Herbst in Nordkorea
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Herbst in Nordkorea

Annäherung an ein verschlossenes Land

  1. 220 Seiten
  2. German
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Herbst in Nordkorea

Annäherung an ein verschlossenes Land

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Über dieses Buch

Der Autor Rudolf Bussmann ist 2018 in den kaum besuchten Norden des Landes gereist. Seither lässt ihn dieses vereinsamte Land nicht mehr los. Aus seinen Tagesnotizen und all seinem Hintergrundwissen ist ein bildstarker, berührender, nachdenklicher Reiseessay entstanden.Aus Nordkorea dringen kaum gesicherte Nachrichten zu uns. Wie sehen die Verhältnisse fernab der Hauptstadt aus? Bussmann hat zusammen mit der in der Schweiz lebenden südkoreanischen Journalistin Hoo Nam Seelmann die abgelegene Nordprovinz bereist. Die beiden haben Schulen und Fabriken besucht, Wanderungen in die Berge unternommen. Sie sind Menschen begegnet, die aber kaum auf sie reagierten, Gesichtern, die Fragen aufwerfen – zum Beispiel nach der Situation von Minderheiten und auch danach, was Freiheit in einem Land wie diesem eigentlich bedeutet. Und hier in der Ferne scheint die Mentalitätsspanne zwischen den Freunden in jedem ihrer mit feiner Selbstironie dokumentierten Gespräche auf – mehr als je in Europa.Da von ihren zwei Führern nur spärliche Auskünfte über Kim Jong-uns Staat zu erhalten waren, machte sich der Autor auf eine zweite Reise, die in die Geschichte Nordkoreas führte, in Statistiken und Wirtschaftsdaten, in die Erzählungen geflohener Nordkoreaner. Seine Reportage zeigt ein Land voller Schönheit und voller Rätsel, mit einer unbewältigten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft.

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Information

Nordkoreas Marsch weg vom Sozialismus

Die Tragödie, die Mitte der neunziger Jahre die Demokratische Volksrepublik Korea DVRK heimsuchte, ist bisher weitgehend unerforscht. Es gibt davon keine umfassende Darstellung. Die dazu nötigen Grundlagen – etwa amtliche Quellen, Bevölkerungsstatistiken, Zivilstandsregister – fehlen oder sind nicht zugänglich. Wenn das Regime generell nur zögerlich Daten über den Zustand des Staates preisgibt, gilt dies erst recht für eine Zeit, in der ihm die Kontrolle über die Lebensmittelzuteilung, die Energienutzung, den Unterhalt der Agrarflächen entglitt. Niemand weiß, wie viele Leute während der Zeit der großen Hungersnot gestorben sind; Schätzungen gehen von 500’000 bis zwei, drei Millionen Menschen aus. Allein die Divergenz dieser unfassbaren Zahlen weist auf die dramatischen Zustände von damals hin. Auch die Friedhöfe erlauben keine Rückschlüsse. Da sie die Toten nicht mehr fassen konnten, wurden am Rand der Siedlungsgebiete Massengräber ausgehoben, in denen eine unbekannte Anzahl Verhungerter liegen. Wer sich ein Bild machen will, ist auf rudimentäre Wirtschaftsdaten, Berichte von Hilfsorganisationen, Aussagen von Geflohenen angewiesen. Man hat es mit Puzzleteilen zu tun, die kein Ganzes ergeben, Zusammenhänge allenfalls erahnen lassen.
Auf unserer Reise erhalten wir keine Auskünfte über diese Zeit. Herr Kang schweigt darüber, und von Herrn Lee ist in einem der kurzen persönlichen Momente nicht mehr zu erfahren, als dass er mit neun Jahren die Überschwemmungen und die Hungersnot miterlebt habe. Meiner Neugier entzieht er sich, indem er von etwas anderem zu sprechen beginnt.
Die Fragen, die mich beschäftigen, zielen indes auf einen größeren Kontext. Sie betreffen den Wandel, der sich, beginnend mit den ausgehenden achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, im Schoß der sozialistischen Ordnung vollzogen haben muss. Wie kam es, dass ein Staat, der sich von der Arbeitszuteilung bis zur Bekleidung um alles und jedes im Land kümmerte, auf einmal nicht mehr in der Lage war, auch nur die elementarsten Bedürfnisse seiner Bürgerinnen und Bürger zu befriedigen? Wie kam es, dass er seine Ideale, die ihn zur sozialistischen Vorzeigerepublik gemacht hatten, mehr und mehr aufgab, bis von ihnen nichts mehr übrig war? Wie wurde er – so das Fazit einer ZDF-Dokumentation6 von 2020 – zu einem staatskapitalistischen Großunternehmen, in dem »ein kühl kalkulierender Geschäftsmann sein Land wie eine Firma führt«? Wie gelang ihm das Kunststück, seine Wirtschaftsordnung vollkommen umzukrempeln, ohne dass seine Führungsstrukturen, ohne dass das Selbstverständnis von Partei und Führung davon im mindestens berührt zu sein schienen?
Nach meiner Rückkehr versuche ich etwas Licht in die schwer durchschaubaren Vorgänge zu bringen, die Nordkoreas Wirtschaftsleben in den letzten dreißig Jahren veränderten. Behilflich sind dabei eine Handvoll Bücher, die durch ihre kenntnisreichen Ausführungen auffallen und deren Sachkompetenz zu trauen ist. Vor allem drei Werke erweisen sich für die fragliche Periode als aufschlussreich7. Hazel Smith verarbeitet in ihrer akribischen Recherche North Korea. Markets and Military Rule, eine Vielzahl beglaubigter Daten über Nordkoreas Wirtschaft, Politik und Sozialwesen. Sie bringt die ihr vorliegenden wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen, Berichte von internationalen Organisationen und nordkoreanischen Verlautbarungen in eine bündige Übersicht. Schwerpunkt bilden die Anfänge der Militär-zuerst-Politik und deren desaströse Folgen für die nordkoreanische Gesellschaft. Ausgangspunkt von Barbara Demicks Im Land des Flüsterns, dem zweiten Werk, sind Gespräche mit Betroffenen. Die amerikanische Journalistin konzentrierte sich bei ihrer Recherche auf die Stadt Ch’ŏngjin und ihr Umland – eine Gegend, die Yu-mi und ich bereist haben. Sie hat mit zahlreichen Menschen gesprochen, welche die Zeit der Hungersnot erlebt hatten und denen später die Flucht aus Nordkorea gelang. Die Einzelgeschichten hat Demick zu einer Erzählung verdichtet und mit Hintergrundinformationen über die nordkoreanische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verwoben. Ihr verdanken wir den Einblick in das tägliche Leben in einer der schrecklichsten Zeiten, die das Land je durchgestanden hat. Der Reiseführer Nordkorea von Arno Maierbrugger, das dritte Werk, liefert in seinem allgemeinen Teil eine Übersicht über die gesellschaftlichen und politischen Probleme des Landes und fasst historische Abläufe mit einem Blick für das Wesentliche auf kleinem Raum zusammen.
Nordkoreas Wandel, das wird bei der Lektüre immer klarer, ging mit einer Reihe von Krisen einher – selbst verschuldeten und solchen, deren Ursachen außerhalb der Entscheidungskompetenz der Regierung lagen, durch diese aber hätten bewältigt werden können. Die erste Krise reichte in die Zeit der ausgehenden achtziger und beginnenden neunziger Jahre zurück. Sie war hausgemacht und hatte ihren Grund darin, dass die Partei versuchte, alle Vorgänge im Land unter strikter Kontrolle zu halten. Statt für technische oder strategische Fragen Fachleute zuzuziehen, bestimmte sie von oben, wie zu produzieren, zu bauen und anzupflanzen war. Sachfremde Vorgaben führten zu folgenschweren Fehlentscheiden und brachten, wie Arno Maierbrugger schreibt, die bis anhin florierenden Bereiche der Landwirtschaft und der industriellen Produktion aus dem Gleichgewicht.8
Überdichte Pflanzung von Reis, massiver Einsatz von Kunstdünger, Rodungen, Abholzungen und Terrassierungen, Monokultur und Überbetonung bestimmter Getreidesorten haben zu einem massiven Ungleichgewicht in der Landwirtschaft geführt. Desgleichen wurden Fabriken unangemessen konstruiert und zu groß angelegt, sodass Versorgungsengpässe gleich zu ernsthaften und folgenschweren Lieferausfällen führten. Wo wiederum zu viel produziert wurde, fehlte es an Infrastruktur, Transportmitteln und Logistik für die Verteilung.
Die auftretenden Probleme wurden weitgehend verschwiegen oder vertuscht, sodass ihre Tragweite nicht offen zutage trat. Barbara Demick schreibt:
Die Aufseher in den Fabriken und in der Landwirtschaft fälschten regelmäßig ihre Produktionsstatistiken, weil sie Angst hatten, ihren Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen. Lügen türmten sich auf Lügen, und so ging es bis hinauf in die Führungsriege.
Die zweite Krise ging zeitlich mit der ersten einher. Sie stand im Zusammenhang mit dem Zerfall des Ostblocks mit seinem weltweiten System gegenseitiger Hilfe, seinem Geflecht aus Handelsbeziehungen und Tauschgeschäften. Ich muss an die stillgelegte Raffinerie bei Rajin denken. Der Anblick ihrer verlassenen Werkgebäude hatte uns eine Ahnung davon vermittelt, welch einschneidende Auswirkungen der Zerfall in den Jahren nach 1989 hatte. Die nordkoreanische Volkswirtschaft war seit dem Bestehen der Volksrepublik auf günstige Lieferungen von Rohöl, Maschinen und ihren Ersatzteilen, Baumaterialien und Lebensmittel aus China und der UdSSR angewiesen. Ebenso auf Finanzhilfen, die regelmäßig flossen. Nun blieben diese auf einmal aus. Die kollabierende Sowjetunion stellte die Zahlungen nicht nur ein, sondern fing damit an, Rückzahlungen früherer Kredite einzufordern. Dieser unerwarteten Situation war Nordkorea nicht gewachsen. Auch Peking änderte sein Geschäftsgebaren radikal. Die Volksrepublik China, selbst auf Getreideimporte angewiesen, verlangte ab 1993 direkte Bezahlung aller Importe zu internationalen Preisen. »Bis dahin«, bemerkt Barbara Demick, »hatte China drei Viertel der Energie- und zwei Drittel der Lebensmittelimporte geliefert.« Nordkorea sah sich von 1991 an immer weniger imstande, die benötigten Lebensmittel zu kaufen und die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Auch Rohstoffe und Energie begannen auszugehen. Die industrielle Produktion ging stark zurück. Das führte dazu, dass kaum mehr Waren exportiert wurden, »was wiederum zur Folge hatte, dass keine Devisen ins Land kamen, ohne die noch weniger Brennstoffe importiert und kein Strom mehr produziert werden konnte«.
Als sei es damit nicht genug, suchten Nordkorea 1994 bis 1996 in dichtem Wechsel Überflutungen und Dürren heim. Das war die dritte Krise. Sie traf die geschwächte Volkswirtschaft mit aller Härte. 1994 war der Sommer sehr heiß, der Winter darauf ungewöhnlich kalt (mit Temperaturen in den Bergen bis minus 37 Grad). Im folgenden Sommer schwemmten sintflutartige Regenfälle den fruchtbaren Boden an vielen Orten weg. Nordkorea war auf die Verheerungen denkbar schlecht vorbereitet, obwohl eine wilde, unberechenbare Natur dem Land seit je zusetzt. Es fehlten weitgehend Flusskorrekturen und Verbauungen gegen das Wegspülen des Grunds. Und weil Getreidevorräte in Stollen eingelagert waren, die vom Regen geflutet wurden, gingen tonnenweise Nahrungsmittel verloren. »Über fünf Millionen Menschen waren von den Überschwemmungen betroffen«, schreibt Barbara Demick. »Fast 100’000 Häuser waren zerstört worden, und eine halbe Million Menschen musste evakuiert werden. Der Ernteausfall belief sich auf fast zwei Millionen Tonnen.« Das bedeutete für das Jahr 1995 einen Rückgang der Getreideproduktion um dreißig Prozent.
Die Produktion in der Schwerindustrie und im Bausektor brach ein. Bis 1996 waren siebzig Prozent der in diesen Bereichen Tätigen arbeitslos – in einem Land, das nie Arbeitslosigkeit gekannt hatte. Das Prokopfeinkommen fiel zwischen 1992 und 1996 drastisch, von 1005 auf 481 US-Dollar, wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen berechnete. »Entsprechend brach der Außenhandelsumsatz Nordkoreas ein, von circa 4,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 1990 auf wenig mehr als 2,5 Milliarden im Jahre 1991. Der Tiefpunkt wurde 1998 mit 1,4 Milliarden US-Dollar erreicht«, schreibt Arno Maierbrugger.
Die Menschen in der Demokratischen Volksrepublik Korea waren an Entbehrungen und Mangel gewöhnt, aber nicht daran, alleingelassen und ohne Unterstützung zu sein. Der Staat hatte bis anhin für das Lebensnotwendige und für Arbeitsstellen gesorgt, auch hatte er die entsprechende Infrastruktur bereitgestellt. Mehr und mehr fiel nun das landesweite Versorgungssystem aus. In gewissen Berufen, etwa bei den Lehrern, blieben die staatlichen Lohnzahlungen ganz aus. Der Alltag der Leute, vor allem in der Provinz, wurde zunehmend schwierig. Der elektrische Strom floss nur noch für wenige Stunden an einigen Abenden der Woche, und da die Wasserpumpen im Haus elektrisch betrieben wurden, verfügten die Haushalte nur zeitweise über fließendes Wasser. Güter des täglichen Bedarfs, Medikamente, Papier, Schulbücher wurden knapp. Mütter, die ihre Kinder fördern wollten, schrieben die Schulbücher von Hand ab.
Barbara Demick, deren Ausführungen ich hier folge, hält in allen Details fest, wie die Menschen jeden Quadratmeter Boden ausnutzten, um auf ihm Pflanzen anzubauen.
Auf dem Land leben die meisten Menschen in ebenerdigen Häusern, sogenannten »Harmonikas«, Einzimmerhäuschen, die wie die Fächer einer Ziehharmonika aneinanderkleben. […]
Auf den schmalen Streifen Land zwischen den Harmonikahäusern zogen die Menschen mit mühevoller Sorgfalt Paprika, Rettich, Kohl und sogar Tabak, denn selbst gedrehte Zigaretten waren natürlich billiger als gekaufte, und so gut wie alle Männer rauchten. Wer ein Flachdach auf seinem Haus hatte, stellte dort Töpfe auf, um noch mehr Gemüse zu ziehen.
1994/95 stellte der Staat die Lebensmittellieferungen ganz ein. Die Menschen, konfrontiert mit einer Situation, die an einen Krieg erinnerte, mussten zu ungewohnten Mitteln greifen, um an Nahrungsmittel zu kommen.
Sie bauten Fallen aus Eimern und Schnüren, um Kleintiere auf den Feldern zu erbeuten, spannten Netze über ihre Balkone, um Sperlinge zu fangen. Sie machten sich schlau, was die Pflanzenwelt an Essbarem bot. Sie schälten die süßliche innere Schicht von Kiefernrinde heraus und stellten daraus ein feines Pulver her, das man als Mehl verwenden konnte.
Je länger die Not andauerte, desto verzweifelter wurde nach Resten von Essbarem gesucht. Die Leute überwanden ihre natürliche Abscheu und suchten in den Exkrementen der Nutztiere nach unverdauten Getreidekörnern.
Die Hafenarbeiter kratzten in Schiffen, in denen zuvor Nahrungsmittel transportiert worden waren, die übel riechenden Reste vom Boden der Laderäume, breiteten die schmierige Masse auf dem Pflaster zum Trocknen aus und suchten dann Reiskörner und alles andere heraus, das noch essbar erschien.
Die Regierung stellte sich für die Not des Volkes blind. Sie wollte unter keinen Umständen zugeben, dass die Nahrungsmittelversorgung versagt hatte. Bis zum Herbst 1995, dem zweiten Jahr der Naturkatastrophen, weigerte sie sich, den Grad des ökonomischen Desasters mit seinen Folgen für die Lebensmittelversorgung anzuerkennen. Sie sprach von »kleineren und vorübergehenden Problemen« und verbot den Gebrauch von Wörtern wie »Hungersnot«. Es mutet zynisch an, dass sie in Pjöngjang die Losung »zwei Mahlzeiten am Tag« ausgab, welche die Einwohner dazu anhalten sollte, auf eine Mahlzeit zu verzichten. Wie immer bei der Verbreitung von Durchhalteparolen appellierte sie an den Stolz und den Willen des nordkoreanischen Volkes. Diesmal rief sie mit dem zugehörigen Pathos eine Episode aus dem Guerillakrieg gegen die japanischen Besatzer in Erinnerung, die unter der Bezeichnung »Beschwerlicher Marsch« zum nationalen Mythos hochstilisiert worden war. In den dreißiger Jahren soll Kim Il-sung mit einer Handvoll Partisanen am Paektusan bei Schneefall und eisiger Kälte einer Übermacht von Feinden standgehalten haben. Der Aufruf sollte die Bevölkerung dazu motivieren, es dem 1994 verstorbenen Großen Führer gleichzutun und die Entbehrungen klaglos und heldenhaft auf sich zu nehmen. »Hungern«, schreibt Demick lakonisch, »wurde zur patriotischen Pflicht.« Die Bezeichnung »Beschwerlicher Marsch« dient seither als Metapher für die Zeit der Hungersnot.
Erst gegen Ende 1995 gestand das Regime ein, dass es auf internationale Hilfe angewiesen war. Es richtete »einen beispiellosen weltweiten Appell für Nahrungshilfe an jene Länder, die es als Feinde betrachtete«, schreibt Hazel Smith. »Im gleichen Jahr machte Japan eine umfangreiche Spende von 500’000 Tonnen Reis (was ausreichte, um 20 Prozent der damals 22 Millionen Einwohner Nordkoreas für ein Jahr zu ernähren).« Hilfsmaßnahmen anderer Staaten folgten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre erhielt Nordkorea Nahrungsmittel im Wert von 2,4 Milliarden Dollar, zum größten Teil aus den Vereinigten Staaten.
Freilich dürfte nur ein Teil davon bei der bedürftigen Bevölkerung angekommen sein. Wohin die Lieferungen gelangten, darüber gibt es keine Buchführung, die zugänglich wäre. Einzelfälle, die bekannt wurden, weisen auf Veruntreuung in großem Maßstab hin, wie in einer Episode, von der Barbara Demick berichtet.
Als 1998 große, mit gespendetem Getreide aus dem Welternährungsprogramm beladene Schiffe im Hafen von Ch’ŏngjin anlegten, wurde die Ladung vom Militär auf Lastwagen umgeladen und abtransportiert. Ein Teil der Nahrungsmittelspenden gelangte zu Waisenhäusern und Kindergärten, das meiste aber landete in Lagern des Militärs oder wurde auf dem Schwarzmarkt verkauft.
Eine vierte Krise zeichnete sich ab. Der Regierung schien nicht nur die Übersicht über die Hilfslieferungen zu entgleiten, sondern auch die Kontrolle darüber, was sich in den Provinzen des Landes abspielte. Stillschweigend hatte sie in den letzten Jahren zugelassen, dass sich in ländlichen Gegenden auf kleinen Grundstücken um das Wohnhaus oder das Dorf bewirtschaftete »Küchengärten« immer mehr ausbreiteten. 1998 legalisierte sie schließlich diese aus der Not geborene Form der privaten Selbstversorgung. Sie musste auch hinnehmen, dass die Menschen sich auf eigene Faust neben Nahrung Brennholz beschafften, wo es zu finden war. Die Situation in der Region, aus der Demicks Gesprächspartner stammen, war geprägt von chaotischer Selbsthilfe. Auf den bewaldeten Hügeln wurden illegal Bäume gefällt. Die kilometerweit kahlen Hänge zeugen bis heute von den verzweifelten Aktionen derer, die unter der erbarmungslosen Kälte der nordkoreanischen Winter litten. Unter normalen Umständen hätte der Staat schon bei der kleinsten Beschädigung oder Entwendung von Staatseigentum mit aller Härte durchgegriffen, die Diebe in Straflager verbracht oder hingerichtet. Auf die sich überall ausbreitende Art chaotischer Selbsthilfe war er nicht gefasst. Wohl wurden zur Abschreckung in vereinzelten Fällen drakonische Strafen verhängt, doch diese vermochten nicht zu verhindern, dass auch öffentliche Einrichtungen demontiert und weggebracht wurden. Sie hielten die Arbeiter auch nicht davon ab, ihre stillgelegten Industrieanlagen regelrecht auszuschlachten und die Bauteile mitzunehmen oder auf dem Schwarzmarkt zu ver...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorbemerkung
  6. Ein Präsidententreffen
  7. Tumen, der Todesfluss, und Paektusan, der heilige Berg
  8. Über die Grenze
  9. Die Sonderwirtschaftszone Rasŏn
  10. Die glücklichen Jahre
  11. Auf dem Markt
  12. Nordkoreas Marsch weg vom Sozialismus
  13. Unter Büchern und Bildern
  14. Erinnerungsorte
  15. Im Kurhotel
  16. Die unglücklichen Jahre
  17. Auf der Fahrt
  18. Das Ch’ilbo-Gebirge
  19. Im Haus der Gastfamilie
  20. Ch’ŏngjin, seine Schulen, seine Bibliothek
  21. Kim und Kim und Kim
  22. Die ungewissen Jahre
  23. Von Rajin nach Seoul
  24. Literatur und Dokumentationen zu Nordkorea
  25. Zeitleiste
  26. Dank
  27. Über den Autor