Das einfache Leben
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Das einfache Leben

  1. 380 Seiten
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Das einfache Leben

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Über dieses Buch

Das einfache Leben ist ein Roman von Ernst Wiechert. Er schrieb dieses Buch unmittelbar nach seiner Haft im KZ Buchenwald im Sommer 1938, um sich die erlittenen Leiden "von der Seele zu wälzen".Erst nach dem Verfassen dieses Buches fühlte sich Wiechert in der Lage, seinen Bericht über die Leiden im KZ im Roman "Der Totenwald", niederzuschreiben.Für Wiechert was "Das einfache Leben" die Landkarte, die ihm (und auch den damaligen Lesern) den Weg in die Innere Emigration wies, um sich den Gräueln des Naziregimes zu entziehen –wenn schon nicht real so doch zumindest seelisch sollte die Flucht sein.Protagonist ist der Kapitän und Kriegsveteran Thomas von Orla, der seiner Familie und der Zivilisation den Rücken kehrt und sein Trauma aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges endlich zu vergessen sucht.Das Buch traf (natürlich) die Ablehnung durch Goebbels Propagandaministerium und wurde schließlich nur versehentlich veröffentlicht. Ernst Wiechert selbst nannte es "sein" Buch und "das einzige meiner Bücher vielleicht, das ganz mein war".Null Papier Verlag

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783962817909

1

Nicht lan­ge nach dem großen Krie­ge stand um die Abend­zeit ei­nes Vor­früh­lings­ta­ges ein Mann an ei­nem der West­fens­ter sei­nes Hau­ses und hob, in Ge­dan­ken ver­lo­ren, den Blick von ei­nem al­ten und un­an­sehn­li­chen Buch, das er in den Hän­den hielt. Der große Abend­him­mel, wol­ken­los und von fer­nen Feu­ern bren­nend, er­füll­te durch das wei­te Fens­ter den gan­zen Raum mit röt­li­chem Licht. Die far­bi­gen Ein­bän­de in der Bü­cher­wand glüh­ten, die fremd­ar­ti­gen Waf­fen und Mas­ken in ei­nem seit­li­chen Schrank schim­mer­ten in ei­nem fast bö­sen Glanz, und der un­ter Qualm und Ne­bel feu­ern­de Kreu­zer auf dem ein­zi­gen Bil­de an der Wand schi­en, so be­glänzt, ge­ra­des­wegs in den flam­men­den Ab­grund ei­ner Göt­ter­däm­me­rung hin­ein­zu­stür­men.
Aber das ver­zau­bernds­te Licht sam­mel­te sich auf der ge­wölb­ten Flä­che des rie­si­gen Glo­bus, der auf ei­nem schwar­zen So­ckel frei vor der Mit­te der Bü­cher­rei­hen stand. Sei­ne Ge­bir­ge wa­ren mit brau­nen Er­he­bun­gen an­ge­deu­tet, sei­ne Ebe­nen wie Wie­sen ge­tönt, von dem Netz­werk der Stro­me durch­floch­ten, und sei­ne blau­en Mee­re schim­mer­ten nun pur­purn im Abend­licht.
Die Bli­cke des Man­nes, vom Lich­te ge­löst, wen­de­ten sich dem be­strahl­ten Ab­bild der Erd­ku­gel zu, wo die klei­nen In­sel­grup­pen wie Per­len im In­di­schen Ozean schwam­men und der Pik von Co­lom­bo einen spit­zen Schat­ten über die Flut zu wer­fen schi­en. Die Küs­ten der Mee­re wa­ren mit ei­nem fei­nen Glut­strich ge­gen die Fest­län­der ab­ge­setzt, und jen­seits des Hi­ma­la­ja, auf den gel­ben ti­be­ta­ni­schen Län­dern, schi­en schon eine schwei­gen­de Däm­me­rung auf frem­de Stern­bil­der zu war­ten.
Lan­ge blieb der Mann in die­ses Bild ver­sun­ken, bis es un­ter grün­li­chen und grau­en Schat­ten im­mer mat­ter wur­de, die Küs­ten ver­schwam­men, die Tä­ler sich ver­dun­kel­ten und es zu ei­ner blas­sen Schei­be er­losch, ei­nem fer­nen Gestir­ne gleich im Rau­me schwe­bend.
Nun, in der wach­sen­den Stil­le des Abends, hob das Brau­sen der ab­sei­ti­gen Haupt­stadt sich über die Gär­ten der Vor­städ­te und stand wie der Ton fer­ner Bran­dung, un­merk­lich stei­gend und fal­lend, über der Däm­me­rung. In den licht­grün ver­blass­ten Him­mel rag­ten die Stäm­me der Kie­fern, schwarz und un­be­wegt, über ei­ner fer­nen Stra­ße schim­mer­ten wei­ße Lam­pen auf, schnell und nach­ein­an­der, und wer lan­ge auf dem Mee­re ge­lebt hat­te, moch­te nun bei halb­ge­schlos­se­nen Au­gen leicht sich ein­bil­den, wie­der auf ei­ner Brücke zu ste­hen oder hin­ter den Fens­tern der Ka­jü­te,1 das lei­se Brau­sen des Schif­fes im Ohr, in­des die Lich­ter des Lan­des sich fern und laut­los ver­scho­ben, zu­rück­g­lit­ten und erstar­ben, hin­ab­ge­taucht hin­ter die Krüm­mung der Erde, und das Un­be­fah­re­ne vor dem Bug2 sich nun be­herr­schend er­hob.
Im letz­ten Licht nahm der Mann noch ein­mal das Buch vor die Au­gen, als woll­te er sich ei­ner be­stimm­ten Stel­le ver­ge­wis­sern, dass sie auch noch da­ste­he, nicht mit­ge­löscht von der Däm­me­rung der Welt. Dann ließ er es sin­ken und blick­te hin­aus, die lin­ke Schlä­fe an den Vor­hang des Fens­ters ge­legt. Sein Ge­sicht über dem dunklen Rock emp­fing nun das letz­te Abend­licht. Schat­ten sam­mel­ten sich un­ter der Stirn und in den tie­fen Fal­ten, die von den Na­sen­flü­geln zum Mun­de lie­fen, und so war das Ge­sicht nun nicht un­ähn­lich ei­nem ver­klei­ner­ten und ver­schmä­ler­ten Ab­bil­de je­ner Erde, die vor den Bü­cher­rei­hen schweb­te, de­ren Tä­ler im Schat­ten ver­dun­kel­ten und de­ren Um­ris­se sich ver­lo­ren, so­dass nur ein mat­ter Schein an der Stel­le des Ge­gen­ständ­li­chen blieb.
Spä­ter, als die Tür sich plötz­lich öff­ne­te und das Licht des Flu­res fast grau­sam in den schwei­gen­den Raum hin­ein­brach, ließ der Mann sich Zeit, das Ge­sicht nach der im Tür­rah­men Ste­hen­den zu wen­den, und be­vor er sie er­blick­te, tra­ten zu­erst die we­ni­gen nun er­hell­ten Din­ge des Rau­mes in sein Be­wusst­sein: das Bild des Kreu­zers an der Wand, der nun. wie im Licht ei­nes Schein­wer­fers, im­mer noch aus den Pan­zer­tür­men sei­ne düs­ter­ro­ten Sal­ven schoss, eine schma­le Bü­cher­säu­le, die scharf be­grenz­te Bahn ei­nes ro­ten Tep­pichs und eine schma­le Kan­te des Glo­bus, die wie eine Si­chel leuch­te­te.
Dann erst sah er die Frau, die im Abend­kleid auf der Schwel­le stand und den blo­ßen Arm nach dem Licht­schal­ter aus­streck­te.
»Lass das!« sag­te er scharf.
Sie hielt in der Be­we­gung inne, ohne den Arm sin­ken zu las­sen, und auch wenn sie nicht im Licht ge­stan­den hät­te, wür­de er ge­wusst ha­ben, dass sie lä­chel­te, nicht ohne Spott, aber auch nicht ohne Scho­nung.
»Träumt man wie­der?« frag­te sie.
»›Man‹ hat ge­le­sen«, er­wi­der­te er, trat an den Schreib­tisch und leg­te das ge­öff­ne­te Buch sorg­fäl­tig auf die lee­re Plat­te. »In ei­nem Psalm, in dem man seit der Kon­fir­ma­ti­on nicht mehr ge­le­sen hat­te, und dort hat man den Vers ge­fun­den: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Dar­über hat man nach­ge­dacht.«
»Hel­den und Den­ker«, sag­te sie mit ih­rer tie­fen Stim­me, »das ist uns nun üb­rig­ge­blie­ben aus dem Krie­ge …«
Es habe Zeit­al­ter ge­ge­ben, mein­te der Mann, die auf einen sol­chen Be­sitz sehr stolz ge­we­sen sei­en.
Ja, aber eben Zeit­al­ter … nun je­doch, nach die­sen furcht­ba­ren Jah­ren, wol­le man we­der kämp­fen noch den­ken, son­dern eben le­ben, nichts als le­ben.
Auch die Tie­re woll­ten das, und zwar das al­lein.
Ja, das sei eben das Schö­ne und Ge­sun­de an ih­nen. Sie lä­sen we­der Psal­men noch starr­ten sie in die Abend­däm­merung.
»Manch­mal«, sag­te er, in­dem er auf die be­leuch­te­te Kan­te des Glo­bus starr­te, »ver­ste­he ich nun die ganz ein­fa­chen, ganz pri­mi­ti­ven Män­ner, die ab und zu die Lust an­kommt, ihre Frau­en zu schla­gen …«
Sie lach­te, ganz hei­ter und sorg­los, und un­ter ih­rer Hand brach nun doch ohne War­nung das wei­ße Licht aus der Kup­pel un­ter der De­cke her­aus. »Das muss ich se­hen«, sag­te sie, »den Mann, den die­se Lust eben an­ge­kom­men ist.«
»Ich habe nicht von mir ge­spro­chen«, er­wi­der­te er und sah sie über den Raum hin­weg fins­ter an. Ihre Ge­stalt war schmä­ler ge­wor­den in die­sen dump­fen Jah­ren, ihre Züge schär­fer, ihre Au­gen glän­zen­der. Nur ihr Kin­der­mund war der glei­che ge­blie­ben, trotz der leuch­ten­den Far­be, die sie nun auf­trug, klein, mit weh­mü­tig ge­neig­ten Win­keln, und nie­mals wuss­te er, ob sie im Zorn oder im Wei­nen er­be­ben wür­den.
Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen zu­rück zu der Zeit ih­rer ers­ten Lie­be, und er be­griff, wie viel der Krieg ih­nen al­len ge­raubt hat­te. »Geh nun«, sag­te er freund­lich, »es führt ja doch zu nichts …«
Ihre Hand mit den fun­keln­den Rin­gen strich an den ro­ten Ein­bän­den ne­ben der Tür her­un­ter. »Es soll­te ja auch nur dazu füh­ren«, ant­wor­te­te sie, »dass du dich recht­zei­tig um­ziehst. Sie kom­men in ei­ner hal­b­en Stun­de, und du weißt, dass auch der Ad­mi­ral zu­ge­sagt hat. Es könn­te viel­leicht doch nicht ohne Wich­tig­keit für dich sein … er hat sehr viel Ein­fluss.«
Nun ging er doch quer durch den Raum bis zur Schwel­le und lösch­te das Licht. Dann fass­te er sie sanft bei den Ar­men, dreh­te sie um und schob sie in den Flur. Ihre küh­le Haut war ihm fast so fremd wie die ei­ner To­ten. »Set­ze dei­nen Nel­son auf mei­nen Glo­bus«, sag­te er, »und dann kniet vor ihm nie­der und be­tet ihn an, ihn und sei­ne Ein­flüs­se. Mich aber ekelt vor al­len die­sen Ge­s­pens­tern, ver­stehst du? Wer das Spiel ver­lo­ren hat, soll es zu­ge­ben, wie ich es zu­ge­be, und nicht be­haup­ten, be­teu­ern und be­schwö­ren, dass falsch ge­spielt wor­den sei.«
»Ach, Tho­mas«, sag­te sie und lä­chel­te über die Schul­ter zu­rück, »was bist du doch für ein un­vor­stell­ba­rer Narr …«
Er schloss die Tür, aber der Raum war nun nicht mehr der­sel­be. Eine Stra­ßen­lam­pe warf ihr un­ru­hi­ges Licht hin­ein, und der Schat­ten des Glo­bus lag als ein schwar­zer Kreis auf den Bü­cher­wän­den. »So ist es«, mur­mel­te er, »eine dunkle Erde, aber sie be­leuch­ten sie mit ih­ren Ei­tel­kei­ten … wer eine Schlacht ver­lo­ren hat, soll­te schweig­sam wer­den, und wir alle ha­ben mehr ver­lo­ren als eine Schlacht.«
Er lausch­te auf das Klir­ren von Glä­sern und Be­ste­cken in ei­nem fer­nen Raum. Dann trat er vor­sich­tig in den Flur, nahm Man­tel und Hut und öff­ne­te lei­se die Tür zum Kin­der­zim­mer. Die Schwes­ter saß auf dem Bett­rand und ver­such­te, ein klei­nes Holz­schiff un­ter der De­cke her­vor­zu­zie­hen. Aber die klei­nen Hän­de des Jun­gen hiel­ten es am an­de­ren Ende fest.
Bei­de Ge­sich­ter wen­de­ten sich ihm zu, das er­rö­ten­de der Schwes­ter und das zor­ni­ge des Kin­des. Er blieb ste­hen und be­trach­te­te es schwei­gend. Ja, es war sein Ge­sicht. Noch ein­mal wie­der­holt aus ei­ner Un­sum­me von Mög­lich­kei­ten. Lei­se ab­ge­wan­delt, fes­ter in der Stirn, här­ter in den Lip­pen, aber doch wie­der­holt. Sein Ge­sicht und nicht das an­de­re. Die Zu­kunft, das ein­zig aus dem Krie­ge Ge­ret­te­te.
»Was ist, Joa­chim?« frag­te er, noch im­mer ernst.
Die Schwes­ter öff­ne­te die Lip­pen, aber schon hat­te eine klei­ne, brau­ne, zer­schramm­te Hand sich über sie ge­legt. »Schwes­ter Bea­te sagt«, rief die hel­le Stim­me, »dass man mit ei­nem Kriegs­schiff nicht schla­fen geht, und ich habe ge­sagt, dass der Sohn ei­nes Ka­pi­täns mit zwan­zig Kriegs­schif­fen schla­fen ge­hen kann. Sag ihr, dass das recht ist, Va­ter!«
Tho­mas trat ans Bett und griff nach dem plum­pen Spiel­zeug. Die feind­li­chen Hän­de lie­ßen ge­hor­sam los, und er hob es vor die Au­gen wie vor­her das alte Buch. »Der Sohn ei­nes Ka­pi­täns kann in ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, Joa­chim, oder auch un­ter ei­nem Kriegs­schiff, aber mit ei­nem Kriegs­schiff schla­fen, glau­be ich, nur klei­ne Mäd­chen, die es für eine Pup­pe hal­ten. Ein Jun­ge stellt sein Schiff auf den Schrank, dort, wo die Mor­gen­son­ne es trifft, und wenn er auf­wacht, dann steht es da und ruft ihn zu sei­nem Dienst, nicht wahr?«
Er sah, wie die Haut über der jun­gen Stirn sich fal­te­te in der An­stren­gung, je­des Wort zu ver­ste­hen, und er wen­de­te sich mit dem klei­nen Schiff in der Hand zum Spiel­zeug­schrank, um sei­ne Be­we­gung zu ver­ber­gen. Man hat­te im Krie­ge sel­ten Kin­der ge­se­hen.
»Du bist der klügs­te Mann auf die­ser Erde, Va­ter«, sag­te Joa­chim tief auf­at­mend, mit zwei­fel­lo­ser Si­cher­heit.
»Nicht ganz, Joa­chim, aber we­nigs­tens nicht der dümms­te … und jetzt wird ge­schla­fen, nicht wahr?«
»All­right, Va­ter. Lu­ken dicht und ge­pennt … sagt man so?«
»Ja, so sagt man.«
»Und wo­hin gehst du jetzt, Va­ter? Bleibst du nicht, wenn der Ad­mi­ral kommt?«
»Nein, ich habe vie­le Ad­mi­ra­le in mei­nem Le­ben ge­se­hen. Ich muss jetzt et­was su­chen ge­hen.«
»Was willst du su­chen?«
»Das wirst du spä­ter se­hen. Erst wenn man ge­fun­den hat, soll man sa­gen, was man ge­sucht hat. Ge­be­tet?«
»Ja, Herr Ka­pi­tän«, sag­te die Schwes­ter und zog die De­cke zu­recht.
Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen schon wie­der fort. »Spä­ter, Schwes­ter«, sag­te er, »kön­nen Sie den Psalm mit ihm be­ten, in dem der Vers steht: ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz.‹ Das ist ein gu­tes Ge­bet … ich habe es erst heu­te ge­fun­den …«
Ihre Au­gen, die ihn an­sa­hen, füll­ten sich lang­sam mit Trä­nen, aber er stand schon an der Tür und wink­te mit der Hand. »Wis­sen Sie, dass es eine Grab­schrift auf Ihren Na­men gibt, Schwes­ter Bea­te?« frag­te er. »Hö­ren Sie zu:

›Hier ru­het, die Bea­te hei­ßen soll­te,
und lie­ber sein als hei­ßen woll­te.‹
Ja, von Les­sing so­gar. Ich habe es neu­lich ge­fun­den … ›und lie­ber sein als hei­ßen woll­te …‹ Nun gute Nacht und schlaft wohl!«
Er lä­chel­te sein zer­streu­tes Lä­cheln und schloss lei­se die Tür hin­ter sich.
Drau­ßen blieb er eine Wei­le un­ter den Kie­fern des Vor­gar­tens ste­hen und sah zu den ers­ten Ster­nen auf. Im­mer noch war er auf dem Meer und such­te die lei­ten­den Bil­der über dem Ho­ri­zont. Ein Un­glück, dass sie schon zu An­fang des Krie­ges in die­se Stadt ge­zo­gen war, aber der Ha­fen war ihr ver­hasst ge­we­sen, von An­fang an. Sie hat­te das Meer nie­mals ge­liebt, die großen Win­de, das streng in den Rah­men des Diens­tes ge­spann­te Le­ben. Sie hat­te sei­ne Uni­form ge­liebt und ih­ren Traum, dass er in jun­gen Jah­ren Flot­ten­chef wer­den wür­de.
Er ging nun schon die Stra­ße zur Un­ter­grund­bahn ent­lang. Nein, so war es doch wohl nicht ge­recht … Lie­be war ge­we­sen, aber ohne Prü­fung und Leid, das war es. Sie alle hat­ten das Le­ben ja ge­nom­men wie Früch­te von ei­nem gu­ten Baum. Der lie­be Gott hat­te ihn in ih­ren Gar­ten ge­stellt, und sie pflück­ten und aßen. Wehe dem, der zu sa­gen wag­te, dass sie es nicht ver­dien­ten! Und doch ver­dien­ten sie es nicht, kei­ner von ih­nen. Der Aus­gang hat­te es be­wie­sen und auch das, wie sie es nun hin­nah­men. Ohne Wür­de, und wer ohne Wür­de ist, ist ohne Wert.
Man muss fort, dach­te er, wie aus ei­ner Pest­stadt. Sie wird nicht mit­ge­hen, aber ich muss fort. Ich will nicht ei­ner die­ser »un­be­sieg­ten Hel­den« wer­den. Ich weiß, bei Gott, wie be­siegt ich bin, mehr als sie ah­nen … nur das Kind, das Kind …
Er stand schon in dem küh­len Tun­nel und starr­te auf die Fahr­kar­te in sei­ner Hand. Ein un­ge­heu­rer Preis war quer über das brau­ne Blatt ge­druckt … wo­her nahm sie all das Geld? Für das Haus, die Mäd­chen, die Schwes­ter? »Es ist ei­nes Of­fi­ziers un­wür­dig, an der Bör­se zu spie­len.« Hieß es nicht so? Aber sie spiel­te si­cher­lich Tag und Nacht. Nicht nur Ad­mi­ra­le wa­ren un­ter ih­ren Gäs­ten. Die al­ten Göt­ter stürz­ten, Stun­de für Stun­de. Ein un­vor­stell­ba­rer Narr, das war er si­cher­lich.
Und wes­halb war­te­te er nur auf einen die­ser Züge? Auf die­se don­nern­den Un­ge­tü­me mit ih­rem grel­len Licht, ih­rer ver­brauch­ten Luft und den ver­wüs­te­ten Ge­sich­tern, die ge­ra­de­aus ins Lee­re starr­ten? Wes­halb war­te­te er fast je­den Abend auf sie, um ziel­los und sinn­los durch die­se Stadt zu fah­ren, die er hass­te? Stun­de für Stun­de, kreuz und quer? Mit der Stadt­bahn, dem Au­to­bus, der Stra­ßen­bahn? Durch die Elends­vier­tel und die Pa­läs­te (aber sie wa­ren elen­der als jene), die Au­gen von Ge­sicht zu Ge­sicht wen­dend, als such­ten sie et­was schreck­lich Ver­lo­re­nes? Konn­te er nicht mehr er­tra­gen, al­lein zu sein, oder tat er es ge­ra­de, um al­lein zu sein, hoff­nungs­los al­lein un­ter Ver­fluch­ten und Ver­lo­re­nen? Die an­de­ren kauf­ten Rausch­gif­te; an dunklen Stra­ßen­e­cken, fins­te­ren Tor­we­gen konn­te man sie ha­ben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wie­der wei­ter, be­rausch­ter als sie alle, aber doch mit der eis­kal­ten Angst im Her­zen, es könn­te ihm ent­ge­hen, es könn­te nicht ge­fun­den wer­den, was er such­te: ein Ge­sicht, eine Er­kennt­nis, der Frie­de … er wuss­te es nicht.
»Nun, auch das wird ein Ende ha­ben«, sag­te er laut. Er sprach nun manch­mal mit sich selbst.
Er hat­te nicht auf das be­leuch­te­te Schild ge­se­hen und wuss­te nun nicht, wo­hin der Zug ihn führ­te. Er woll­te es auch nicht wis­sen. Er saß in sei­ner Ecke, sau­ber und ge­ra­de, und ließ wie im­mer die Bli­cke von Ge­sicht zu Ge­sicht wan­dern. Man­che wa­ren ihm nun längst be­kannt: der Mann mit dem Holz­bein und den Schnür­sen­keln, der nach­her an der großen Kir­che stand; die Schau­spie­le­rin, die zu ih­rer Vor­stel­lung fuhr und aus de­ren er­lo­sche­nem Ge­sicht zu le­sen war, dass sie an die­sem Abend zum hun­derts­ten- oder zwei­hun­derts­ten Mal die­sel­be Rol­le spiel­te; das Fa­brik­mäd­chen mit der ro­ten Schlei­fe und die alte Ex­zel­lenz, an der al­les lei­se und un­auf­hör­lich zit­ter­te au­ßer dem Mo­no­kel, das wie vor ei­nem To­ten­au­ge schim­mer­te.
Die Tü­ren wur­den ge­öff­net und wie­der zu­ge­schla­gen, wie Fal­len, die sich hin­ter Ge­fan­ge­nen schlos­sen. Dann heul­te der Mo­tor auf, und die un­ter­ir­di­schen Lam­pen zo­gen wie ein zer­ris­se­nes Band vor­über. Mit­un­ter hob sich der Zug, Schäch­te und Fens­ter spran­gen aus ver­wit­ter­ten Haus­wän­den, und der Fet­zen ei­ner Licht­re­kla­me schoss wie auf der Flucht die Dä­cher hin­auf. Dann don­ner­ten wie­der die Tun­nel­wän­de, Kel­ler­luft ström­te durch die halb ge­öff­ne­ten Fens­ter, und wei­ße Ge­sich­ter er­schie­nen an den Schei­ben, wie tote Fi­sche hin­ter Glas­wän­den, von un­sicht­ba­ren Strö­mun­gen auf und ab ge­trie­ben.
Mit­un­ter sah Tho­mas eine Ma­tro­sen­uni­form, ins Bür­ger­li­che ver­wahr­lost ab­ge­wan­delt, und er be­trach­te­te sie aus halb­ge­schlos­se­nen Au­gen. Den em­pö­re­ri­schen Tri­umph in dem Ge­sicht dar­über, auf des­sen Grun­de doch auch nur das Ver­las­sen­sein haus­te, die Sehn­sucht, zu vie­len sol­chen Ge­sich­tern zu fin­den, zu ei­ner schutz­ge­ben­den Mas­se, in der es un­ter­tau­chen konn­te, ge­bor­gen in der Na­men­lo­sig­keit.
Nun wa­ren sie schon aus­ge­stie­gen, zu ih­rer Ar­beit oder der blo­ßen Fül­lung lee­rer Stun­den: der Mann mit dem Holz­bein, die Schau­spie­le­rin, die Ex­zel­lenz. Der Zug braus­te dem Nor­den zu, und an­de­re Ge­sich­ter tauch­ten auf, ver­härm­te, ver­dor­be­ne, ver­wüs­te­te. Es war, als schlin­ge der Zug die Ern­te der letz­ten Jah­re in sich hin­ein, zu dür­ren Gar­ben has­tig ge­bun­den: Müt­ter, die vor sich hin wie auf Grä­ber starr­ten, auf ein­ge­sun­ke­ne und ver­fal­le­ne Kreu­ze; Kin­der, die für eine ge­stoh­le­ne Stun­de beim Hass oder beim Las­ter zu Gast ge­we­sen wa­ren; Frem­de, die auf schmut­zi­ge Blät­ter un­le­ser­li­che Zei­chen mal­ten; und Krüp­pel, vie­le Krüp­pel, die Blut­zeu­gen der großen Op­fe­rung, die stumpf oder voll Hass auf die Ge­sun­den blick­ten; de­nen man ge­sagt hat­te, dass sie Hel­den sei­en, und die in den Bli­cken der an­de­ren nun zu le­sen glaub­ten, dass man sie für arme Nar­ren hielt, ein un­be­que­mes Heer, das nun mit­zu­schlep­pen war auf dem Wege zu ei­nem neu­en Ziel.
Tho­mas schloss die Au­gen. Er war ge­sund, auf­recht, gut ge­klei­det. Er war wie ein Mann in ei­nem To­ten­saal, der auf­ste­hen und da­von­ge­hen konn­te, in­des die an­de­ren sich hass­voll auf ih­rem La­ger krümm­ten und mit halb ver­wes­ten Glie­dern ihn fest­zu­hal­ten such­ten. Alle hat­ten zu ster­ben oder kei­ner von ih­nen. Nie­mand hat­te reich zu sein, und wer ge­sund war, war ein Räu­ber.
»Der Herr hat ein Ren­dez­vous?« frag­te ein Mann, ...

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