B. Der notwendige Paradigmenwechsel in der Wirtschaftsethik zur Stabilisierung der Weltwirtschaft
Das Verhalten der Menschen wird von ihren Instinkten und bewussten Motiven gesteuert. Je weiter wir in der Geschichte der Menschheit zurückgehen, umso vorherrschender werden instinktive Antriebe.
Die Menschen fühlten sich als Glieder einer Familie oder eines Stammes. Ihre Entwicklung zu freien selbstbewussten Individuen wurde erkauft mit dem Verlust an instinktiven Antrieben. An deren Stelle traten mündlich tradierte und später kodifizierte Regeln. So entstand die Ethik.
Der Ethik und der instinktiven Steuerung gemeinsam ist der Vorrang der Gemeinschaft, die die Lebensgrundlage für jedes Individuum ist. Jedem Individuum gilt seitens der Gemeinschaft die größtmögliche Fürsorge und, je mehr sich die Menschen zu verschiedenen Persönlichkeiten entwickelten, auch ihre größtmögliche Selbstverwirklichung, wenn diese nicht die Gemeinschaft zerstört. Denn jede Selbstverwirklichung, soweit sie nicht zum allgemein anerkannten gesellschaftlichen Prinzip geworden ist, emanzipiert den Menschen aus der jeweiligen Gemeinschaft und stört und zerstört mehr oder weniger die traditionellen Verhaltensweisen und Hierarchien. Diese Verhaltensweisen müssen sich deswegen weiterentwickeln oder werden durch Revolutionen gesprengt.
Möglich werden die Veränderungen der Gesellschaftsform durch die Entwicklung der Produktivkräfte. Sie sind selbst auch das Werk von Erfindern, die die traditionellen Produktionsverhältnisse modifizieren und gegebenenfalls zerstören.
Die Auseinandersetzung mit Fremden entweder durch Handel oder Eroberungen und deren Integration können Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken. Insbesondere veranlassen sie, die Kriegs- und Waffentechnik zu verbessern. Schon von daher ergeben sich Impulse für wirtschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklungen.
Da wirtschaftlicher Fortschritt primär auch mit wachsender Arbeitsteilung einhergeht, können Zusammenschlüsse von Stämmen zu Völkern und Völker zu Reichen die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend voranbringen.
Für jede Gesellschaft gilt, dass die Gesellschaft als Ganzes die Basis für das Leben und die Entwicklung der Einzelnen ist, die im Notfall mit ihrem Leben für die Gesellschaft eintreten müssen.
Jede Gemeinschaft steht mit jeder anderen in einem Gegensatz, der leicht, wie die Geschichte sehr anschaulich zeigt, zu Konflikten und Kriegen ausarten kann. Die Überwindung von Stammesgesellschaften und Völkern zu Reichen ist damit auch gleichzeitig eine Befriedung der Menschen untereinander. Das Gewaltmonopol geht auf den Staat über und innerstaatliche Konflikte werden durch Gerichtsverfahren entschieden.
Mit der Entwicklung des Nationalismus hatten sich die Menschen zu Staatsbürgern emanzipiert. Die Nationen aber kämpften weiter um internationale Anerkennung und Macht. Heute ist aber die Welt so weit globalisiert, dass die Menschen sich primär als Weltbürger verstehen müssen. Alles, was auf der Welt geschieht, berührt immer mehr oder weniger auch jeden von uns. Ein winziger Virus zeigt die weltweite gegenseitige Abhängigkeit und zwingt uns, auch unsere wirtschaftlichen in weltwirtschaftliche Verhaltensweisen weiterzuentwickeln.
Wenn man die Entwicklung der Kulturen und Zivilisationen verfolgt, so scheinen sie, wie von einem Zeitgeist gesteuert. Hat sich das, was gleichsam in dem jeweiligen Zeitgeist angelegt war, ausdifferenziert, sind die Kulturen und Zivilisationen reif geworden, dann verfallen sie wieder oder werden Opfer von Eroberern, die eine neue Kultur und Zivilisation begründen, dabei allerdings auch auf dem Übernommenen aufbauen.
So gibt es auch in der Weltwirtschaft herrschende Lehren, die das Verhalten der Wirtschaftsteilnehmer bestimmen und für die jeweilige Zeit auch eine wirtschaftsfördernde Bedeutung haben. Aber, da Prinzipien schon ihrem Wesen nach immer etwas Starres haben, rennen sie sich meist an ihrer jeweiligen Einseitigkeit fest und wirken dann selbstzerstörend. So auch wie dargestellt die kapitalistische Marktwirtschaft. Vergegenwärtigen wir uns die im Laufe der Geschichte sich wandelnden Prinzipien wirtschaftlichen Handelns.
I. Die Prinzipien archaischen Wirtschaftens und ihre Grenzen
1. Familien- und stammesbezogenes Wirtschaften
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, umso weniger verstehen sich die Einzelnen als Individuen. Sie sind sich Glieder einer Familie oder Sippe. Sie stehen füreinander ein und arbeiten arbeitsteilig zusammen. Alle fühlen sich für alle verantwortlich. Zugleich herrscht eine strenge Hierarchie von dem Stammes- und Familienoberhaupt bis zu dem kleinsten Kind.
2. Latente Aggressivität gegen alle Fremden
Aus der Bezogenheit auf die eigene Familie, Sippe oder den Stamm ergibt sich eine natürliche Abgrenzung gegen alle, die nicht dazugehören. Diese Abgrenzung ist allen Lebewesen eigen. Eine Biene, die nicht den Geruch des Bienenvolkes hat, wird verjagt oder getötet. Ein transplantiertes Organ wird vom Körper abgestoßen, wenn diese Abstoßung nicht künstlich verhindert wird.
Was für das biologische Verhalten gilt, gilt auch für das seelische und die Gebundenheit des Menschen an seine Familie, seine Heimat und seine Traditionen, es sei denn, er hat sich daraus emanzipiert und macht sein Selbst nicht mehr an der Familie, dem Stamm oder dem Volk fest, sondern ist sich ein selbstbewusstes Individuum.
Dementsprechend hatten die verschiedenen Stämme in Urzeiten nichts oder wenig Gemeinsames. Die Mitglieder verschiedener Stämme aßen nicht miteinander und heirateten nicht untereinander, so wie es heute noch in vielen Religionsgemeinschaften verboten ist, dass jemand geheiratet wird, der nicht derselben Religion angehört.
Wenn sich Stämme miteinander verbinden wollten, dann mussten sie miteinander verwandt werden. Das geschah durch bewusstes Heiraten zwischen den Stämmen oder dass ein Stammesführer sich mit einer Tochter eines anderen Stammes vermählte.
Relikte archaischer Verhaltensweisen finden sich noch heute und ausgeprägt insbesondere in Religionsgemeinschaften. Ablehnung von allem Fremden liegt auch dem Widerstand gegen Flüchtlinge und dem rechtsradikalen Verhalten zu Grunde.
Da in archaischen Zeiten sich die Menschen nicht als selbstbewusste Individuen, sondern als Glieder von Familien fühlten, galten Fremde auch nicht als Personen im heutigen Sinne, sondern als Glieder fremder Familien oder Stämme, die ohne Gewissensbisse ausgeraubt, versklavt und getötet werden konnten.
Dass sich der Einzelne nur als ein austauschbares Glied einer Familie verstand, zeigt sich auch in den Regeln der Blutrache. Wenn ein Mitglied eines Stammes ein Mitglied eines anderen getötet hat, dann konnte zum Ausgleich auch ein anderer der Täterfamilie getötet werden oder die Täterfamilie musste Blutgeld zahlen.
Es versteht sich, dass in den archaischen Stammesgesellschaften kaum wirtschaftlicher und technischer Fortschritt entstehen konnte und die Arbeitsteilung schon wegen der Begrenztheit der Stammesmitglieder relativ gering war. Im Grunde herrschte nur Familienwirtschaft.
Die Arbeitsteilung über die Stammesgesellschaften hinaus brachten Händler, die nicht nur den jeweiligen Stämmen unbekannte Produkte vermittelten, sondern auch eine gewisse Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Völkern.
Zivilisationen und Kulturen entstanden erst, als charismatische Stammesführer mit ihrem Stamm andere Stämme unterdrückten und diese versklavten. Dadurch machten sich die Siegreichen zu Herren und die Unterworfenen zu Produktivkräften, die es den Eroberern erlaubten, Wissenschaft und Kultur zu entwickeln. So entstanden zunächst Feudalreiche, mit einer Oberschicht, dem Adel, denen die Untertanen auch dann noch gleichsam als Eigentum zugeordnet waren, als die Sklaverei im engeren Sinne schon abgeschafft war. Die Völker konnten als Folge von Kriegen oder Heirat und Vererbung zwischen den Adelshäusern wechseln.
Die Entwicklung immer effektiverer Waffen, aber auch des gehobenen Konsums und Kulturbedarfs, sowie religiöse Sakralbauten und Einrichtungen ließen immer wieder neue Kulturen und Zivilisationen entstehen, die aber jeweils auch wieder vergingen. Über Jahrtausende gab es zwar handwerkliche Innovationen, aber keine Wissenschaft und Technik, aus denen eine technische Revolution entstehen konnte und blieb der internationale Handel beschränkt.72
Glied einer archaischen Gemeinschaft zu sein, bedeutet, durch die Riten, Gewohnheiten, den Geschmack bis hin zu der Art, wie etwas und was hergestellt wird, geformt zu sein. Jeder Kontakt mit anderen Völkern, Kulturen und Zivilisationen zeigt Alternativen, macht das Gelebte bewusst und relativiert es in Bezug auf andere Möglichkeiten. Dadurch wird die Individualisierung gefördert. Denn als Individuum vergegenständliche ich Reize zu Erscheinungen und stelle mich ihnen gegenüber. Damit gewinnt der Mensch Freiheit und Verfügungsmacht über die vergegenständlichten Erscheinungen. Das Erlebnis der Freiheit und der Verfügungsmacht über Erscheinungen kann zum Selbstzweck werden.
Die Vermittler von Produkten und Kontakten zu anderen Völkern waren seit frühester Zeit die Händler. Händler und Abenteurer gehören zu den Ersten, die aus den strengen Regeln archaischen Verhaltens heraustreten. Sie galten daher lange als unehrenhaft, fahrendes Volk. Ihnen folgten gleichursprünglich Räuber und Eroberer.
Anders als Händler und Räuber erweiterten Könige und Fürsten ihr Herrschaftsgebiet und konnten so zu Begründern von großen Kulturen und Zivilisationen werden.
Über Jahrtausende hat sich in den Zivilisationen und Kulturen nur wenig geändert. Alte Zivilisationen verfielen, neue stiegen auf. Durch die in Reichen mögliche größere Arbeitsteilung gab es dort wirtschaftliche Fortschritte, aber weniger Fortschritte bei den Produktivkräften. Deswegen waren diese Zivilisation auch auf Sklavenarbeit angewiesen und konnten sich die Gesellschaftsverhältnisse außer dem Austausch der Eliten kaum ändern.
II. Die Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens und seine Grenzen
1. Die Individualisierung des Menschen als Triebkraft für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
Die archaischen Gemeinschaften und auch ihre Weiterentwicklungen bis zum Feudalismus waren streng hierarchisch gegliedert. Die Individualisierung der Menschen nahm zwar im Laufe der Entwicklung immer weiter zu. Für die Mitglieder dieser Gesellschaften änderte sich dadurch nur ihre biologische Bezogenheit auf ein Oberhaupt zu einer Anerkennung einer Obrigkeit. Bezeichnenderweise fühlen sich Monarchen als Vertreter Gottes und den Untertanen gegenüber wie Väter. Die Rollen der Familienmitglieder in einer Familie wurden in der Standesgesellschaft zu Ständen. Jeder Stand fühlte sich verpflichtet, seine Pflicht der Gemeinschaft gegenüber zu erfüllen und konnte dafür auch ein standesgemäßes Einkommen erwarten. Das Ziel allen Arbeitens war die Optimierung des Bedarfs der Gesellschaft. Gewinnstreben über das für ein standesgemäßes Leben Erforderliche hinaus galt als ehrenrührig und wurde gar geahndet.
Peter Borscheid schreibt: >>"Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen, sondern jeder soll aus bürgerlicher und brüderlicher Liebe seinem Nächsten folgen und sein Handwerk ohne des Nächsten Schaden treiben", heißt es in der Thorner Zunftordnung von 1523.73 Noch Ende des 17. Jahrhunderts versuchten Kaiser und Reichstag, den Einsatz von Wassermühlen zur schnelleren Herstellung von Schnüren zu unterbinden, weil der Einsatz der Wasserkraft Tausende Personen und Familien an den Bettelstab bringen würde.74 Dieses Denken hält trotz oder gerade wegen wirtschaftsliberaler Forderungen auch noch im 18. Jahrhundert an. Im französischen Amiens werden im Jahre 1742 zwei Fabrikanten gerichtlich verfolgt, weil sie auf Innovationen setzen und durch Einrichtung einer Manufaktur mit 200 Webstühlen die Arbeit besser überwachen und beschleunigen wollen.75<<76 Industrieller und wirtschaftlicher Fortschritt waren unter solchen Regeln natürlich nur begrenzt möglich.
In Europa war sich der Einzelne Glied einer umfassenden Christenheit, die durch den Papst, den Kaiser und die Fürsten vertreten wurde. Das antike Erbe war vom Christentum in den Hintergrund gedrängt worden. Die antike Philosophie wurde zur Magd der Theologie, hatte somit als wesentliche Aufgabe, die Wahrheit des Evangeliums philosophisch zu fundieren.
Im 14. und 15. Jahrhundert begann eine Rückbesinnung auf die Antike. Die Philosophie versuchte, das theologische Joch abzuschütteln und stellte wieder den Menschen stärker in den Mittelpunkt des Denkens. Das Papsttum und die Kaiserherrschaft hatten sich im Kampf um den jeweiligen Vorrang gegenseitig...