Die Beichte meines Vaters über die Herkunft des Bimbes
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Die Beichte meines Vaters über die Herkunft des Bimbes

Die schwarzen Kassen der CDU

  1. 160 Seiten
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Die Beichte meines Vaters über die Herkunft des Bimbes

Die schwarzen Kassen der CDU

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Über dieses Buch

Für den politischen Machterhalt gilt dasselbe wie für Kriege: Am Ende siegt, wer am meisten "Bimbes" hat - so nannte Helmut Kohl dieses entscheidende Schmiermittel seiner Macht gerne. Wie skrupellos die Parteien und insbesondere die CDU vorgingen, kam in der "Ehrenwort"-Affäre 1999 ans Licht, und früher schon während der Flick-Affäre der 1980er-Jahre. Dieses Buch enthüllt, dass diese Betrügereien am Steuerzahler noch viel weiter zurückreichen als bisher bekannt.Karl-Heinz Ebert erzählt in diesem Buch von der Beichte seines Vaters, der an entscheidender Stelle verwickelt war, und von den Ergebnissen seiner eigenen Recherchearbeit. Die lassen tief blicken - in ein weit verzweigtes System schwarzer Kassen bei Deutschlands größter Volkspartei und zu einem atemberaubenden Coup aus der (nur scheinbar unschuldigen) Frühphase der Bundesrepublik Ende der 1950er-Jahre.

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Karl-Anton Ebert (1904­ –1989)

Es kam nicht oft vor, dass mein Vater Geschichten aus seiner eigenen Familie erzählte. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass es hier ebenso vieles gab, was ihn belastete, als das, worauf man hätte stolz sein können. Das, worauf man einmal stolz gewesen sein mag, war Vergangenheit und für immer verloren, und das, was man als Angehöriger einer Generation erlebt hat, die gleich zwei Weltkriege überlebte, damit sollte die nachfolgende Generation nicht belastet werden. Er war stets ein Mann, der geradeaus und auf die Zukunft schaute. Deshalb waren es in den vielen Jahrzehnten des ­familiären Zusammenlebens mit ihm nur wenige Zeitfenster, die sich kurz öffneten und in denen er mir anvertraute, was ihn belastete und bedrückte, wie etwa seine Kriegserlebnisse. Oder auch die Geschichte mit den dubiosen Zahlungen, die mich 2017 wieder einholte. Hätte es diese Zeitfenster nicht gegeben, in denen er mich ins Vertrauen zog, gäbe es dieses Buch nicht.
Für ihn war das Leben ein Kampf und selten gerecht und Politik fast immer schmutzig. Eine typische Redensart in unserer Familie lautete etwa: »Fürchte den Stier von vorn, den Fuchs und die Schlange von hinten und den Kollegen von allen Seiten.«
Ich will in diesem Kapitel einige Episoden aus seinem Leben erzählen, in denen er mit fehlender Ehrlichkeit und Redlichkeit anderer Menschen konfrontiert war – oder selbst in moralische Dilemmata geriet. Diese Erlebnisse bilden eine Reihe, in der dann auch sein Erlebnis im Zusammenhang mit illegaler Parteienfinanzierung stehen sollte.
Karl-Anton Ebert kam 1904 als ältestes von acht Kindern eines technischen Werksleiters in Gelsenkirchen zur Welt. Und er erlebte den Ersten Weltkrieg in all seiner Härte. Sein Vater – also mein Großvater – kehrte im letzten Kriegsjahr 1918 mit einer schweren Granatsplitterverletzung am Rücken heim und musste über ein Jahr in einem Lazarett in der Nähe von Gelsenkirchen stationär behandelt werden. In dieser Zeit, 1918 und 1919, starben die drei jüngsten Töchter an Unterernährung und an der Spanischen Grippe. Zu seiner Schwester Martha, die bei ihrem Tod erst drei Jahre alt war, hatte Karl-Anton ein so inniges Verhältnis, dass er später seine älteste Tochter nach ihr benannte.
Der Tod durch Unterernährung war in den deutschen Großstädten während der Endphase des Ersten Weltkriegs zum grausamen Alltag geworden. Jeder war nur noch sich selbst der Nächste. Die Zahl der verhungerten Zivilisten schätzte man später auf ca. 800 000. Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch und Kartoffeln wurden im Kaiserreich bereits ab 1915 nach und nach rationiert und konnten, wenn überhaupt, nur auf Bezugsschein erworben werden. (Die Erfahrung, wie stark die Hungerkrise den Durchhaltewillen der Bevölkerung schwächte, hat Adolf Hitler so geprägt, dass er der Versorgung der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs höchste Priorität einräumte. Die Deutschen hungerten vor allem nach dem Krieg. Während des Kriegs plünderten sie die besetzten Länder und setzten deren Bevölkerungen dem Hunger aus.)
Die Ausgabe der rationierten Lebensmittel – neben den genannten auch Mehl, Zucker, Haferflocken und Fett – war in den einzelnen Vierteln von Gelsenkirchen unterschiedlich organisiert. Im Stadtteil Schalke, wo Familie Ebert zu Hause war, hatten die Lehrer des städtischen Gymnasiums diese Vertrauensstellung inne. Und weil Karl-Anton schon früh eine gestochen scharfe Handschrift hatte (eine unabdingbare Voraussetzung für seinen späteren Beruf des Buchhalters), musste er im letzten Kriegsjahr 1918 und nach Kriegsende die Listen der ausgegebenen Waren führen – und zwar nachmittags nach Schulschluss und ehrenamtlich. Für einen Jugendlichen, der an starker Unterernährung litt, war dies eher eine Qual als eine Ehre, aber an Verweigerung war nicht zu denken. Bald jedoch merkte mein Vater, dass seine vermeintlich über alle Zweifel erhabenen Lehrer möglicherweise das Vertrauen gar nicht verdienten, das man ihnen zugesprochen hatte, als man sie mit der Verteilung der rationierten Lebensmittel betraute. Ihm fiel nämlich auf, dass er Empfänger in die Listen eintragen musste, von denen er zu wissen glaubte, dass sie bereits seit längerem in andere Stadtbezirke um- oder sogar ganz aus der Stadt fortgezogen waren. Er war sich aber nicht ganz sicher. Es konnte sich ja auch um zufällige Namensgleichheiten handeln. Einen falschen Verdacht gegen seine Lehrer zu äußern, denen er als Schüler einer wilhelminisch-autoritär geprägten Lehranstalt völlig ausgeliefert war, wäre ihn teuer zu stehen gekommen. Aber nach einigen Tagen hatte er Gewissheit: Ein Lehrer schob ihm einen Bezugschein zum Eintragen in die Liste zu – und ahnte nicht, dass Karl-Anton den darauf Genannten gekannt hatte: Er war sein unmittelbarer Nachbar gewesen – und er hatte kürzlich gemeinsam mit seiner Mutter an dessen Beerdigung teilgenommen. Jetzt hatte er Gewissheit: Die Lehrer betrogen die Gemeinschaft um dringend benötigte, knappe Lebensmittel, indem sie angebliche Empfänger erfanden und einen Teil der Lebensmittel im Lehrerzimmer verschwinden ließen. An diesem Tag verließ er das Gymnasium in einem sehr aufgewühlten Zustand – voller Verachtung für das Tun seiner Lehrer, die er bis dahin für integre und unantastbare Vertrauenspersonen gehalten hatte. Vor allem, weil er das Sterben seiner kleinen Geschwister miterlebt hatte, das sich mit besserer Versorgung vielleicht hätte vermeiden lassen, war er innerlich geradezu rasend vor Zorn, den er aber nicht offen zeigen durfte.
Irgendwann bemerkten seine Lehrer, dass sie in dem gerade 15-Jährigen einen hellwachen Beobachter gefunden hatten, der jeden ihrer Schritte bei der Verteilung der Lebensmittel beobachtete und durch seine Körpersprache und Mimik signalisierte: Ich habe euch durchschaut. Als er an diesem Nachmittag nach getaner Ehrenamtsarbeit das Gymnasium verlassen wollte, rief ihn sein Klassenlehrer ins ­Lehrerzimmer. Als er eintrat, standen auf einem separaten Tisch fünf Kilo Zucker, fünf Kilo Haferflocken und mehrere Dosen Schweineschmalz. »Das ist für dich«, sagte der Pädagoge nur. Nichts weiter.
Auch wenn er das damals natürlich nicht reflektierte: Zum ersten Mal wurde mein Vater mit der Methode konfrontiert, einen gefährlichen Mitwisser zum Nutznießer und damit zum Komplizen zu machen und sich so sein Schweigen zu erkaufen. Und er erfuhr am eigenen Leib, was die Redensart »Mir ist das Hemd näher als der Rock« bedeutet. Vor allem in Notzeiten ist sich jeder selbst der Nächste, und das Gewissen hat Zwangsurlaub.
Karl-Anton stopfte alles in einen der leeren Säcke, die nach dem Verteilen der Lebensmittelrationen zusammengefaltet und aufeinandergeschichtet in der Ecke des Zimmers lagen, und machte sich auf den Heimweg. Allmählich erst wurde ihm bewusst, was dieser Nachmittag bedeutete: Von nun an würden sie für einen langen Zeitraum keinen Hunger mehr leiden müssen. »Sie«, das meinte ihn und seinen ein Jahr jüngeren Bruder Hans. Zu Hause nahm er nur die Dosen mit dem Schweineschmalz aus dem Sack, ging damit in die Küche und stellte sie seiner Mutter wortlos auf den Tisch. Die nahm die Dosen und stellte sie zu den übrigen kärglichen Lebensmittelvorräten. Nach der Herkunft des plötzlichen Segens fragte sie nicht. Den Sack mit Zucker und Haferflocken aber versteckte Karl-Anton unter der Treppe im Hausflur. Der sofortige Gang die Treppe hinauf in den ersten Stock hätte vielleicht das Misstrauen seiner Mutter geweckt. Deshalb machte er auch an diesem Nachmittag genau das, was er auch sonst immer tat: Hausaufgaben in der Küche und dann zum Sportplatz, wo er, wie gewöhnlich, seinen Bruder Hans traf. Nun musste alles reibungslos ablaufen. Und dafür musste er Hans unbedingt einweihen.
Es galt, die Haferflocken und den Zucker so schnell wie möglich und unbemerkt in ihr gemeinsames Zimmer zu bringen und dort zu verstecken. »Die Mutter schlägt uns tot, wenn sie uns erwischt«, gab sein Bruder zu bedenken – und war dann doch bereit mitzumachen. Als es am Abend Zeit wurde, zu Bett zu gehen, verließen die beiden Brüder, wie immer nacheinander, die unteren Wohnräume – jeder mit einem Arm voller Tüten. Zucker und Haferflocken verschwanden in einem Wandschrank hinter dem Bett von Hans. Früher war das einmal eine Türöffnung zum Nebenzimmer gewesen, aber irgendwann hatte jemand einen offenen Regalschrank in diese Nische gebaut. Der Teil unterhalb des untersten Regalbretts war mit Holz verkleidet und bildete einen idealen Hohlraum, der den beiden Brüdern schon früher als Versteck gedient hatte. Von diesem Abend an gab es als Tagesration für jeden der beiden Brüder zwei gestrichene Löffel Haferflocken gemischt mit zwei Löffeln Zucker, mehr nicht. Bei dieser Rationierung sollte der Vorrat für einige Monate reichen. Beide Brüder achteten peinlich darauf, dass weder eine Haferflocke noch ein Zuckerkrümel im Zimmer verstreut wurden, was sie eventuell hätte verraten können. Der Mutter fiel das gesündere Aussehen der beiden Brüder im Vergleich zu den übrigen Geschwistern zwar auf – aber welche Mutter forscht in Notzeiten schon nach, warum es ihren Kindern gut geht?
Später sagte mein Vater mir: »Mein Selbsterhaltungstrieb war damals größer als mein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mutter und meinen noch lebenden Geschwistern.« Ich glaube, dieses Schuldgefühl hat ihn sein Leben lang begleitet.

Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst

Karl-Anton Ebert wurde zwar in Gelsenkirchen geboren, aber die Wurzeln der Familie lagen in Ostpreußen: im Ort Rosengarth unweit von Allenstein. Der dortige Hof seines Großvaters war zwar nicht mit den Gutshöfen der adligen Junker vergleichbar, aber doch deutlich größer als die ärmlichen Höfe der vielen »Eigenkatler«, wie man dort die Kleinbauern nennt. Auf dem Anwesen der Eberts arbeiteten zur Erntezeit zwanzig bis dreißig meist polnische Saisonerntehelfer. Bei ihnen war der Hof der Eberts bekannt und beliebt, weil der vor der Saison vereinbarte Lohn am Ende verlässlich in voller Höhe ausgezahlt wurde – egal wie gut oder schlecht die Ernte ausgefallen war. Die Eberts profitierten ihrerseits davon, dass die Arbeitsleistung ihrer Saisonarbeiter ebenso verlässlich war.
Trotz der großen Entfernung zwischen Gelsenkirchen und Rosengarth waren Besuche der ganzen Familie auf dem großelterlichen Hof nichts Außergewöhnliches. Karl-Antons Vater war technischer Werkleiter der Gelsenkirchener Ofenwerke und hatte vor 1914 mehrfach die Aufgabe, polnische Gastarbeiter aus Masuren anzuwerben. Solche Werbefahrten dauerten meist mehrere Wochen. Während dieser ­Reisen hielten sich seine Frau und seine Kinder in seinem Elternhaus in Ostpreußen auf – bis der Vater genügend Arbeitswillige angeworben hatte und man gemeinsam ins Ruhrgebiet zurückkehren konnte.
Das Weihnachtsfest feierte die ganze Familie regelmäßig gemeinsam in Ostpreußen. Allein die lange Bahnfahrt von Gelsenkirchen nach Allenstein mit mehrfachem Umsteigen war für die Kinder ein Erlebnis. Auch seine Schulferien verbrachte Karl-Anton Ebert zusammen mit seinen jüngeren Geschwistern einige Male auf dem Hof in Ostpreußen. Es waren, so sollte er mir später einmal sagen, die glücklichsten Zeiten seiner Kindheit.
Aber dieses Glück endete 1914 abrupt. Kurz vor Kriegsbeginn starben Karl-Antons Großeltern; er war damals zehn Jahre alt. Nach damaligem Brauch erbte der älteste Sohn, also Karl-Antons Onkel Johann, den großväterlichen Hof. Der Vater und seine Schwester, Tante Martha, die mit ihrem Mann Stanis, einem gebürtigen Polen, ebenfalls in Gelsenkirchen wohnte, erhielten jeweils die für damals durchaus stattliche Summe von 20 000 Goldmark. Mit diesem Erbe wollten die beiden Geschwister sich eine gemeinsame Zukunft in Gelsenkirchen aufbauen. Sie kauften ein großes Baugelände am Stadtrand, um dort – mit dem Kapital und viel Eigenleistung – eine ganze Reihe von Mietshäusern zu errichten. Denn es kamen immer mehr Menschen ins Ruhrgebiet, weil es dort Arbeit gab, und die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum war enorm.
Aber dann bricht am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg aus. Für das gerade begonnene Bauvorhaben ist das ein doppeltes Desaster. Zum einen werden alle wehrfähigen Männer zum Militärdienst einberufen, also auch praktisch alle Bauhandwerker, und zum anderen setzt eine Geldentwertung ein, die das ererbte Vermögen schnell dahinschmelzen lässt. Zum Glück erweist Tante Martha sich als tüchtige Geschäftsfrau und Organisatorin. Deshalb gelingt es in den ersten beiden Kriegsjahren, immerhin zwei Häuser fertigzustellen. Als Karl-Antons Vater 1917 oder 1918 mit 40 Jahren doch noch einberufen und an die Westfront abkommandiert wird, muss das Bauprojekt in großer Eile für die Dauer seiner Abwesenheit ganz in die Hände seiner Schwester gelegt werden. Nach seiner Rückkehr würde man dann neue Verträge schlie­ßen, um die Eigentumsverhältnisse wieder zu entflechten. Dass man dann in eine goldene Zukunft blicken würde, weil man den Krieg gewinnen werde – davon sind damals alle überzeugt.
Solange sein Vater noch zu Hause bei der Familie war, hatte das Gymnasium Karl-Anton keine Schwierigkeiten bereitet. Das lag vor allem daran, dass die Lehrer des Gymnasiums ihn als Sohn des leitenden Werkmeisters in einer der größten Spezialfabriken des Ruhrgebiets mit respektvoller Distanz behandelten. Das Gegenteil von respektvoller Distanz hingegen erlebt er in seiner Schulklasse. Es ist ein morgendliches Ritual der Grausamkeit, das sich täglich nach dem gemeinsamen Gottesdienst abspielt. Der Klassenlehrer, Studienrat Riese, ist ein eher kleines hageres Männlein mit Nickelbrille und einer kerzengraden Körperhaltung, die wohl betonen soll, dass er nicht gewillt ist, sich auch nur einen Zentimeter kleiner zu machen, als es seine Statur hergibt. Sein Durchsetzungsvermögen ist bei seinen Schülern berüchtigt und gefürchtet, weshalb er schon früh den Spitznamen »Studienrat Stöcklein« erhalten hat. Sein Morgenritual läuft stets gleich ab: Wer dem morgendlichen Kirchgang ferngeblieben, zu spät gekommen oder durch ein kurzes Flüstern mit seinem Nebenmann in der Kirche oder einen unbedachtem Blickwechsel oder ein sonstiges Vergehen aufgefallen ist, der bekommt gleich vor Unterrichtsbeginn zuerst einmal eine ordentliche Tracht Prügel mit dem Rohrstock. Vier bis fünf Delinquenten am Morgen sind die Regel – aber auffälligerweise treffen diese regelmäßigen Schläge ausschließlich Schüler aus sozial schwachen Elternhäusern, aus denen keine Beschwerde zu erwarten ist.
Nur einmal gibt es eine Atempause: Der Vater von Karl-Antons Klassenkamerad Alfons, ein Urgestein von einem Bergmann, erscheint eines Morgens während der ersten Pause auf dem Schulhof und prügelt Riese, der die Schulhofaufsicht führt, nach nur kurzem Wortwechsel krankenhausreif. Obwohl der Lehrer jämmerlich um Hilfe ruft, greift niemand ein, um ihm zur Hilfe zu kommen. Alfons ist ein kleiner kluger Kerl, nur sind seine Eltern nicht in der Lage, das Schulgeld für das Gymnasium aufzubringen. Es wird von einer Stiftung der Zeche bezahlt, in der sein Vater arbeitet. Der Krankenhausaufenthalt von Studienrat Riese dauert leider nur zwei kurze Wochen. Alfons Vater kommt nach einer Anzeige wegen Körperverletzung vor Gericht, erhält eine Gefängnisstrafe von mehreren Monaten und verliert seinen Arbeitsplatz in der Zeche. Alfons wird von der Schule verwiesen. Studienrat Riese kommt nach seinem Krankenhausaufenthalt zurück in den Schuldienst und kann seine sadistische Ader ungehindert weiter ausleben – was er auch tut. Jeder weiß um die Willkür und Brutalität seiner Prügelorgien, aber niemand schreitet ein. Eine bittere Lektion für meinen Vater: Auch offensichtliches Unrecht wird nicht geahndet, wenn das der Autorität einer Institution schaden würde.
Als Karl-Antons Vater eingezogen wird, legt Lehrer Riese die bisherige respektvolle Distanz ganz schnell ab. Nun gehört auch mein Vater zu den unterprivilegierten Prügelbeziehern. So wird ihm das Gymnasium, das er bis dahin gerne besucht hat, schnell unerträglich. Und je mehr Deutschland dem Kriegsende entgegentaumelt, desto schlimmer wird das Leben für Karl-Anton. Die Ernährungslage ist unerträglich; den Tod seiner drei kleinen Geschwister hat er hautnah und hilflos miterleben müssen; der Vater ist zwar am Leben, aber verwundet im Lazarett und kann ihm nicht helfen; die verzweifelte Mutter gibt ihr Bestes, ist aber mit der Situation völlig überfordert. Im Frühsommer 1919 ist Karl-Anton fünfzehn Jahre alt – und entschließt sich zu einem Schritt, den er in seinen geheimsten Gedanken schon über mehrere Wochen immer wieder durchgespielt, aber mangels Mut immer wieder verworfen hat. Und auch, weil er davor zurückscheut, der Mutter damit weiteres Leid anzutun. Aber irgendwann ist es dann doch so weit. An einem Abend im Mai 1919 teilt er mit seinem Bruder Hans die letzten Vorräte an Haferflocken und Zucker auf, der sich zwar wundert, aber nicht nachfragt. Am nächsten Morgen geht er wie üblich mit seiner Schultasche aus dem Haus, aber statt den Weg zur Schule schlägt er den zum Güterbahnhof ein und klettert dort unbemerkt in einen Waggon, der bereits beladen und mit dem Zielort Berlin beschriftet ist. Sein Ziel ist sein Onkel Johann und dessen Bauernhof in Ostpreußen. Er weiß, dass es ein langer Weg wird; aber selbst wenn Rosengarth am Ende der Welt gelegen hätte, hätte er sich aufgemacht.
Der Hof in Ostpreußen sind in seiner Erinnerung die heile Welt und der Himmel – und das Leben in Gelsenkirchen ist die Hölle. Die Gedanken an die Mutter blendet er aus. Als er die schwere Tür des Waggons zur Seite geschoben hat und hineingeklettert ist, schiebt er die Tür, so gut er kann, in die alte Position zurück, macht es sich in der hintersten Ecke zwischen unzähligen Kisten und Kästen so bequem, wie es nur geht, und wartet. Den üblichen Inhalt seiner Schul­tasche hat er ausgetauscht gegen den wenigen Proviant, dessen er habhaft werden konnte: neben Zucker und Hafer­flocken auch ein paar Nüsse und Möhren sowie zwei Tonflaschen mit Wasser. Es vergehen qualvolle Stunden, in denen er im Güterwaggon sitzt und wartet – und nichts geschieht. Als sich der Zug endlich mit einem heftigen Ruck in Bewegung setzt, ist es fast schon Mittag. Das eintönige Klack-Klack, Klack-Klack der Eisenräder auf den Schienensträngen lässt ihn, eingehüllt in seinen warmen Mantel, irgendwann einschlafen.
Fast eine Woche dauert die Reise, immer versteckt in Güterwaggons. Zweimal steigt er um – immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Die Beschriftungen auf den Waggons sind mit ihrer deutschen Gründlichkeit stets ein sicherer Hinweis auf den richtigen Weg. Der Zielbahnhof des Wagens, in den er zuletzt geklettert ist, heißt Königsberg. Die damalige Hauptstadt von Ostpreußen liegt allerdings schon jenseits seines eigentlichen Ziels Allenstein. Auf dieser letzten Etappe seiner Reise hat er plötzlich einen Mitreisenden, der in der Nacht, während eines Stopps, ebenfalls in seinen Waggon gestiegen ist: ein ehemaliger Soldat. Er ist nur unwesentlich älter als Karl-Anton Ebert, gezeichnet von den Grauen des Krieges, die er an der Westfront erlebt hat – und auf der Flucht vor sich selbst. Was er erzählt, ist unvorstellbar und zum Teil wirr. Aber beide verstehen sich. Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft – und für Karl-Anton Ebert ist es ein besonderer Glücksfall, denn der Soldat kennt sich aus in Ostpreußen. Es ist seine Heimat. Als der Zug in der Nähe von Allenstein auf offener Strecke an einem Signal halten muss, steigt Karl-Anton aus, und die Wege der beiden trennen sich wieder. Mein Vater ist wieder allein unterwegs. Seine spärlichen Vorräte sind endgültig aufgebraucht. Teils zu Fuß, teils auf Pferdefuhrwerken freundlicher Bauern gelangt er zuerst nach Allenstein und dann bis zum Hof des Onkels nach Rosengarth. Als er dort nach einer langen Woche ankommt, ist das Mitleid über seinen körperlichen Zustand derart groß, dass der Onkel sich entschließt, dem jungen Ausreißer keine Vorwürfe zu machen, sondern ihm erst einmal zum Normgewicht eines Jugendlichen zu verhelfen. Unterernährung und die Strapazen der Reise haben ihn deutlich gezeichnet – aber gebrochen haben sie ihn nicht. Er ist zwar erst fünfzehn Jahre alt, aber im Wesen fast ein Erwachsener geworden, ausgestattet mit einem eisernen Willen und einer starken Selbstdisziplin. Hier auf dem Hof des Onkels wird er fast zwölf Monate verbringen. Eine glück­liche Zeit, von der er hofft, dass sie nie enden möge. Jede zweite Woche fährt sein Onkel nach Allenstein, um Erzeugnisse aus seiner Landwirtschaft auszuliefern. Bereits bei der ersten Fahrt nach Antons Ankunft hat er einen Brief an seine Schwägerin in Gelsenkirchen aufgegeben, um ihr zu melden, dass sich ihr Ältester wohlauf bei ihm in Ostpreußen befinde. »Mach dir keine Sorgen, es geht ihm gut.« Karl-Anton hofft innig, dass dieses Schreiben seine Empfängerin nie erreichen möge, damit aus seinem Aufenthalt in Rosengarth einer für immer werde. Wo er kann, hilft er auf dem Hof bei der Arbeit und macht sich nützlich. Die Arbeit in der Landwirtschaft macht ihm Freude. Sein Onkel ist nicht verheiratet und hat keine Kinder – warum sollte er nicht für immer bleiben dürfen? Je mehr Zeit ins Land geht, ohne dass eine Antwort aus Gelsenkirchen kommt, desto unbeschwerter wird er. Anders als zuhause hat er hier ein eigenes Zimmer – das frühere Schlafgemach der Großeltern. Über der Tür zu diesem Raum hängt ein geschnitztes Eichenbrett, auf dem kunstvoll ein merkwürdiger Satz eingeritzt ist:
»Gehe nie zu deinem Fürscht, wenn du nicht gerufen würscht.«
»Was bedeutet der Satz?«, fragt er einmal seinen Onkel Johann; und dieser erzählt ihm folgende Geschichte:
»Unsere Äcker südlich von unserem Hof grenzen unmittelbar an die Felder einer Junkerfamilie. In mehreren aufeinanderfolgenden Jahren musste dein Großvater einst feststellen, dass sein dortiger Acker immer kleiner und der Acker der Adelsfamilie immer größer wurde, weil die Grenzsteine wiederholt zu Gunsten des Junkers versetzt wurden. Irgendwann fasste sich dein Großvater ein Herz und verklagte die Junkerfamilie. Der Sachverhalt war zwar ein­deutig, aber der Richter, ebenfalls ein Junker und mit dem Beklagten verwandt, tat sich schwer, zu einem Urteil zu kommen. Er unterbrach die Verhandlung, um mit jeder Partei unter vier ­Augen zu sprechen. Das Vieraugengespräch mit deinem Großvater hörte sich folgendermaßen an: ›Ich sehe hier keinen eindeutigen Sachverhalt, vor allem, wenn ich gegen einen meiner Verwandten ein Urteil fällen soll. Ich könnte mir aber vorstellen, dennoch zu deinen Gunsten zu entscheiden. Wie ich gehört habe, hast du dir ein drittes Pferdegespann mit neuem Pflug für deinen Hof angeschafft. Wenn du dich bereit erklären würdest, in der nächste Saison einen meiner Äcker damit zu bewirtschaften, würde mir das Urteil leichter fallen.‹
Was sollte dein Großvater tun? Wollte er den Prozess gewinnen, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Vorschlag des Richters anzunehmen – in der Hoffnung, dass der zu bewirtschaftende Acker vielleicht nicht allzu groß sein möge. Also nahm er den Vorschlag an und gewann den Prozess. Sein neues Gespann mitsamt Knecht, den er ja auch bezahlen musste, war für die gesamte folgende Saison ein Totalausfall; denn der zu bewirtschaftende Acker des Richt...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Inhalt
  3. Prolog
  4. Vorwort
  5. Geld ist Macht
  6. Karl-Anton Ebert (1904­ –1989)
  7. Das »Adenauer-Fernsehen«
  8. Anruf aus Bonn
  9. Nach der Pensionierung
  10. Nachwort
  11. Anmerkungen
  12. Personenregister