Die Schule von Den Haag
Durch französische und deutsche Vorbilder angeregt, versammelte sich um das Jahr 1870 in Den Haag eine Gruppe junger niederländischer Künstler. Sowohl in der Stadt als auch in der Umgebung fanden sich genügend Motive: Die Dünenlandschaft zwischen der Stadt und Scheveningen, das Dorf Scheveningen selbst, Katwijk und die ländliche Umgebung von Wassenaar sowie Voorburg boten ein reiches Reportoire an Möglichkeiten. Die Maler nutzten ihr Wissen über ihre Kollegen aus dem 17. Jahrhundert und hatten zudem auch französische und deutsche Einflüsse aufgenommen. Diese Richtung ging in die Kunstgeschichte als „Schule von Den Haag“ ein. Sie wurde als ultraradikal bezeichnet, und es wurde von ihr behauptet, „in der Malerei einen wahren Bildersturm“ ausgelöst zu haben.
„Vorzugsweise wird versucht, Stimmungen wiederzugeben, wobei der Farbton über der Farbe rangiert. Mit ihnen beginnt die Regentschaft des Grau“, so äußerte sich der Kritiker van Santen Kolff in der Zeitschrift „De Banier“ zur Haager Schule. „Hier erleben wir Realismus der wahren, höchst gesunden Art. Meiner tief empfundenen Meinung nach werden alle unsere Landschafts- und Seestücke-Maler früher oder später diesen Weg beschreiten müssen, wenn sie im Geiste unserer Zeit Bleibendes schaffen wollen.“ Andere Kritiker waren weniger begeistert. Die Haager Schule sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, alles durch eine graue Brille zu betrachten und die Leinwände mit einem Trauerflor zu überziehen. Der deutsche Autor Richard Muther war anderer Auffassung. 1884 beschrieb er in seiner „Geschichte der Malerei im neunzehnten Jahrhundert“, dass in den Niederlanden „nirgendwo sattes Licht sei, in der feuchten Luft aber dennoch überall Farben leuchten würden“.
Die Maler der Haager Schule fühlten sich durch die Barbizon-Maler zwar inspiriert, letztere hatten jedoch ihre Kunst wiederum von den niederländischen Meistern des Goldenen Jahrhunderts, wie Jacob van Ruisdael und Meindert Hobbema, abgeschaut. Dabei handelte es sich um Künstler, die auch in England sehr geschätzt wurden. Die dortigen Epigonen waren unter anderem John Constable, William Gainsborough und William Turner, die ihrerseits wiederum Barbizon-Malern wie Jean-Baptiste Camille Corot, Théodore Rousseau und Jean Francois Millet als Vorbilder gedient hatten. Durch die wechselseitige Beeinflussung lässt sich nur schwer rekonstruieren, ab wann der Einfluss durch die Schule von Den Haag zu wirken begann. Sicher ist, dass sie ihren Höhepunkt um das Jahr 1870 erreichte. Generell gilt Josef Israels als wichtigster und bedeutendster Vertreter dieser Gruppe.
John Constable
Mühle und Schleuse von Dedham, 1819/20
Öl auf Leinwand, 51 x 77 cm
London, Victoria and Albert Museum
Josef Israels
Selbstporträt 1908
Öl auf Leinwand, 70 x 97 cm
Amsterdam, Stedelijk Museum
DER GENREMALER
Josef Israels, der aus einem stark jüdisch geprägten Umfeld stammte, erhielt bereits als Elfjähriger an der Akademie Minerva in seiner Geburtsstadt Groningen Zeichen- und Malunterricht. Sieben Jahre später zog er nach Amsterdam, um dort im Atelier des Porträt- und Figurenmalers Jan Adam Kruseman (1804-1862) zu arbeiten und an der Königlichen Akademie weiter zu studieren, an der auch Kruseman lehrte. Nachdem Israels ein Gemälde des in Paris lebenden und arbeitenden niederländischen Malers Ary Scheffer (1795-1858) gesehen hatte, beschloss er im Jahre 1845 nach Paris zu übersiedeln. Dort arbeitete er im Schüler-Atelier von F. E. Picot, besuchte Abendkurse an der Ecole des Beaux Arts und kopierte im Louvre unter anderen die Gemälde von Rembrandt und Velásquez. Sein romantisches Werk Mutter und Kind schickte er in die Niederlande, um es dort auszustellen. 1847 kehrte er in sein Heimatland zurück und ließ sich in Amsterdam nieder. Hier malte er Genrebilder und Porträts, mit denen er zwar sehr zufrieden war, auf die das Publikum aber keineswegs gut ansprach. Sein ehemaliger Lehrer J. A. Kruseman warnte ihn daher, er solle keine hässlichen Menschen darstellen, weil dies gegen den guten Geschmack verstoße. Im Jahre 1850 machte sich Israels mit dem ebenfalls romantischen Gemälde Ophelia, das auch unter dem Titel Träumerei bekannt ist, einen Namen. Dargestellt ist eine junge Frau, an einem Bach unter einem dunklen Blätterdach liegend. Die fünfhundert Gulden, die er für das Gemälde erhielt, investierte er in eine Reise nach Düsseldorf, dem damaligen Zentrum der deutschen Romantik.
Josef Isaëls
Auf dem Heimweg, 1890/95
Öl auf Leinwand, 45 x 58 cm
Amsterdam, Stedelijk Museum
Ein weiterer Besuch in Paris brachte ihn mit der Barbizon-Schule in Kontakt. Eine tiefgreifende Veränderung seines Schaffens wurde durch das Anraten seines Bruders, eines Arztes, sich für einige Wochen in die gesunde Seeluft des kleinen niederländischen Fischerdorfes Zandvoort zu begeben, ausgelöst. Dort stellte Israels fest, dass ihn die hart arbeitende Bevölkerung viel mehr inspirierte, als der Personenkreis, den er bis dato zu malen gewohnt war. Mit seinem Gemälde An Mutters Grab verabschiedete er sich 1851 von den als „modisch“ geltenden Bildern. Er hatte den Bruch mit der Tradition jedoch noch nicht vollständig vollzogen, denn auch dieses Werk zeigte noch Einflüsse der Romantik. In jedem Fall wurden aber keine historischen Figuren oder wohlhabenden Bürger mehr dargestellt. Sein neuer Malstil brachte ihm auch im Ausland Erfolg, obwohl sein Werk für viel Wirbel sorgte. Seine Fischer und Bauern galten vielen Betrachtern als zu „gewöhnlich“, denn schließlich diente die Kunst immer noch dazu, große Ereignisse in der Geschichte festzuhalten. Der Hochschullehrer J. A. Alberdingk Thijm kleidet es in die Worte: „Ob in einem Kunstwerk Gedanken stecken, interessiert nicht: solange das Gemälde nur ein wenig verschwommenes Farbempfinden ausdrückt.“
Josef Israels
Kinder des Meeres, 1872
Öl auf Leinwand, 48,5 x 93,5 cm
Amsterdam, Rijksmuseum
1871 zog die inzwischen vierköpfige Familie Israels (der Maler hatte 1862 geheiratet) nach Den Haag. Der ebenfalls malende Sohn Isaac (1865-1934) übte bereits nach wenigen Jahren großen Einfluss auf das Werk seines Vaters aus. Isaac, der die tragische anmutende Stimmung, wie sie aus den Werken seines Vaters sprach, ablehnte, veranlasste Josef dazu, detaillierter zu malen. Zu beobachten ist dies auf den Gemälden Der Küster und seine Frau, Die Schlafenden und Die Nähschule in Katwijk. Das letztgenannte Werk stellte insofern eine Ausnahme dar, da hier mehrere Figuren in einer Gruppe dargestellt wurden, während sich der Künstler in seinen Bildern sonst eher auf wenige Personen beschränkte.
Mit den nach 1885 geschaffenen Gemälden Sohn des alten Volks und Szene in Laren, Nichts mehr und Auf Feldern und Wegen, auf denen er einsame oder verlassene Menschen darstellte, erreichte Josef Israels den Gipfel seiner Malkunst. Nicht mehr der Fischer auf hoher See wurde gemalt, sondern die auf ihn wartende Frau, nicht der Bauer bei der Arbeit, sondern der nach getanem Tagewerk nach Hause zurückkehrende Mann. Die in seinen Bildern dargestellten Figuren gehen gleichsam in ihrer jeweiligen Umgebung auf – dies geschieht auf eine Art und Weise, die den Kritiker Jan Veth zu folgenden Worten veranlasste: „Schludrige Dämmerschlieren und krasse Farblinien, beißende Akzente, rauh und sanft, Gemeinheit und Weichheit, Schmutz und Reinheit zaubern bei Israels eine grandiose Tiefe des Lebens herbei, und dies in der höchst feinsinnig empfundenen und vielleicht biegsamsten Malersprache, die mir geläufig ist“. Als biegsam erwies sich auch das Material, mit dem Josef Israels arbeitete und das viele seiner Gemälde im Verlauf der Jahre qualitativ beeinträchtigen sollte. Auf der Suche nach der gewünschten Farbe benutzte er nämlich Bitumen als Grundierung, einen Werkstoff, der später zur Asphaltierung von Straßen und für Dachbedeckungen eingesetzt wurde. Bitumen hat die Eigenschaft, nie richtig durchzutrocknen, so dass auf den Bildern immer wieder neue Risse entstehen. Zu seinen Lebzeiten zeigte sich dieses Restaurierungsproblem noch nicht. Seine Werke waren begehrt und der Maler erhielt im In- und Ausland viele Auszeichnungen. 1910 wurde er anlässlich der Biennale in Venedig mit einer Einzelausstellung geehrt. Es sollte dies sein letzter Besuch in der Lagunenstadt werden; Israels verstarb ein Jahr später in Den Haag.
ALS SPEZIALITÄT: KIRCHENINTERIEURS
Mehr als jeder andere Maler der Haager Schule wurde Johannes Bosboom (1818-1891) durch...