II Postdemokratie?
Nehmen wir im Folgenden einmal an, Jean-Jacques Rousseau habe recht, wenn er zu Beginn seiner 1762 veröffentlichten staatsphilosophischen Schrift »Du contrat social« behauptet, der Mensch sei frei geboren. Und nehmen wir weiter an, eine Demokratie bedürfe der Demokraten, und Demokraten wiederum seien Menschen, die einen Begriff von der Freiheit haben.
Zu Rousseau: Wir wissen, was er unter einer Geburt versteht. Aber was wird der Philosoph mit der Freiheit gemeint haben? Und warum verbindet er sie mit der Geburt eines Menschen?
Ein Neugeborenes findet eine Welt und andere Menschen vor.
Niemand wird alleine geboren.
Über das Bewusstsein von Neugeborenen wissen wir wenig. Als Erwachsene besitzen wir keine Erinnerung an jene Zeit. Dass wir irgendwann geboren wurden, leiten wir ab, durch die Erzählung anderer und durch Beobachtung.
Wir sehen, wie der Säugling auf die Befriedigung seiner primären Bedürfnisse konzentriert ist. Er will trinken, er will schlafen, er will Zuwendung. Mehr zu wollen wäre für ihn sinnlos, er wüsste mit nichts, das über die vitalen Interessen hinausgeht, etwas anzufangen.
Was soll ihm die Freiheit, wenn er gebunden ist an die Abfolge seines Stoffwechsels, seiner Wach- und Schlafphasen? Warum schreibt ihm Rousseau eine Freiheit zu, für die ihm offensichtlich sowohl das Bewusstsein als auch die Notwendigkeit fehlen?
Die Antwort lautet: Die Möglichkeiten eines Neugeborenen sind beschränkt, doch mit jedem Tag erweitert es sie. Der Säugling entwickelt sich, vergrößert seinen Aktionsradius, er wächst zum Kind. Das Kind kriecht, spielt, geht, spricht und entwickelt sich zum Jugendlichen, der noch in der Obhut seiner Eltern steht, bald aber, mit der gesetzlichen Volljährigkeit, autonom wird und seine Möglichkeiten, seine Freiheit nutzen darf. In einer Demokratie ist dies gleichbedeutend mit dem Beginn des Stimm- und Wahlrechts.
Die Freiheit ist in diesem Sinne ein Potenzial. Was aber geschieht mit der potenziellen Freiheit eines erwachsenen Menschen? Seine Möglichkeiten erweitern sich ja nicht mehr natürlich, im Gegenteil, bald schon baut der Körper ab. Mit dem Alter werden die Möglichkeiten vielleicht weniger, aber die potenzielle Freiheit bleibt davon unberührt. Was der erwachsene Mensch mit seiner Freiheit unternimmt, liegt an ihm selbst. Es liegt an seinem Willen, seinem Bewusstsein, ob er die gegebenen Möglichkeiten erkennt und nutzt.
Wie zeigt sich der freie Mensch? Indem er die potenzielle Freiheit umsetzt. Er setzt sie um durch Entscheidungen. Dafür braucht es Wahlmöglichkeiten. Mit der Zunahme der Möglichkeiten wird die Entscheidungsfindung komplexer. Die Wahl wird zur Qual. Mit der Anzahl der Möglichkeiten entwickelt sich die Freiheit, auch sie wird komplexer. Mit der Erweiterung der Möglichkeiten entwickelt sich demnach auch die Demokratie und wird dadurch komplexer. Die Komplexität ist ein Maß für die Entwicklung einer Demokratie.
Aber wie verhält sich nun der Begriff »Postdemokratie« dazu? Zuerst: Die Vorsilbe ist lateinisch und bedeutet »nach«. Nach der Moderne erschien die Postmoderne und ersetzte sie. Die Postmoderne bezeichnet eine abgeschlossene Entwicklung. Entsprechend beschreibt »Postdemokratie« etwas, das nach der Demokratie gekommen sein muss – doch damit ergibt sich ein Widerspruch.
Die Moderne bezieht sich auf eine zeitliche Epoche. Epochen enden und werden durch andere, hier die Postmoderne, abgelöst. Auf die Postmoderne kann alles Mögliche folgen, nur nicht die Moderne.
Gleichfalls kann auf Postdemokratie keine Demokratie mehr folgen – außer ihre Apologeten verteidigten ein zyklisches Geschichtsverständnis. Damit würden sie sich allerdings außerhalb der Wissenschaft setzen, deren Modelle von einem expansiven Universum und einer irreversiblen Zeit ausgehen.
Der Kategorienfehler ist offensichtlich. Die Demokratie ist keine Epoche, sie ist eine Methode und steht in einer zeitlichen Entwicklung. Sie kann schlechterdings niemals vollständig verwirklicht werden. Die Zahl der Möglichkeiten ist unbegrenzt, und mit der Erweiterung der Möglichkeiten hat sich die Demokratie entwickelt, indem, zum Beispiel, das Stimm- und Wahlrecht für Frauen erkämpft wurde.
Damit war die Demokratie in keiner Weise vollendet. In jeder Demokratie leben Menschen, die keine Demokraten sein dürfen oder sein können, was einen Mangel beschreibt, die Demokratie aber nicht grundsätzlich anficht, die evolutiv ist und sich also entwickelt und erweitert.
Dies folgt aus der Tatsache, dass die Demokratie eine Methode ist, die ihre eigene Verbesserung ermöglicht, weil sie davon ausgeht, dass die Freiheit immer neu verwirklicht werden will.
Postdemokraten sind nicht jene, die in einer unvollständigen und mangelhaften Demokratie leben, denn mangelhaft wird sie immer sein, es sind jene, die, aus welchen Gründen auch immer, den evolutiven Freiheitsbegriff verworfen haben, freiwillig oder unfreiwillig.
»Postdemokratie« stellt ein statisches, kein dynamisches Modell zur Verfügung. Sie gibt die Demokratie damit verloren. »Postdemokratie« ist die Negation der Demokratie. Für diese Negation der Demokratie gibt es bereits einen Begriff, er heißt »Diktatur«.
Warum ein neuer Begriff? Warum »Postdemokratie« statt »Diktatur«? Vielleicht schrecken die Apologeten vor der Härte und der geschichtlichen Erfahrung zurück. Dann stellt sich immer noch die Frage, warum sie nicht den Begriff der »Prädiktatur« einführen. Die Folgen für den Diskurs wären entscheidend. Die Denkrichtung wäre nicht retro-, sondern prospektiv, auf die kommende Entwicklung gerichtet. Ferner denunziert man die Demokratie nicht als moribund. Dazu hätten sich die Möglichkeiten begleitend erweitert. Und schließlich und entscheidend: Der Begriff der Prädiktatur beschreibt die geschichtliche Situation genauer – die Zahl der Menschen, die in Systemen leben, die sich Diktaturen annähern, nimmt zu. Abnehmend ist die Zahl der Demokraten.
Der Demontage gesellschaftlicher Strukturen geht die Demontage der Begriffe voraus. Die Apologeten der sogenannten »Postdemokratie« haben eifrig Hand an den Rückbau der Demokratie gelegt. Warum? Was sind ihre Motive? Warum verteidigen sie die Freiheit nicht, warum geben sie die Demokratie verloren? Aus diskursiver Erschöpfung? Aus biografischer Resignation?
Jedes soziale System, gleich welcher Art, schränkt die Freiheit des Menschen ein. Im Gegensatz zur Diktatur hat sich die Demokratie dafür zu rechtfertigen. Demokratien kann man entwickeln und reformieren, solange die Demokraten verstehen, wie sie ihre Freiheit ins Spiel der Möglichkeiten einbringen können.
Mit den Schwanengesängen auf die Demokratie geht die Mutlosigkeit einher. Sie wird, wie immer, von ihrem Gegenstück, dem Chauvinismus, begleitet. Die Selbstwahrnehmung der Demokraten schwankt in unseren Tagen, wie bei einem Narzissten, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Größenfantasien. Aus dieser Disposition entstehen höchstens poröse Analysen. Ihre Dürftigkeit wird mit Lametta behängt, in Formen bunter Neologismen. Einmal beklatscht man die »Postdemokratie«, danach das »Anthropozän«, schließlich den »Homo Deus«. In allen Fällen hört man im Hintergrund dem begrifflichen Fortschritt leise das Totenglöcklein läuten.
Wir erleben, wie die Demokratie von allen Seiten angegriffen und der Untauglichkeit bezichtigt wird. Die Qual der Wahl wird empfunden und beschworen. Folgerichtig verbreitet sich Untergangsstimmung. Statt daran zu arbeiten, die Zahl der Möglichkeiten zu vergrößern und die Demokraten zu befähigen, Entscheidungen zu treffen, führt man begriffliche Schrumpfformen ein. Den Verlust der Demokratie nimmt man als besiegelt und fragt sich nur, wie die Schmerzen gelindert werden können. Statt zu beleben, wird palliativ behandelt. Und man wird, wie in jeder hypochondrischen Episode, auf sich selbst zurückgeworfen und nimmt den Blick von der Welt und von den Menschen, die man darin vorfindet. Der letzte Gestus ist Wehleidigkeit, die letzte Form eine burleske Komik, die letzte Frage an den anderen: Bist du Arzt oder Schamane, kannst du mich retten?
Identitätspolitik
Am 14. Juni 2019 streikten in der Schweiz landesweit die Frauen, um gegen die vielfältigen Diskriminierungen in Politik und Gesellschaft zu protestieren. Dieser Kampftag gab Gelegenheit, sich zu erinnern, wie viel wir der Identitätspolitik zu verdanken haben und wie sehr wir als Gesellschaft daran arbeiten müssen, sie zu überwinden. Denn einerseits ermöglicht sie die Befreiung marginalisierter Gruppen. Ohne sie gäbe es keine Frauenemanzipation, keine Bürgerrechtsbewegung, keine Gay-Pride-Paraden. Identitätspolitik ist gerecht und notwendig, weil sie den diskriminierten Menschen Selbstachtung und Respekt verleiht. Andererseits trägt Identitätspolitik einen Widerspruch in sich. Und in gewisser Weise ist der 14. Juni ein Symbol für dieses Paradox. Denn es gäbe etwas viel Besseres als einen Frauenstreiktag.
An einem heißen Nachmittag im August 1963 hielt der vierunddreißigjährige Reverend Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial in Washington DC seine berühmteste Rede, in der er das Ziel seiner Identitätspolitik formulierte: »Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut beurteilt werden, sondern nach dem Gehalt ihres Charakters.«
Seine Kinder sollten an ihren individuellen Fähigkeiten und nicht an der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe gemessen werden. King berief sich auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die den Anspruch auf Gleichheit zweihundert Jahre früher in eine so schlichte wie geniale Formel goss: »Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geboren sind und von ihrem Schöpfer mit einigen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden, darunter das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück.«
Einige der Verfassungsgeber, George Washington und Thomas Jefferson etwa, waren Sklavenhalter und zählten die Afroamerikaner nicht zu den Menschen, die diese unveräußerlichen Rechte besaßen, und auch zu Zeiten Martin Luther Kings war dieser Anspruch nirgends verwirklicht. In weiten Teilen des Landes herrschte nach wie vor Rassentrennung. Verfolgung, Diskriminierung und Lynchmorde waren allgegenwärtig.
Da nicht zu leugnen war, dass die Afroamerikaner nicht als Individuen, sondern wegen ihrer Gruppenidentität ausgegrenzt wurden, kämpften Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung zuerst dafür, die Solidarität unter ihnen zu festigen und die eigene schmerzvolle Geschichte nicht als Makel, sondern als Stärke zu begreifen. Die Anerkennung der Identität als verfolgte Gruppe sollte der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung sein. Der zweite Schritt sollte diese Differenz für jeden Einzelnen aufheben und ihn zu einem gleichberechtigten und vollwertigen Mitglied der amerikanischen Gesellschaft machen.
Mehr als vierzig Jahre nach Martin Luther Kings Rede, nach Jahrzehnten des politischen, juristischen und gesellschaftlichen Kampfes, nach einigen Siegen und vielen Niederlagen, forderte im Juli 2004 ein junger Senator aus Illinois auf dem Konvent der Demokratischen Partei in Boston die amerikanische Gesellschaft auf, nun endlich diesen zweiten Schritt zu machen. Die Gleichheit der Amerikanerinnen und Amerikaner sei längst nicht verwirklicht. Die sozialen Missstände würden das Wohl der gesamten Gesellschaft gefährden, nicht nur jenes der Marginalisierten, sondern jedes Bürgers, ob privilegiert oder nicht.
»Während ich hier rede«, so sprach dieser Mann, »gibt es jene, die uns trennen wollen. […] All jenen sage ich: Es gibt kein liberales Amerika, kein konservatives Amerika, es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt kein schwarzes Amerika, kein weißes Amerika, kein Latino-Amerika, kein asiatisches Amerika, es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika.«
Dieser Senator hieß Barack Obama, und es war diese hoffnungsvolle, mitreißende Ansprache, ein Glanzstück der Rhetorik, die ihn auf einen Schlag landesweit berühmt machte und ihn vier Jahre später ins Weiße Haus tragen sollte. Als Martin Luther King seine Rede hielt, war Obama kaum zwei Jahre alt, und nun forderte er öffentlich das Ende der Identitätspolitik. Er wollte, dass Martin Luther Kings Traum endlich wahr werde. Er wollte nicht länger nur als Mitglied einer Gruppe, sondern endlich als Individuum gesehen werden, endlich dieser Unsichtbarkeit entkommen, die der Schriftsteller Ralph Ellison in den fünfziger Jahren in seinem Roman »Invisible Man« als Folge der Rassentrennung erkannt hatte. »Wer sich mir nähert«, meint der namenlose, schwarze Ich-Erzähler, »sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie – ja, alles sieht er, alles, nur mich nicht.«
War Obama, als er das höchste Amt der USA erreicht hatte und Präsident geworden war, endlich sichtbar geworden? War der Traum der Gleichheit verwirklicht? War seine Wahl der Beweis dafür, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielte? Das konnte niemand behaupten. Die Hautfarbe bestimmte die Bildungschancen, das Einkommen und die Lebenserwartung. Und noch etwas anderes war schiefgegangen. Ein Indiz dafür liefert Ben Rhodes, Barack Obamas außenpolitischer Berater, in seinen Erinnerungen an die Jahre im Weißen Haus.[14] Bezeichnenderweise geht es auch in dieser Anekdote um eine Ansprache, jene, die Obama in seinem ersten Amtsjahr an der Universität in Kairo hielt. Es war die Rede an die islamische Welt, gehalten im Juni 2009 im Hauptgebäude der Universität Kairo. Der amerikanische Präsident plädierte für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen den USA und der arabischen Welt. Das Publikum war bunt gemischt. Säkular orientierte Aktivisten, Intellektuelle, politische Anführer, Kleriker, Frauenrechtlerinnen und Mitglieder der Muslimbruderschaft – ein Abbild der ägyptischen Gesellschaft. Die Menschen im Saal hatten unterschiedliche politische Ansichten, und obwohl Obama viele brisante Fragen ansprach, die Frauenfrage, den Status von Israel und das Verhältnis des Christentums zum Islam, stimmte die Mehrheit seinen Aussagen zu. Die Rede wurde zu einem phänomenalen Erfolg, nicht nur in Ägypten selbst. Die Europäische Union, Pakistan und selbst die israelische Regierung begrüßten die Rede.
Wie war das möglich? Was war der Schlüssel? Ben Rhodes liefert eine bittere Pointe. Viele Jahre später habe er eine Palästinenserin getroffen und mit ihr ein längeres Gespräch geführt. Sie habe die Kairoer Rede niemals vergessen, meinte sie, Obamas Ansprache sei ein Auslöser für den arabischen Frühling gewesen. Und schließlich meinte sie: »Aber es war nicht die Rede. Er war es. Die jungen Leute sahen ihn, einen Schwarzen als Präsidenten Amerikas, jemand, der ähnlich aussah wie sie. Und sie dachten: Warum nicht ich?«
Ein weiteres Mal war ein Afroamerikaner hinter seiner Gruppenidentität in seiner Individualität verschwunden. Wieder war er unsichtbar geworden. Was er gesagt hatte, war weniger wichtig als die Farbe seiner Haut, mit dem Unterschied, dass dieses Aussehen hier als Auszeichnung, nicht mehr als Makel definiert wurde. Aber doch schrieb es Obama in einer Identität fest, die er nicht gewählt hatte und der er, im Guten wie im Schlechten, offenbar nicht entkommen konnte.In dieser Anekdote wird das Paradox und die Tragik jeder Identitätspolitik augenscheinlich. Gruppenidentität ist eine Fiktion, eine Erfindung, die nur durch Diskriminierung zustande kommt. Die Parameter, die für diese Identität angeführt werden, sind willkürlich, sie haben keine Essenz. Afroamerikaner unterscheiden sich untereinander, so wie sich Weiße, Frauen, Homosexuelle oder Mexikanerinnen untereinander unterscheiden. Es ist eine Fiktion, die sie anhand eines zufälligen Kriteriums in dieser Identität festschreibt. Die geschichtliche Kontingenz bringt sie hervor, das Interesse einer privilegierten Gruppe, ihre Macht zu legitimieren und zu befestigen. Die Unterdrückung hingegen ist keine Erfindung, und um sie zu überwinden, muss diese Fiktion vorerst als historisches Faktum akzeptiert werden. In Kairo wurde Obama Opfer dieser Affirmation, denn was sollte ein in Hawaii geborener, in Harvard ausgebildeter Mann mit einer palästinensischen Frau gemeinsam haben? Welche Identität teilt er mit ihr?
Und es gibt ein weiteres Problem. Nicht jede Identitätspolitik hat die Anerkennung durch d...