Kapitel 1: Neustart
2038
Jeder von ihnen hatte Dutzende Milliarden Dollar in Aktien, in Gold und in bar. In den Augen anderer Menschen waren sie unvorstellbar reich. Sie konnten sich alles kaufen, was sie wollten. Aber sie wollten kaum noch etwas. Sie hatten alles. Noch mehr Besitz anzuhäufen, war nur noch Belastung.
Das >sie< bezeichnete die Elite Futuras, die schon etwas älteren Senatoren Futuras und ihre Kinder.
Was sie noch nicht hatten, konnten sie auch nicht kaufen: die Kunstschätze des Vatikans, die gut in ihr Museum und ihre Häuser gepasst hätten, ebenso wie die des Louvre und anderer Museen.
Diese Kulturgüter waren immer noch nationaler Besitz, auch wenn die eigene Bevölkerung kaum davon Notiz nahm. Nur die Touristen stellten sich in langen Reihen an und versicherten sich, dass die berühmte Mona Lisa wirklich geheimnisvoll lächelte und die Nike von Samothrake aus weißem Parischen Marmor trotz ihrer Flügel noch immer auf ihrem Sockel stand. Zwei Tage Louvre für die Kenner, für die meisten genügte die Bestätigung, dass die Dinger tatsächlich da waren und sie zu Hause beweisen konnten, sie gesehen zu haben. Ohne ihre Smartphones wären sie ohnehin schon nach zwei Stunden im Kaffeehaus gesessen.
Was alle in Futura und in den Ländern darüber hinaus noch immer im Griff hielt, war der vergangene Krieg im Jahr 2038, den der korrupte Diktator des Nachbarlandes gegen ihr Land mit seinen verlockenden Reichtümern geführt hatte. Tödlich für ihn war, dass er die Kampfstärke Futuras krass unterschätzt hatte.
In nur drei Stunden hatten tausende Drohnen hunderten feindlichen Soldaten, ihren Offizieren und den heimtückischen Politikern des angreifenden Landes das Leben genommen und deren Angriff abgeblockt. In Futura selbst hatte es nur einen beschädigten Grenzzaun und ein ausgebranntes Apartment gegeben, in das sich eine feindliche Granate verirrt hatte. Schäden, die natürlich längst repariert waren.
Auch in der Analyse wirkte der Krieg wie eine klinisch saubere Operation. Lichtstreifen auf den Bildschirmen, Blitze, die Panzer zerstörten und Feinde in verdampfende Asche verwandelten, ein paar verbrannte Büsche und hässliche Brandflecken im Gras.
Dazu ein ausgebrannter Panzer, der als einziges Kriegsrelikt im Park hinter dem Regierungsgebäude aufgestellt worden war.
Alle anderen verbliebenen Panzer, Truppentransporter, Waffen und Metallteile, auch die ihrer Rakete, die sie, also die alte Crew, statt zum Mars in die Vergangenheit gebracht und die die stark gesicherte feindliche Leitzentrale samt ihrer Besatzung vernichtet hatte, waren eingeschmolzen und recycelt worden.
Die Bergung der geschmolzenen Raketenteile war blitzartig geschehen, um keine Spekulationen nach deren Herkunft aufkommen zu lassen.
Es war ein Krieg, in dem nicht die Zivilbevölkerung ihren Kopf hinhalten musste, wie so oft in den vergangenen Jahren, sondern einer, der die Verursacher persönlich getroffen hatte.
Ein Krieg, der selbst mächtige Politiker der Weltmächte in Angst und Schrecken versetzte. Offensichtlich war die Zeit aus, wo sie lokale Spielchen an glänzenden Mahagonitischen aushecken konnten, die mit schöner Regelmäßigkeit vom Zaun gebrochen worden waren, um das eigene Volk enger um sich zu scharen und den Feinden eins auszuwischen. Das Kanonenfutter, meist aus der Unterschicht des eigenen Volkes und erst recht die Soldaten des Feindstaates, zählte ohnehin nicht.
Wenn man als Politiker aber das Kanonenfutter oder das Ziel der Drohnen selber war, dann ja, dann zählte das plötzlich doch.
Pernstein, als Präsident Futuras immer noch im Amt, schloss einen milden Frieden, der dem eigenen Land eine zusätzliche Fläche von etwas über hundert Quadratkilometern hinzufügte, womit Futura nun auch einen eigenen Flughafen samt Verbindungsstraße zur Küste besaß. Die ebenfalls geforderte Kriegsentschädigung von fünfhundert Millionen Dollar ging überwiegend an die Spieler und Soldaten ihres Untergrunds.
Ein seit Jahren am Weltmarkt eingesetztes und äußerst erfolgreiches Computerspiel hatte der Regierung Futuras ermöglicht, über eine geheime Ebene eine Untergrundorganisation aufzubauen. Der angekündigte Wettbewerb am Tag X, dem Tag des hinterlistigen Angriffs auf Futura, ließ das bisher fiktive Kampfspiel zum echten Angriff auf die einfallenden Truppen werden. Die gesteuerten Drohnen und Waffen waren diesmal real, die Ziele ebenfalls. Asiatische, europäische und amerikanische Spieler, oft tausende Kilometer vom Kampffeld entfernt, versuchten, die ihnen zugewiesenen Drohnen und Waffen ins Ziel zu bringen. Die eingespielte Landschaft und die Zerstörungen, die auf den Computern zu sehen waren, waren die echten Szenen, die sich auf dem Kampffeld vor Futura abspielten. Eine Tragödie und unerwartete Niederlage für die Angreifer, ein Blitzsieg für die Bewohner Futuras, ein Schock für die Geheimdienste der großen Nationen.
Der Präsident lud den siegreichen Inder, der den Hauptpreis errungen hatte, und die nächsten fünfhundert Besten im Ranking des Kampfes um Futura zum Empfang der Preise ein und ließ sie in die Hauptstadt einfliegen. Der Inder, ein schmächtiger junger Mann von knapp 28 Jahren, war selbst bei der Übernahme des Preises noch fassungslos, dass er gewonnen hatte. Er hatte die ihm zugewiesenen Drohnen geschickt platziert und mit dem Verlust von nur drei Drohnen vier hochrangige Ziele und ein paar kleinere eliminiert. Doch auch die fünfhundert nächstplatzierten Kämpfer aus Indien, China, Vietnam, Frankreich, Deutschland, Spanien und den Staaten hatten in unwahrscheinlicher Präzision ihre Ziele getroffen und damit wesentlich zum raschen Sieg Futuras beigetragen. Alle bekamen das Angebot, in der Kampftruppe oder im Sicherheitsbereich Futuras mitzuarbeiten, mehr als die Hälfte unter ihnen nahm an. So eine Chance würde sich so schnell nicht wieder bieten.
Die Kommandozentrale und ihr zukünftiger Arbeitsbereich faszinierten sie. Alles, was topaktuell war, war sowieso hier, dazu Bildschirme, Navigationseinheiten und Computer, die sie noch nie gesehen hatten. Als Ausgangsbasis lockte ein Gehalt, von dem sie in ihrem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatten.
Abgelehnt hatten ein paar der Eingeladenen, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollten oder ihnen das illegale Eindringen in fremde Netze mehr Spaß als die regelmäßige Arbeit machte und sie durch kleinere Betrügereien im Internet auch genug abschöpfen konnten. Aber, so sagten sie, wenn es darauf ankommen sollte, wären sie gern wieder zu einem Scharmützel dieser Art bereit.
Erstaunlicherweise hatte keiner Skrupel wegen der getöteten Feinde. Auf dem Bildschirm sahen sie auch nicht anders aus als die Aliens und andere Monster in ihren bisherigen Kämpfen. Es war ein Wettkampf gewesen und sie hatten Punkte gemacht.
Das feine Hotel in Futura, ein Komfort, der für viele neu war, verunsicherte sie mehr. Was sollte man auch mit einem Kilo Besteck links und rechts von den Tellern, wenn sie sonst vielleicht mit der rechten Hand geschickt den Reis zu einer Kugel rollten und mit ein bisschen Soße im Mund verschwinden ließen? Oder während tagelanger Spiele gegen andere Gegner im Internet gerade noch Zeit fanden, eine bestellte Pizza hinunterzuschlingen?
Einige von ihnen fuhren stundenlang mit den Roboshuttles, Fahrzeugen, die führerlos auf Zuruf die genannten Ziele anfuhren.
„Zum Museum, bitte.“
„Wo bekomme ich ein gutes Eis?“
„Zum Anlegeplatz der Yachten.“
Was sie immer wieder faszinierte: Alles war peinlich sauber, alles funktionierte. Die Fahrzeuge reihten sich brav und automatisch hintereinander ein, auf den Hauptlinien gab es etwas größere Busse, die mehr Personen aufnahmen und die Stationen anfuhren. Für Nebenziele mussten sie auf kleinere Fahrzeuge umsteigen, die aber auch jede öffentlich zugängliche Nebenstraße ansteuerten. Hin und wieder begegneten sie den eleganten Gefährten der Senatoren, die nur für diese reserviert waren, und die diese von ihren Häusern direkt in die Garagen des Regierungspalastes brachten. Oldtimer, also normale Autos, die noch von Hand gesteuert wurden, gab es kaum. Für die Einwohner lohnten sie sich nicht und wenn sie ihr Land verlassen wollten, nahmen sie meist einen der elektrischen Mietwägen von Tesla, VW, BYD, Toyota, Geely, Daimler oder BMW. Auch wenn diese Autofirmen eine Menge Probleme gehabt hatten, konnten sie doch überleben, während viele andere es nicht geschafft hatten.
Automatisch fuhren auch nicht alle. Es gab in Süd- und Mittelamerika zu viele schlechte Straßen und ob ein Büschel Zweige auf der Straße vor einer tiefen Grube warnte oder doch nur ein abgebrochener Zweig war, konnten selbst die fortentwickelten Navigationssysteme nicht immer eindeutig entscheiden. Was in Futura kein Problem war, denn da gab es keine unvorhergesehenen Löcher. Die Straßen waren glatt und fehlerlos.
Die dreihundertsechzig Computerfreaks, darunter vierunddreißig Frauen, die in Futura bleiben wollten, mussten zuerst ihren Militärdienst absolvieren, wobei ihnen die Ausbildung als Cyberkrieger erspart blieb. Die hatten sie ohnehin unter Beweis gestellt. Wenn sie Familie hatten, durfte diese nachkommen. Auch den Ehegatten wurden Arbeitsplätze angeboten, im Geheimdienst, als Kindergärtnerin, Stubenmädchen, Kellnerin, Arzthelferin, Technikerin, Polizist oder Professorin, je nach Ausbildung. Wenn sie wollten, bekamen sie einen Platz an den höheren Schulen oder der Universität.
Jeder Besuch der Senatoren in anderen Ländern zeigte ab diesem Krieg überdeutlich die geänderte Wahrnehmung. Sie waren nun keine Touristen mehr, sondern Staatsgäste. Jeder Schritt wurde beobachtet, jedes Wort gewann Bedeutung und wurde von den Medien verbreitet und kommentiert. Lobbyisten, politische Vertretungen und Händler stürmten ihre Hauptstadt und trieben die Miet- und Kaufpreise der Immobilien in die Höhe, sodass sie mit Monaco, London und Singapur konkurrierten. Ihr Land, das noch vor einigen Monaten kaum in der öffentlichen Wahrnehmung existierte, wurde beinahe über Nacht zu einem Pflichtziel und Thema zahlloser Fernsehstationen auf der ganzen Welt. Anfragen zu Interviews überfluteten die wenigen Entscheidungsträger, Buchautoren rissen sich darum, Biographien über die Senatoren und ihre Kinder und Sachbücher über ihre erfolgreiche Politik zu verfassen. Sie kamen allerdings bald an ihre Grenzen, denn die meisten ihrer persönlichen Anfragen stießen auf wenig Gegenliebe und die Gesetze Futuras verboten jede Verletzung der Privatsphäre, was das Verfassen von Biographien fast unmöglich werden ließ.
Zwei Monate nach dem Ende der Friedensverhandlungen trat Pernstein zurück. Einundzwanzig Jahre war er Präsident Futuras gewesen. Seit dem Sieg über Präsident Diego Corades und seine Generäle war er endgültig zur Legende geworden. Reich, geheimnisumwittert und ungeheuer mächtig.
Für sein hohes Alter war er unglaublich robust. Trotzdem war es hoch an der Zeit, die Regierung in jüngere Hände zu legen. Er bat seine Freunde, das Amt seiner Tochter Laura zu übertragen.
Nach der derzeitigen Verfassung waren nur Senatoren stimmberechtigt, deren Zahl seit dem Übergang einiger Regierungsämter auf die jüngere Generation vierzig betrug. Neben einigen von ihren Kindern, meist jene mit öffentlichen Ämtern, hatten sie auch einige ihrer Bürger in den Rang von Senatoren gewählt, was praktisch der Erhebung in den Adelsstand gleichkam. Unter diesen waren der Polizeipräsident und zwei Milliardäre, die sich Verdienste um Futura erworben hatten.
Einer von ihnen hatte dem Museum und damit der Bevölkerung Futuras eine wertvolle Kunstsammlung des zwanzigsten Jahrhunderts geschenkt. Die Bilder von Picasso und seinen Zeitgenossen, von Andy Warhol bis Roy Lichtenstein, Joseph Beuys und Salvadore Dali und einige Skulpturen erweiterten die Bestände des Museums enorm. Mit dieser Sammlung zusammen hätte der Ankauf des Flaschentrockners von Duchamps vor etwa dreißig Jahren tatsächlich Sinn gemacht.
Der zweite unter den Milliardären hatte sich samt seiner florierenden Technologiefirma in Futura angesiedelt und mit seinen Innovationen den Wissensvorsprung Futuras weiter gesteigert. Nebenbei zahlte er auch hohe Steuern, die dem Gemeinwesen zugutekamen.
Wie schon vor langer Zeit, es schien tatsächlich eine Ewigkeit her zu sein, seit sie ihren General zum Präsident gewählt hatten, leuchtete wieder der Wahlvorschlag auf ihren Sapientas, den weiter entwickelten Smartphones und Wundergeräten ihres Landes, auf. Diesmal leitete Dr. Paul Urban die Wahl, der 2037 das Amt des Innen- und Außenministeriums von Dr. Pernstein übernommen hatte und seit 2033 auch den Titel Senator trug.
„In wenigen Sekunden erscheint der Wahlvorschlag. Ich bitte euch, eure Wahl in den nächsten fünf Minuten durchzuführen.“
Sechs Minuten später verkündete er das Ergebnis: „Sechsundzwanzig Stimmen für Senatorin Dr. Laura Pernstein, sechs Stimmen für mich und je vier Stimmen für Senator Dr. Phil Pernstein und Senator Dr. David Buffet.
Damit ist mit absoluter Mehrheit Senatorin Dr. Laura Pernstein unsere neue Präsidentin. Darf ich ihnen als Erster gratulieren?“
Trotz der feierlichen und förmlichen Anrede waren sie befreundet und er küsste sie links und rechts auf die Wange. Als Nächster gratulierte ihr Vater. Er umarmte sie und wischte sich eine Träne aus seinen Augen. Laura hatte ihren Vater noch nie weinen gesehen. Auch ihre Mutter nahm sie in die Arme, dann beglückwünschten sie alle anderen.
Aus dem Nebenraum drang schon Jubel herüber, weil das Ergebnis auch auf dessen Bildwand aufleuchtete.
Sie gingen in den Repräsentationssaal des Palastes, wo schon die Fernsehkameras verschiedenster Länder aufgebaut waren und zahlreiche Journalisten aus Amerika, Europa und sogar China standen. Das übliche Blitzlichtgewitter durchzuckte den Raum, die Journalisten versuchten, ihr ein paar Worte zu entlocken.
Senator Paul Urban trat vor die Fernsehkameras und verkündete noch einmal das offizielle Ergebnis: „Unsere neue Präsidentin, Senatorin Dr. Laura Pernstein. Ich bitte um ihre Worte.“
Sie trat vor die Mikrofone und wartete das Blitzlichtgewitter ab: „Freunde, Bürgerinnen und Bürger von Futura! Durch das Vertrauen meiner Freunde, ich darf euch doch so nennen“, sie blickte kurz auf die aufgereihten Senatoren, „wurde ich zur Präsidentin dieses herrlichen Landes gewählt. Ich danke dafür. Ich werde das große Werk meines Vaters in seinem Sinn fortsetzen. Ich danke ihm besonders, dass er mich nicht die große Bürde des eben überstandenen Krieges tragen ließ, sondern diese schweren Entscheidungen noch selbst übernommen hat. Es liegt jetzt an uns allen, nicht nur den bisherigen Teil unseres Staates, sondern auch den neu gewonnenen Landesteil zur Blüte zu führen. Es wird eine große Aufgabe, aber wir werden sie schaffen. Futura wird noch schöner als bisher. Schon in den nächsten Tagen wird der Ausbau des neuen Landesteiles beginnen.
Wir haben gegen die Niedertracht unserer Feinde gesiegt. Wir wollten das Land nicht demütigen, denn nicht deren Bürger haben den Krieg gesucht, sondern eine kleine Clique von Verrätern. Sie haben ihre gerechte Strafe gefunden. Es gibt sie nicht mehr.
Mit dem neuen Präsident An...