Kapitel 1
Kommt ein Mann zum Arzt
Stellen Sie sich bitte vor, Sie laufen durch den Wald und knicken mit Ihrem rechten Fuss an einer Baumwurzel um. Schmerzhaft und sicher den meisten von uns schon einmal passiert. Je nach Schwere des Vorfalls spielt sich dabei im Körper vereinfacht gesagt Folgendes ab:
Durch das Umknicken wird über die Bänder, die Ihnen normalerweise eine flexible Bewegung ermöglichen, Ihr Wadenbein, das mit dem Schienenbein zusammen den Unterschenkel bildet, nach unten gezogen (vgl. Abb.1). Dies führt dazu, dass auch Ihr Knie, an dem der obere Teil des Wadenbeines ansetzt, betroffen ist. Der Muskel, der vom Becken aus am oberen Teil des Wadenbeines ansetzt und das Knie beugt, wird nun ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen: Auf ihn kommt «Zug». Dieser Zug sorgt dafür, dass der belastete Muskel das Becken auf der rechten Seite nach hinten zieht. Da der Drehpunkt der Beckenschaufel im Kreuzbein-Darmbeingelenk (ISG) recht weit hinten und die Hüfte in der Beckenschaufel weiter vorne liegt, kommt es zu einer Rückwärtsrotation, also einer Rückwärtsdrehung des Beckengelenkes und zu einem – relativ gesehen – kürzeren Bein auf der rechten Seite, da dies durch die Drehung des Beckengelenks nach vorne oben gezogen wird. Es entsteht das, was man einen Beckenschiefstand nennt, nachvollziehbar an der Abbildung oben.
Abb. 1: Gestörtes Gleichgewicht des Körpers
Durch diesen Schiefstand des Beckens verändert sich die Basis der Wirbelsäule, denn wenn diese den Schiefstand nicht ausgleichen würde, würden Sie komplett nach rechts geneigt durch das Leben schreiten. Zusätzlich zur Schieflage kommt es in den anderen Gelenken wie z.B. im Sprunggelenk am Fuß, dem Kniegelenk, dem Hüftgelenk und sogar bis hin zum Schulter, dem Ellenbogen und Handgelenk zur Unphysiologie. Das meint einen Zustand, in dem all diese Gelenke einen relativen Ausgleich für das durch die Verletzung entstandene Ungleichgewicht schaffen müssen und sich nicht mehr so bewegen, wie der Körper es von Natur aus möchte. Das bedeutet, dass sich die Kraftverhältnisse in den Gelenken verändern.
Da der Mensch sich gerne mit dem geringstmöglichen Energieaufwand bewegt und das Gleichgewichtsorgan bestrebt ist, dass die Augen und Ohren sich wieder in der Horizontalen befinden, beginnt Ihre Wirbelsäule auf bestimmten Höhen das entstandene Ungleichgewicht mit s.g. Fehlstellungen zu kompensieren; Stellungen, die eigentlich für den Körper nicht ökonomisch und deshalb nicht vorgesehen sind. Diesen Ausgleich macht die Wirbelsäule bis hoch zum obersten Halswirbel, dem sogenannten Atlas, und in vielen Fällen sogar bis zum Kiefergelenk. So kann im Laufe der Jahre die Unaufmerksamkeit im Wald unbemerkt zu Arthrosen oder anderen chronischen Veränderungen führen, die das Wohlbefinden einschränken.
Also gehen Sie vielleicht erst fünf oder sogar zwanzig Jahre später zum Arzt Ihres Vertrauens, weil sie, wenn wir bei dem oben angeführten Beispiel bleiben, rechts Hüftschmerzen beim Spazierengehen quälen.
Was ab hier passiert, ist von ganz vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig. Zum Beispiel davon, was für eine Ausbildung der Arzt oder die Ärztin haben, in deren Behandlungszimmer Sie nun sitzen. Ist er ein Speziallist für Hüften oder allgemein für Gelenke? Ist sie eine allgemeinmedizinisch ausgebildete Ärztin? Ist er in der eigenen Praxis tätig oder im Krankenhaus? Ist dieses Krankenhaus eine private oder eine öffentliche Institution, sprich wie finanziert es sich? Handelt es sich bei dem Menschen vor Ihnen um eine erfahrene oder um eine frisch vom Studium kommende, motivierte jungen Ärztin, die ein enormes theoretisches Wissen hat, der es aber an praktischer Berufserfahrung fehlt? Ist es ein chirurgisch praktizierender Arzt, dem zum Facharzttitel noch drei Hüftprothesen fehlen? Je nach Ausbildung und Institution, in der er oder sie arbeitet, unterscheidet sich sein Bild und seine bevorzugte Behandlungstechnik, vielleicht auch sein oder ihr Wissen um Alternativen.
Nehmen wir also an, dass ein Patient mit Schmerzen in die Arztpraxis seines Vertrauens geht.1 Hierfür erhält der konsultierte Arzt eine Pauschale von 35-45€ pro Patient und pro Quartal, egal wie häufig der Patient in diesem Quartal auch erscheint. Nach einiger Wartezeit darf der Patient dann sein Leiden dem hinter dem Schreibtisch sitzenden Arzt kurz und knapp mitteilen, während dieser die Anamnese in den Computer eintippt. Die Angaben des Patienten passen mit einem im System gespeicherten Diagnoseschlüssel überein, woraufhin dann eine Verordnung ausgestellt wird, ohne dass diese mit einer aussagekräftigen körperlichen Untersuchung in Einklang gebracht wird. Zu Beginn beinhaltet diese Verordnung oftmals ein pharmazeutisches Produkt, welches die Beschwerden lindern soll. In manchen Fällen, wenn das Jahr noch frisch ist und das Budget es noch zulässt, gibt es noch ein Rezept für sechsmal Physiotherapie. Lässt es das Budget nicht mehr zu und der Arzt verordnet die Physiotherapie trotzdem, weil er es als sinnvoll für den Patienten erachtet, kann es gut sein, dass der Arzt regresspflichtig gemacht wird und er die Behandlungen des Patienten unterm Strich aus eigener Tasche bezahlt. Kommt der Patient dann nach einer Woche wieder, da die Schmerzen immer noch unverändert sind, wird die größere Diagnose erstellt. Es wird ein Röntgen oder ein MRT veranlasst.
Da jeder Mensch ab einem gewissen Alter Abnutzungserscheinungen zeigt, werden auch bei unserem Beispielschmerzpatienten strukturelle Veränderungen festgestellt. Wenn diese dann noch Pi mal Daumen mit der Schmerzlokalisation, also wo der Schmerz sich bemerkbar macht, und den Symptomen zusammenpassen, kann es dann bereits vorkommen, dass eine Operation der betroffenen Struktur empfohlen wird. Vielleicht verursacht der Strukturschaden die Beschwerden, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist der Strukturschaden auch nur eine Folge von einer ursächlich seit lange bestehenden Funktionsstörung, welche die Beschwerden verursacht, wie zum Beispiel dem scheinbar harmlosen Umknicken durch eine Baumwurzel.
Wenn die Hüftarthrose in Ihrem Fall tatsächlich der große Störfaktor ist und Ihre Beschwerden verursacht, so wird die OP als erfolgreich eingestuft, da das Wohlbefinden wiederhergestellt wurde. Doch was ist, wenn nach der OP Ihre Beschwerden immer noch bestehen? Wird die wahrscheinliche Ursache der Arthrose, das Umknicktrauma des Fußes vor 20 Jahren, berücksichtigt und als mögliche Ursache wahrgenommen? Oder kommt sie gar nicht erst zur Sprache? Vermutlich nicht. Denn – und das ist die Gefahr und leider auch der Alltag in Deutschland – dieser konventionelle Weg führt, wenn das bildgebende Verfahren ein zu erwartendes und teilweise auch altersentsprechendes Bild zeigt, oft zu einer Operation und damit möglicherweise in einen Teufelskreis: Arzt, Röntgen/MRT, OP-Empfehlung und Besprechung, Netzhemd, grünes Laken und Schnitt. Aufwand, Leidensdruck, Kosten. Und keine Veränderung für den Patienten, der am Ende noch ratloser ist als der Arzt, der ihm weitere Operationen empfiehlt und damit die Maschinerie wi...