Von den Ballons, die bei Festlichkeiten aufgeblasen werden
Diese Überschrift greift ein Zitat auf, das Andreas Urs Sommer seinem Essay voran gestellt hat. Vollständig lautet es: „Werte sind nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge.
Sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.“ Sommer zitiert den Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann.112 Warum Sommer diese Worte wählt, erschließt sich nicht sofort. In seiner Nachbemerkung spricht er jedoch – ein anderes Bild verwendend – von Wundertieren, die „erstaunlich zahm und ja sogar nützlich sind“.113 Vermutlich will Andreas Urs Sommer bereits zu Beginn auf das Bunte und Leichte in den Werten aufmerksam machen. Da sie sich gerade in der Krise bewähren, spart man sie sich besser auf wie Ballons zu Festlichkeiten. Denkbar wäre noch eine andere Interpretation: Ballons sind nur bunt und schön im aufgeblasenen Zustand. Lässt man aus ihnen die Luft wieder heraus, fallen sie in sich zusammen. Soll das auch für die Werte gelten? Auf diese Idee könnte man kommen, wenn man ein anderes Zitat von Niklas Luhmann berücksichtigt, demzufolge Werte viel versprächen, aber nichts hielten.
Andreas Urs Sommer hält in seinem Essay ein leidenschaftliches Plädoyer für die Werte. Zudem gibt er eine Antwort auf die Frage, warum das Werten nicht unbedingt in einem Zusammenhang mit den Werten zu sehen ist. Dieser Abschnitt wendet sich somit noch einmal dem „Wert an sich“ zu, um dann wieder in den Wertealltag zurück zu kehren.
Sommer nähert sich den Werten, indem er Fragen formuliert, die sich auf Kategorien beziehen, die ursprünglich von Aristoteles entwickelt worden waren. Sie dienten ihm zu dem Zweck, Bestehendes zu beschreiben, um hierüber reden zu können. Analog zu diesen Kategorien ergeben sich bei Sommer nachfolgende Fragen:
• Was ist ein Wert?
• Wie viele Werte gibt es?
• Wie ist ein Wert beschaffen?
• Worauf beziehen sich Werte?
• Wo und wann sind Werte (im Gebrauch)?
• In welcher Position ist ein Wert?
• Was haben Werte?
• Was tun Werte?
• Was erleiden Werte?
• Zusätzlich zu den genannten Kategorien stellt Sommer die Frage nach dem „Warum“ Werte sind.114
Die Beziehung von den Werten und dem Werten beschreibt Andreas Urs Sommer wie folgt: „Werte sind nichts, was dem Bewerten vorausgeht, sondern etwas, was aus dem Bewerten hervorgeht. Werte sind nicht vorausgesetzt, sondern abgeleitet. Sie sind nicht Prämissen, sondern die Resultate des Bewertens.“115 Mit dieser Zuordnung schließt Sommer aus, dass Werte dem Bewerten zugrunde liegen. „Bewerten ist zwar eine grundlegende Funktion des Lebens. Daraus folgt aber mitnichten die Existenz oder die ‚Geltung‘ eines Abstraktums namens ‚Wert‘ oder entsprechender Abstrakta im Plural. Die Vorstellung von Wert oder Werten, die dem Bewerten zugrunde liegen sollen, ist missbräuchlich….“116 Hier begegnet uns das bekannte Problem von „Henne und Ei“.
Sommer wendet sich gegen eine philosophische Auffassung, dass es moralische Werte im Sinne einer objektiven Wertordnung gäbe. Mit dieser Haltung stimme ich überein. Das „Henne-Ei-Problem“ hingegen muss ich noch aufschieben, zumal sich die Frage, was Werte sind, erst nach dem Durchlauf durch alle aristotelischen Kategorien beantworten lässt.
Fürs Erste bezeichnet er sie als „Fiktionen“117, also als Annahmen, die richtig oder falsch sein, aber zu richtigen Erkenntnissen verhelfen können. Fiktionen sind ein Vehikel zur Erkenntnisbildung.
In der zweiten Kategorie geht es um die Quantität des zu untersuchenden Gegenstandes: Wie groß ist etwas? und: Wie viele von ihm gibt es? Um diese Fragen zu klären, geht Sommer zurück zur Geschichtlichkeit der Werte mit dem Fokus auf den Grund ihrer Entstehung. Weshalb wurden sie erfunden oder gebraucht? Die geläufigste These, die uns bereits begegnet ist, behauptet, dass Werte gebraucht wurden, weil sie im Gegensatz zu den in die Krise geratenen metaphysischen Lehren mit ihren Tugenden und Pflichten empirisch nachvollziehbare Eigenschaften versprachen. Wie seine Brüder aus der Ökonomie seien Werte in der Ethik bezifferbar und vielfältig. Ferner besäßen sie die Fähigkeit, die Welt, in der wir leben zu strukturieren.118 Gegen diese These führt Sommer an: „Werte bleiben nicht, was sie sind – angeblich unerschütterliche Felsen in der Brandung des Lebens. Vielmehr sind sie selbst äußerst dynamisch. Sie scheinen sich zu vermehren. Werte gebären Werte und erweisen sich dabei als äußerst reproduktionsfreudig.“119 Die Frage zur Quantität beantwortet er entsprechend: „Viele, immer mehr.“120
Die dritte Kategorie fragt nach der Qualität oder Beschaffenheit: Wie ist der Wert (beschaffen)? Die Antwort: Die Vielzahl der Werte folgt deren historischem Wandel in der Moderne. „Das Wie der Werte ist wesentlich Wandelbarkeit.“121
Worauf beziehen sich Werte? So lautet Sommers Ausgangsfrage zur vierten Kategorie, die zur Relation. Aus den bisherigen Antworten ist zu folgern, dass Werte sich aufeinander beziehen. Anzunehmen wäre dabei, dass sie sich gegenseitig ergänzen, einander ausschließen, miteinander konkurrieren oder sich gegenseitig relativieren. Sommer sieht – im Gegensatz zu den Wertekritikern – hierin kein Problem. Es ist ein Faktum, egal wie man es bewertet. „Was das Geld in der sozialen Alltagspraxis ermöglicht, ermöglichen Werte in der sozialen Denk- und Gefühlspraxis. Werte sind ein Zaubermittel, alles mit allem in Beziehung zu setzen.“122
Wo und wann sind Werte (im Gebrauch)? Mit dieser Frage fasst Andreas Urs Sommer die fünfte und sechste Kategorie zu Ort und Zeit zusammen. Die eine der beiden Antworten, die Sommer gibt, mag nach der der bisherigen Analyse niemanden mehr überraschen: Überall. Genauer heißt es in der Überschrift zu diesem Kapitel: „Zuhause nirgends und überall.“123 Die Antwort „nirgends“ hingegen finde ich ziemlich überraschend. Sommer schreibt, dass Werte überall dort ihren Ort und ihre Zeit haben, wo ein „vermehrter Moralredebedarf auftritt“.124 Das sei dann der Fall, wenn einst moralisch geklärte oder sanktionierte Regelungen infolge gesellschaftlicher Veränderungen nicht mehr greifen. „Und dieser Moralredebedarf wird mit Vorliebe über Werte geführt. Werte sind die gängigen Münzen im alltäglichen Moraldiskurs.“125 Positiv gewendet seien die Werte die Währung einer modernen Gesellschaft. „Modernität bedeutet Diversifikation der Lebenswirklichkeiten; moderne Menschen leben (…) in einer Mehrzahl von Welten.“126 Der Moralredebedarf bestehe darum auch darin, die in diesen Welten vorherrschenden und miteinander konkurrierenden Werte abzugelten. Sommers Fazit: „Werte kommen also an verschiedensten Orten und zu verschiedensten Zeitpunkten vor, um unterschiedlichste Funktionen auszufüllen – und andere Funktionen (…) zu verweigern. Dabei sind Werte (…) Münzen von unterschiedlichem Nennwert in sprachlichen Verständigungs- und Missverständigungsprozessen ….“127 Damit wäre das „Überall und zu jeder Zeit“ gefunden. Unauffindbar blieb das „Nirgends“. Vielleicht gehört es ja zu dem Nirgends, dass man es nirgends findet. Vielleicht ist damit auch nur gemeint, dass Werte eine begrenzte Lebensdauer haben.
Das Kapitel zu siebten Kategorie überspringe ich. Die Antworten Sommers zur Frage, in welcher Position oder Lage sich ein Wert befinde, enthalten zunächst nur weitere Abgrenzungen zu einem unsachgemäßen Gebrauch der Werte. Zum anderen erschließt sich mir kein positiver Sinn, wenn als Ergebnis nicht mehr heraus kommt als eine weitere Frage: „Warum nicht der instabilen Seitenlage den Vorzug geben?“ gegenüber dem absoluten Anspruch, der Wert könne in jeder erdenklichen Lage und Position seine Funktion ausführen.128
Es geht weiter mit der achten und neunten Kategorie: „Was haben Werte? Was tun sie?“129 Es müsste also um den Habitus oder die Gewohnheiten des Wertes wie auch um seine Wirkung gehen. Auch in diesem Kapitel bedient sich Andreas Urs Sommer einer Argumentationsfigur, die sich durch alle seiner Kapitel zieht. Er grenzt sich zuerst von all jenen Auffassungen in der Wertrede ab, die seines Erachtens dem Wesen der Werte und ihrer Wirkweisen nicht entsprechen. Leider wird dabei seine sachliche Bewertung durch Überzeichnungen, Pathos und Polemiken im Stile eines Besserwissers geschwächt. In mehreren Anläufen befragt Sommer bisherige Überlegungen und Modelle zu den Werten in der Philosophie und Soziologie, welche Anlässe Werte auf den Plan riefen oder welcher Antrieb sie motiviere. Für Andreas Urs Sommer sind Werte fiktionale Wesenheiten130, die durch Sorge oder Krisen hervorgerufen würden und sich in diesen Situationen bewährten, indem sie Unverbundenes miteinander verbänden. „Sie leisten – als regulative Fiktionen – die Verbindung von Sphären, die bis dahin nichts miteinander zu schaffen zu haben schienen. (…) Das Versprechen der Werte ist ihre Amalgamierungskraft – die Kraft, Unverbundenes miteinander zu verbinden. Sie sollen die vielen Wirklichkeiten zu einer Wirklichkeit zusammenfügen. Sie können das nur zeitweilig und situativ – weil sie so viele sind und zudem so veränderungsanfällig.“131 Werte können dies, weil sie „der Dynamik Rechnung (tragen), die die Moderne auszeichnet, indem sie selbst dynamisch sind statt starr wie heilige Prinzipien, unverrückbare Grundsätze oder soziale Zwänge. Die Amalgamierung lässt jedes Mischungsverhältnis zu; die Amalgamierung vollzieht sich durch unentwegtes Abgleichen und Abwägen. (…) Moralische Wertschöpfung funktioniert durch Amalgamierung.“132
Die zehnte und letzte Kategorie gilt dem Erleiden. Da Werte in ihrem Sein und Tun selbst auch Einflüssen ausgesetzt sind, stellt Andreas Urs Sommer die Frage: „Was erleiden Werte?“133 Werte unterliegen dem Wandel oder verflüssigen sich. „Werte können und sollen ganz viel leiden. Man muss sie dehnen und biegen können.“134 Denn: „Menschen existieren in einem Wertgeflecht, einem Wertgefüge, das sich unablässig neu gestaltet, neu anordnet und neu priorisiert. Das entspricht den modernen Bedürfnissen.“135
Mit dem le...