Ein Interview mit dem Digital Media Experten Florian Brody, San Francisco und Wien
Alte und neue Inhalte – können wir das Web heute schon verstehen?
Festhalten und Loslassen im Kontext des Digitalen
Florian Brody denkt im Interview darüber nach, wie hilflos der „gemeine Archivar“ dem Zerrinnen alter und neuer Inhalte gegenüber steht. Er lebt als Wiener seit den 1990er Jahren im Silicon Valley und entwickelt kreative Marketing-Strategien für Start-Ups. Gemeinsam mit dem Amerikaner Bob Stein erfand und entwickelte er 1991 bei der einstmaligen Kult-Firma Voyager die ersten elektronischen Bücher. Bob Stein meinte damals zu mir in einem Interview: „Multimedia is like Sex, you have to experience it“. Brody hat seine Erfahrung aus Archiven und Bibliotheken mit seiner Arbeit an neuesten Technologien immer verbunden und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie sich alte und neue Medien zueinander verhalten und ineinander übergehen und welche Brüche dabei entstehen.
Philosophische Erkenntnis wird gegenüber vermitteltem Wissen eine noch größere Vorrangstellung einnehmen, so Brody und „… durch die Verfügbarkeit von einem weitaus breiteren Methodenspektrum unterschiedlichster Ansätze wird es einerseits zu einem tieferen globalen Verständnis, andererseits aber auch wieder zu lokalen Sektenbildungen kommen“.
Marion Fugléwicz-Bren: Du gehst davon aus, dass unsere Welt in Bezug auf Veränderungen im Rückblick eine gewisse Belanglosigkeit haben wird – kannst Du das näher ausführen? Stichworte dazu sind etwa die Archivierung des Wissens und der Bibliotheken: Wie weiß unsere Gesellschaft jetzt und zukünftig, welche Informationen für sie relevant sind und welche nicht?
Florian Brody: Eines der großen Dilemmata der Menschen ist das Unwissen über die Zukunft, das sich in seiner Sorgenhaftigkeit direkt mit dem Unwissen über die Vergangenheit verbindet. Das besorgte Unwissen ist nicht gleichzusetzen mit einem akzeptierten Nicht-Wissen (Not-knowing) das ein offenes Zugehen auf Neues erlaubt. Jede Aufbereitung und Speicherung von Archivdaten geht von einem derzeitigen Interessensstatus und einem heutigen Weltverständnis aus. Unser Glaube von dem, was Menschen in Zukunft über die Vergangenheit interessieren wird und wie Zusammenhänge verstanden werden, geht ursächlich immer vom Begriff des Heute aus. Wir wissen also nicht, welche Informationen in Zukunft relevant sein werden; wir sammeln, was uns heute interessiert.
Digitale Medien tendieren auch in ihrer Archivierbarkeit zu binären Entscheidungsmodellen: Alles oder nichts. Die mannigfaltigen Methoden technischer Reproduzierbarkeit und die Trennbarkeit von Information und Trägermedium führen zu einer kurzzeitigen Illusion, alles sei beliebig oft kopierbar, neu speicher- und aufhebbar. Beim Versuch „das Web“ – recte: Die Inhalte von Webseiten – festzuhalten, indem man sie punktuell früher auf CD-ROM, derzeit auf große Massenspeicher, demnächst auf – was auch immer – kopiert, zeigt sich schnell die Problematik des Unterfangens; wenn zwar viele Buchstaben und Informationen, nicht aber die relevanten Inhalte wieder abrufbar sind. Texte, die aus der Zeichenmenge {A..Z, a..z, 0..9,? ! @…} zusammengesetzt und in ihrer Rezipierbarkeit nicht medienabhängig sind, können noch relativ leicht vom Vellum (feine Pergamentart, Anm.) zum Papier und Bildschirm transferiert werden. Bereits eine gotische Initiale stellt eine Kindle-Version eines Codex vor derzeit unlösbare Probleme. Technisch wird die Darstellung von Farbbildern auf e-Paper in absehbarer Zeit gelöst werden, die Lese-Erfahrung wird sich verschieben, ebenso wie die – nun ubiquitäre Verfügbarkeit des Werkes. Eine CD-ROM aus 1993 heute noch zugänglich zu machen, um die historische Entwicklung interaktiver Lernsysteme zu studieren, ist weitaus aufwendiger, da sie nur Hardware und spezielle Software erfordert, die in einer Bibliothek nicht verfügbar ist und auch die Expertise eines IKT-Historikers erfordern wird. Software wird im Gegensatz zu Webseiten nur im Internet Archiv gesammelt9.
MFB: Offen bleibt die Frage, ob in 100 Jahren verstanden werden wird, was da gesammelt wurde und wozu es gut sein soll…
F. B.: So ist es. Traditionell gab es im Laufe der Zeiten aber schon immer eine Art organische Ausdünnung, da sowohl in Archiven als auch in privaten Sammlungen die häufiger genutzten und als relevanter angesehenen Dokumente eher aufbewahrt wurden und rein physisch – vom Platz her bis zur Erhaltung und Restaurierung der Objekte – ein Aufwand notwendig ist. Die physische Anmutung des Mediums an sich, die Distribution ebenso wie der Hersteller sind ebenso wichtige Faktoren bei der Auslese. Digitalen Medien fehlt diese Diversifikation; was letztlich dazu führt, dass mangels adäquater Auslesemethoden alles archiviert wird.
Das Festhalten von Gedanken und Gegebenheiten mittels Zeichnung und in analytischer Form mittels Schrift führte zu dem, was wir heute als Geschichte verstehen. Oral History hat aber vollkommen andere Funktionalitäten und genauso wie Sokrates in Phaidros den Werteverlust durch die Erfindung der Schrift beklagt, so erleben wir heute eine neuerliche Verschiebung des gesellschaftlichen Gedächtnis. Mnemotechne und verbaler Diskurs generierten eine andere gesellschaftliche Überlieferung als schriftliche Dokumente und wir stehen vor einer neuerlichen Verschiebung durch einen digitalen Diskurs.
MFB: Haben wir derzeit eine brauchbare Methode, um unser Wissen in digitaler Form so zu verorten, dass es verlässlich in jener Form abrufbar ist, so wie wir es von Systemen kennen, die physische Träger verwenden?
F. B.: Nein. Werke aus dem frühen Mittelalter sind ebenso lesbar und zuordenbar wie Tontafeln oder großformatige Zeitungen aus dem frühen 20. Jahrhundert, solange man die Schrift und die Sprache – lateinisch, gälisch, pali … beherrscht. Wachstafeln, Magnetträger und CD-ROMs sind da schon weitaus schwieriger zu rekonstruieren; nicht nur wegen der technischen Probleme auf Grund des nur bedingt haltbaren Trägermediums – ähnliches gilt ja auch für den schrumpfenden, vergilbenden und bröselnden Nitrofilm (der in Deutschland heute übrigens unter das Sprengstoffgesetz fällt)10, sondern bei CD-ROM auch die Dekodierbarkeit der Inhalte, die größere Probleme aufwirft als die hermetischen Schriften des Hermes Trismegistos11. Digitale Information ohne permanente Bindung an ein physisches Trägermedium ist zwar einerseits beliebig oft kopierbar, distribuiert speicherbar und damit jederzeit und überall verfügbar, andererseits aber nicht festhaltbar. Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen, so Goethe – am Internet genießt man hingegen die unmittelbare Verfügbarkeit jedweden Wissens, unendlich verfügbar wie Sand, den man dann zwischen den Fingern zerrinnen sieht.12
MFB: Welche Rolle werden die Medien in Zukunft spielen – sind sie es doch, die diese Relevanz-Auslese treffen sollten. Aber wenn sie aussterben, dann fehlt diese Rolle…
F. B.: Die Begrifflichkeit „Medien“ oder „Rolle der Medien“ als Versatzstücke für einen Diskurs über Kommunikation und Dokumentation führt von vornherein zu Verwirrung. Der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommene Begriff, der versucht, unterschiedliche inhaltliche, formale und technische Formen zu subsummieren und damit eine Generalisierung vorzuspiegeln, brachte uns zwar einerseits die Medientheorie, andererseits aber auch viel Ungemach bis hin zum „Content“, der oft referenziert wird, als gäbe es ihn nach Gewicht an der Warenbörse wie Kakaobohnen oder Schweinebäuche. Die Rolle der „Medien“ verändert sich nicht, wenn auch unterschiedliche Technologien und Formen zu neuer Interaktion und neuen narrativen Modellen führen. Sicher treffen Medien welcher Art immer – keine Relevanz-Auslese. Medien werden auch nicht aussterben, solange Menschen gesellschaftlich organisiert sind und untereinander kommunizieren und Erfahrungen austauschen.
MFB: Sind wir heute schon so weit, das Web zu verstehen?
F. B.: „Wenn der Mond sich auf dem Wasser spiegelt: der Mond wird nicht naß, das Wasser wird nicht bewegt. Das Licht, obgleich unermesslich, spiegelt sich in der kleinsten Pfütze. Der ganze Mond und der ganze Himmel spiegeln sich im Tau auf dem Gras, sie spiegeln sich in einem einzigen Wassertropfen.“13
Was bedeutet es, „das Web zu verstehen?“ Aus philosophischer Sicht haben wir keinerlei Möglichkeit das Web zu verstehen – Sloterdijk sah bereits 2002 eine Gefährdung der Demokratie durch das Internet und warnte vor einer Versklavung durch seine „Zivilisation der neuen Grausamkeit“ durch Konsumzwang, der wird ja durch eCommerce optimal bedient.14
Eingezwängt in ein Kommunikationsmodell, das auf dem „Ping-Pong“ von Shannon und Weaver15 aufbaut, können wir das Web schwerlich verstehen, da dieses Kommunikationsmodell von eindimensionalen Kanälen ausgeht, die durch technische Verbindungen definiert sind. Sender und Empfänger sind nicht mehr klar differenziert und die Message, die durch den Kanal geschickt wird, verflüchtigt sich ...