der Gesellschaft also in ihrer eigenen Struktur und KomplexitĂ€t begrĂŒndet sei (vgl. ebd.: 321-325). Diese Antwort ĂŒberzeugt mich nicht. In Nassehis Analyse bleiben ökonomische Akteure und der Markt Randfiguren, das die Moderne charakterisierende Wirtschaftssystem – der Kapitalismus – verschwindet hinter der Gesellschaft. Zwar liefert seine Analyse eine erfrischend andere Sicht auf den herrschenden Diskurs, der oft nur auf die Wirtschaft (als Feld, nicht als Struktur) blickt und der Gesellschaft lediglich die Nebenrolle zuweist, den erwarteten Scherbenhaufen des Disruptiven aufzukehren. Man kann aber weder die Moderne ohne den Kapitalismus denken noch die Digitalisierung ohne die damit verbundenen ökonomischen Strategien, Akteure und Dynamiken verstehen.
Dieses Buch startet also nicht bei der Gesellschaft, sondern beim Kapitalismus. Dass jener digital geworden ist, kann allein nicht die Antwort sein, wie zu zeigen sein wird. Im Kapitalismus an sich, der darauf angewiesen ist, immer mehr Waren auf immer neuen MĂ€rkten zu verkaufen, um am Laufen zu bleiben, muss es aktuell ein Problem geben, fĂŒr dessen Lösung die Digitalisierung sich als besonders brauchbar erweist (oder zumindest gesehen wird).
Die einfache Antwort scheint zu sein: Digitalisierung ist die Technik, die (menschliche) Arbeit ersetzt. Das klingt fĂŒr manche vielleicht schon kapitalismuskritisch, kapitalismusanalytisch aber ist es zu kurz und zu schlicht gedacht. Deswegen wird diese Antwort auch gern dort gegeben, wo gar keine Kapitalismusanalyse betrieben wird: bei den nicht enden wollenden Prognosen zum Ausmaß der Ersetzung von Arbeit. Wie viele Menschen ersetzt ein Roboter? Wie viel BĂŒroarbeit schafft die KI? Wissenschaftliche Studien und um Aufmerksamkeit heischende Medien werden nicht mĂŒde, diese Fragen zu stellen und sie mit möglichst zitations-, klick- und auflagefördernden Zahlen zu untermauern. Sicher: Wie jede andere Technik vor ihr wird auch die Digitalisierung dazu genutzt, menschliche TĂ€tigkeiten zu ersetzen. Das ist aber fĂŒr den Kapitalismus nicht problematisch, dafĂŒr braucht er keine neuen Lösungen oder Antworten. Das kann er sozusagen gut (»er« kann natĂŒrlich nichts, es sind die unzĂ€hligen Rationalisierungsentscheidungen, -aushandlungen und -umsetzungen in den Unternehmen, die allerdings wegen der Struktur dieser Wirtschaftsweise in der Tendenz gar nicht anders, in der Konkretion der Ausgestaltung aber sehr unterschiedlich entscheiden und handeln können). In diesem Buch soll nicht nach den neuen technischen Optionen fĂŒr die Ersetzung von Arbeit gesucht werden. Stattdessen wird gefragt, ob der Kapitalismus selbst neue – oder zumindest verschĂ€rfte – Probleme hat. Und ob sich daraus erklĂ€rt, dass bestimmte Formen der Digitalisierung und digitaler GeschĂ€ftsmodelle besonders erfolgreich sind.
Die in diesem Buch theoretisch entwickelte und empirisch untermalte These dazu lautet: Das zunehmende Problem der Unternehmen und Volkswirtschaften in einem hoch entwickelten, global agierenden Kapitalismus ist der gelingende Absatz. Was immer mehr und immer effizienter produziert (oder sogar nur kopiert) werden kann, ist nichts wert, ohne dass es auch gekauft wird. Das ist der Zielpunkt aller AktivitĂ€ten. Auf den WeltmĂ€rkten wird weiterhin darum konkurriert, wer am billigsten produziert. Zunehmend wettbewerbsentscheidender aber wird die Konkurrenz um die immer zu wenigen Kaufwilligen. Die Rationalisierungs- und OptimierungsbemĂŒhungen der Unternehmen richten sich verstĂ€rkt auf den Markt, der immer schneller, aber auch immer geplanter bedient werden soll. Überraschungen mögen die Shareholder nicht. Der Markt und am Ende der jeweilige Kaufakt waren und sind das entscheidende Nadelöhr jeden unternehmerischen Handelns. Die darauf bezogenen Strategien aber schoben sich mehr und mehr in den Vordergrund und genau bei diesen, das wird sich im Verlauf des Buches zeigen, ist die Digitalisierung besonders hilfreich (wenn auch am Ende keine Lösung, sondern eigenstĂ€ndiger Beitrag zum grundsĂ€tzlichen Problem).
Die analytische Kernaussage dieses Buches lĂ€sst sich auch anders fassen: Im entwickelten Kapitalismus unserer Tage ist das zentrale Problem die Realisierung von geschaffenen Werten auf MĂ€rkten. Strategien der Marktausdehnung und des Konsums werden zum relevanter werdenden Feld fĂŒr Konkurrenz. Neben den auf die Wertgenerierung gerichteten ProduktivkrĂ€ften gewinnen die auf die Wertrealisierung zielenden an Dominanz. Das hat ökonomische GrĂŒnde, di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Danksagung
  6. 1. Einleitung
  7. 2. Digitaler Kapitalismus revisited – schon wieder?
  8. 3. Eine erste Leerstelle: Wert im digitalen Kapitalismus
  9. 4. Transformation und Produktivkraft
  10. 5. Zweite Leerstelle: Wertrealisierung im (digitalen) Kapitalismus
  11. 6. Distributivkraft und (digitaler) Kapitalismus: Das Neue
  12. 7. Distributivkraft und (digitaler) Kapitalismus: PrÀzisierungen
  13. 8. Distributivkraft im digitalen Kapitalismus: Empirische Illustrationen
  14. 9. Digitalisierung: Distributivkraft oder Destruktivkraft?
  15. Literatur
  16. Abbildungsverzeichnis