STIMMEN
Valzhyna Mort, Dichterin, Washington, 8. August 2020
„In Belarus wurde inzwischen das Militär in die Städte verlegt, weil die Menschen mit den Händen das Herzsymbol machen.
Passanten werden von der Bereitschaftspolizei brutal von der Straße weggefangen, weil sie das Victory-Zeichen zeigen oder auf dem Fahrrad die Faust recken.
Seit einigen Tagen läuft die vorzeitige Stimmabgabe. Unabhängige Beobachter haben keinen Zugang zu den Wahllokalen. Sie lugen von draußen rein. Wenn sie Fragen stellen, werden sie wegen Rowdytums festgenommen.
Im Gefängnis sollen die Menschen durch die Haftbedingungen gedemütigt und gebrochen werden. Einige Leute, die verhaftet wurden, weil sie auf dem Weg zur Arbeit das Victory-Zeichen gezeigt hatten, berichten, dass sie mit vierzehn weiteren Personen in einer Viererzelle gehalten werden. Das Licht bleibt die ganze Zeit an und wird in der Nacht sogar noch heller gestellt. Um drei Uhr früh werden sie zum ‚Spaziergang ins Freie‘ gebracht, dann um vier und dann um fünf Uhr nochmal. Die Familien erfahren nicht, wo ihre Liebsten einsitzen, damit sie ihnen nicht so leicht Essen und warme Kleidung zukommen lassen können.
Die Ergebnisse werden von den Wahlhelfern gefälscht, die meisten davon sind Lehrer aus unseren belarusischen Schulen.
Es wird Repressalien geben. Die Menschen hoffen auf unblutige Proteste, wenn die Ergebnisse der gefälschten Wahlen verkündet werden. Und doch haben wir in Belarus – seit Jahrhunderten – schon so viel Blut unter den Füßen!
Ich kann nur so schreiben: Fakten, Fakten, Fakten. Sonst müsste ich schreien: aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhh!“
Auf Facebook. Aus dem Englischen von Steffen Beilich
Marina (58), Minsk, 13. August 2020
„Ich habe heute auf der Straße Schönheit gesehen. So eine Schönheit, wie es sie wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt gibt. So schöne Frauen, so viele Blumen. Männer verteilen Rosen. Alle lächeln, alle umarmen sich, alle reden miteinander. So eine Einigkeit, so eine, ich weiß nicht, sogar Brüderlichkeit. Wir haben verstanden, dass wir alle eine Familie sind. Das sind unsere Kinder, Eltern, Nachbarn. Wir kennen uns alle. (…) Diese Frauen haben sich selbst organisiert, und das war dann wie eine Kettenreaktion. Und das Erstaunlichste für mich war das Video, als die Frauen abends auf den Platz gegangen sind und ein Wiegenlied gesungen haben. Sie haben aber nicht gesungen ‚Mach die Augen zu’, wie normalerweise, sondern ‚Mach die Augen auf.’ Das war wunderschön.
(…) Ich wundere mich heute, dass alle höheren Beamten jetzt schweigen, dass sie Angst haben. In jedem entwickelten, demokratischen Land wäre die Regierung schon längst zurückgetreten. Aber hier schweigt sie. Ein paar Generäle und Ökonomen haben sich zwar geäußert, aber hier muss eine Wende passieren. Ich verstehe, dass sie alle einer Person die Treue geschworen haben, aber das ist eine Schimäre. Sie haben Angst, einfach Angst. Und heute wird diese Angst einfach vor unseren Augen überwunden. Die Angst der Frauen, der Kinder, der Männer. (…)
Jeder macht das, was er kann. Im Leben sollte man keine Angst haben. Ich weiß nicht, wie das ausgehen wird, aber jetzt müssen wir bis zum Ende gehen. Wir müssen alles stehen und liegen lassen, rausgehen und nach vorne schauen. Denn unsere Kinder darf man nicht so schlagen. (…) Ich habe Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, was passieren wird. Wir hoffen einfach … Das ist eine Frauenrevolution, und wir müssen gewinnen, denn anders kann es nicht sein.”
Über Radio Corax
Aus dem Russischen von Judith Geffert
Ksenia, Minsk, 15. August 2020
„Besonderes unerträglich ist es, von all den vermissten Menschen zu lesen. Ganze Facebook-Gruppen, ganze Chats sind voll damit, wie viele sind es denn? Diese gut frisierte Frau im Fernsehen soll sagen, wie viele! Du, Genosse in Uniform, wo sind sie? Gib uns sofort die Antwort und die Freiheit! Und diese Nachrichten fangen immer so an: … ging aus seinem Haus auf die Straße, wartete an einer Haltestelle, ging ins Kino, kaufte einen Döner, begleitete eine Freundin nachhause, fuhr in seinem Auto die Straße lang … Man könnte verrückt werden, heute ist der Tag der Frage: Wo sind die anderen?“
Auf Facebook
Aus dem Russischen von Wanja Müller
Iryna Herasimovich, Übersetzerin, 15. August 2020
„Unser Point of No Return ist die Sichtbarkeit. Zu lange war Belarus ein weißer Fleck nicht nur auf der europäischen Landkarte, sondern auch für sich selbst. Überwältigend ist in diesen Tagen gerade die Sichtbarkeit. Dies gilt für das Wunderbare wie auch für das Furchtbare. Die Menschen zeigen sich, zeigen ihren Willen, und sie sehen einander. Das kann nicht rückgängig gemacht werden. (…)
Sichtbar werden jetzt nicht nur die Belarusen, die sich zeigen, sondern auch die, die sich nicht zeigen. Am meisten fallen auf den Straßen diejenigen auf, die versuchen, ihrem Alltag ungestört nachzugehen. Die werden auch sichtbar, ungewollt. Vielleicht wechseln gerade deswegen so viele die Seite, weil sie in ihrer früheren Stellung so unerträglich sichtbar geworden sind. Unerträglich für sich selbst in dieser neuen Sichtbarkeit. Die beispiellose Gewalt wirft so ein Licht auf die Gesellschaft, dass alle Konturen extrem scharf werden und Menschen dazu zwingen, Position einzunehmen. Dies gilt übrigens nicht nur für Belarus, sondern für das ganze Europa, für die ganze Welt, würde ich sagen, auf allen Ebenen. In den (Nicht)-Reaktionen auf Belarus wird auch da extrem vieles sichtbar. Hinschauen!”
Auf Facebook
Original Deutsch
Andrei Karpeka, 15. August 2020
„Eine Hafterfahrung wie bei mir kommt leider äußerst selten vor. Schon im Bus der OMON-Sicherheitskräfte der Nationalgarde kam ich quasi heil davon: Im Moment, als ich gekidnappt wurde, waren die werten Genossen Gesetzeshüter es schon müde, ihre Knüppel zu schwingen – Schläge hatten die abbekommen, die vor mir festgenommen worden waren.
In der Bezirksverwaltung für Inneres des Pieršamajski Rajon hatte ich wieder Glück: Wir mussten uns in der Sporthalle der Reihe nach an die Wand stellen. Nur diejenigen, die sich umdrehten oder sich setzten, wurden geschlagen. Und die, die sich unterhielten. Wir standen mit den Händen auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, um die sieben Stunden. Das ist die einzige Folter, die ich durchmachen musste.
Auf dem Gang der Wache, wo wir auf den Transport zur Untersuchungshaft warteten, hatte ich das nächste Mal Glück. Wir durften unsere Handys eigentlich nicht benutzen, aber sie haben es durchgehen lassen. Auf dem Boden lagen Tüten mit Zwieback. Einer von den Mitarbeitern brachte zwei Becher Kaffee aus dem Automaten, die er den Verhafteten gab. Aber so war es nicht überall.
Uns wurde gesagt, dass wir in das Akrescina-Untersuchungsgefängnis gebracht würden und dass heute noch ein ‚Gericht’ tagen würde. Zum wiederholten Mal hatte ich Glück, denn ich kam direkt in die Haftanstalt in Žodzina. Genauso erging es mir mit dem Gericht. Die Richterin drang gar nicht bis zu uns durch und wir kamen 72 Stunden nach der Verhaftung frei. Mit Verspätung allerdings. 10 Stunden war ich illegal im Gefängnis. Genauso illegal war ich auch mitten in der Nacht von Unbekannten – ganz in Schwarz gekleidet – am Talbuchina-Boulevard entführt worden. Ohne dass sie sich vorgestellt oder Gründe für die Verhaftung genannt hätten. (…)
Trotz allem saß ich da mit guten Leuten zusammen. Wir saßen im selben Boot. Die Bullen haben uns frech ins Gesicht gelogen, das sind die schon gewohnt. Sie haben uns gesagt, sie brächten uns nach Akrescina und heute wäre Gerichtsverhandlung. Sie haben sogar auf die Frage ‚Wie spät ist es?’ gelogen. Solange die Miliz sich nicht auf die Seite der Protestierenden schlägt, solange sie dem OMON nicht den Kampf ansagen, können wir ihnen nicht trauen. Lasst euch nicht von hupenden Autos und Blumen blenden. (…)”
Auf Facebook
Aus dem Russischen von Barbara Anna Bernsmeier
Vitaĺ Škliaroŭ, über seinen Anwalt, Anton Hašynski, 17. August 2020
„Meinem Mandanten Vitaĺ Škliaroŭ, der sich in Untersuchungshaft befindet, wird jede Möglichkeit der Kommunikation mit der Außenwelt verwehrt. Deshalb hat er mich gebeten, in seinem Namen ein Statement abzugeben, bei dem ich genau seinen Wortlaut wiedergebe:
‚Wie jeder Mensch, der es wagte, ein autoritäres Regime zu kritisieren, habe ich von Anfang an verstanden, dass ich beim Thema Knast ‚sag niemals nie’ denken sollte. Aber als ich verhaftet wurde, habe ich immer noch nicht erwartet, derartig eingemauert zu werden. Für lange Zeit. Es scheint so, als hätte irgendeine defekte Zeitmaschine mich direkt in den Gulag verfrachtet. Nein, ich werde bisher nicht geschlagen. Aber sie versuchen, mich zu brechen. Mit ganzer Kraft. Sie verbiegen und erdrücken mich, und nutzen dabei altbekannte Lager-Methoden. Das Schlimmste dabei ist, dass ich keinen Briefwechsel oder telefonischen Kontakt mit der Außenwelt habe. Ich bin ein politischer Gefangener, deshalb werden die Briefe, die ich jeden Tag meiner Mutter, meinem Sohn, meiner Frau oder meinen Freunden schreibe, nicht durch die Wände des Gefängnisses gelassen. Sie verlassen den Knast nicht. Ich denke, dass die hiesigen Polizisten sie behalten, um sie in meinem Fall gegen mich verwenden zu können. Auch kommen die Briefe, die mir geschickt werden, nicht an. Nicht, dass sie zensiert werden oder nur vereinzelt ankommen, kein einziger wird durchgelassen. Obwohl sie gelesen werden. Und Bücher geben sie auch nicht weiter.
Daher wollte ich selbst anfangen, etwas zu schreiben – darf ich natürlich auch nicht! Nicht nur, dass jedes einzelne Wort, das ich in mein Tagebuch schreibe, gelesen und abgeheftet wird; einmal, nach einem Treffen mit meinem Anwalt, als ich versucht habe, einen Brief an meine Frau und meine Mutter durchzugeben, kamen sie in meine Zelle gestürmt und haben mich nackt von Kopf bis Fuß durchsucht, um herauszufinden, ob ich noch irgendwo Papierfetzen versteckt habe. Dann musste ich in den ‚Becher‘: ein ein Meter mal ein Meter großer Kerker aus Beton, in dem ich mehrere Stunden warten musste, bis mein Zimmer fertig durchsucht ist. (…)“
Veröffentlicht auf Facebook durch Wladimir Kaminer
Aus dem Russischen von Nicole Kaminer
Mikalaj Dziadok, Minsk, 17. August 2020
„Heute gab es den ersten Konflikt innerhalb der Protestbewegung. Ein Demonstrationszug mit tausenden von Menschen war unterwegs, um die Menschen zu unterstützen, die im Foltergefängnis Akrescina eingesperrt sind. Der Demonstrationszug wurde von Freiwilligen aufgehalten, die sich dem Zug in den Weg stellten und sogar ein Sperrband spannten, damit der Zug nicht bis zum Gefängnis durchkommt. Die Freiwilligen befürchteten, dass die Wächter anfangen würden, die Häftlinge zu verprügeln und das Zeltlager der Unterstützer zu räumen, das direkt vor dem Gefängnis steht, falls die Demonstranten direkt vor den Mauern des Gefängnisses protestieren.
Es besteht kein Zweifel, dass derartige Überlegungen der Freiwilligen von den Schergen selbst inspiriert wurden, von jenen also, die Angst vor den Menschenmassen an den Toren des Gefängnisses haben...