1 Einleitung - ein Zauberbuch?
Herzlich willkommen im unendlichen Reich der Geschichten. Ich weiß, Sie sind kein Neuling auf diesem Gebiet. Denn niemand von uns kommt ohne Geschichten durch Schule und Leben. Sie sind also schon jetzt ein Profi mit vielen Erfahrungen, mit guten und weniger guten Erinnerungen ans Lesen oder Schreiben eigener Texte. In jedem Fall können Sie durch dieses Buch Ihre Kenntnisse vertiefen und erweitern.
Nun halten Sie ein Zauberbuch in Händen. Machen Sie sich jedoch keine Sorgen, es wird Sie nicht in eine andere Welt entführen, in der Sie anstrengende Abenteuer bewältigen müssen. Es wird Ihnen keine Zaubersprüche verraten, mit denen Sie andere Menschen oder Dinge zwingend beeinflussen können. Sie riskieren keine wild gewordenen Besen, können allerdings auch keine Goldmünzen herbeischaffen.
Denn es geht um mehr: Seit Urzeiten sind Menschen über Geschichten in Kontakt miteinander gekommen, haben damit getröstet, inspiriert, informiert, ermutigt und bezaubert. Solche Wirkungen können Sie nutzen und ausbauen, um Kindern beim Verarbeiten der Vergangenheit, dem Verstehen der Gegenwart und beim Finden von Lösungen in der Zukunft zu helfen.
Wachstum unterstützen statt Großzíehen!
Dieses Zauberbuch kann noch dazu etwas Besonderes zwischen Menschen hinein zaubern: die Magie einer guten Beziehung, eine Stärkung für das Kind und auch für Sie. Die Geschichten, die Sie in diesem Buch finden oder die Sie nach dem Lesen dieses Buches erzählen können, bezaubern vielleicht für einen kurzen Moment. Die Erinnerung an Ihre Geschichten jedoch kann das Ihnen anvertraute Kind immer wieder auf‹s Neue verzaubern. Im Kind kann mit jeder Geschichte ein Stückchen mehr Wissen, mehr Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, in die Zukunft und in die Welt entstehen – und damit über kurz oder lang auch die Sicherheit »Es wird wieder gut«.
Das Buch liefert dafür einen 7-teiligen Leitfaden: TechnikerInnen mögen ihn als Gerüst und Bauplan betrachten, PädagogInnen als Konzept, BiologInnen als DNA, MusikerInnen als Thema und KöchInnen als Grundrezept. Der Leitfaden möchte Sie unterstützen, die passende Geschichte für einen bestimmten Anlass selbst zu »bauen«, auch wenn Sie sich bisher für nicht besonders talentiert gehalten haben oder sich mit fantasievollem Erfinden schwer tun. Es funktioniert im Prinzip wie ein Puzzle, das aus Erinnerungs- und Lösungsteilen zusammengesetzt wird.
Und nicht nur das: Sie werden mit Hilfe dieses Leitfadens viel klarer brauchbare, psychologisch wirksame »fertige« Geschichten (Bücher, Filme, Ereignisse) entdecken. Vieles kann man nutzen bzw. optimieren, um sie dann einem Kind, das in einer ähnlichen Schwierigkeit steckt, zu erzählen.
Ich verwende den Begriff der »Geschichte« sehr allgemein: Laut »Duden-Herkunftswörterbuch« (2014) leitet er sich vom Verb »geschehen« ab und meint: »eilen, schnell fortgehen... sich ereignen« (S. 332). In diesem Sinn finden sich überall fertige Geschichten: im Alltagsgeschehen, in Film und Fernsehen, in PC-Spielen, im Internet oder eben in Büchern. Manche füllen mehrere Bände, andere sind nur 7 Sätze oder wenige Minuten lang, beschreiben fiktive oder reale Ereignisse, sachlich oder verspielt. Lassen Sie sich darauf ein und gehen Sie suchend durch die Welt, dann können Sie gute Geschichten buchstäblich an jeder Straßenecke erkennen.
Geschichtenerzählen und -schreiben ist immer ein interaktiver Prozess. Zwei oder mehr Menschen kommen in Kontakt, inspirieren einander. Die aktiv schreibende bzw. erzählende Person ist auf jemanden ausgerichtet, den sie erreichen will und lässt sich davon leiten. Die scheinbar passive, zuhörende oder lesende Person wählt in Wahrheit sehr aktiv, wovon sie sich wie anregen lässt. In diesem Sinne ist dieses Buch ebenfalls interaktiv gestaltet.
!Solche Rufzeichen laden Sie ein, zunächst Ihre eigenen Gedanken zu einzelnen Fragen festzuhalten und erst dann weiter zu lesen.
Mit Geschichten »zu zaubern« wird Ihnen und Ihren ZuhörerInnen eine Menge Arbeit machen. Doch es wird eine großartige Arbeit sein, so wie sie Kinder tun: mit spielerischer Leichtigkeit stundenlang vollkommen konzentriert sein, ganze Kisten ausräumen, riesige Türme bauen und wundervolle Zeichnungen erschaffen.
Es kann Sie mit Freude, Stolz und Energie erfüllen, dies mit einem Kind zu erleben. Von Zeit zu Zeit werden Sie bemerken, wie manche Geschichten auch dem Kind in Ihnen selbst gut tun. Manches erreicht einen inneren Anteil, der solche Geschichten vielleicht früher selbst gern gehabt hätte und jetzt mithören darf (s. Kap. 3.3).
Das Schreiben und Erzählen von Geschichten fordert und verändert Sie als SchreiberIn und ErzählerIn auf vielerlei Arten: Sie trainieren ganz nebenbei, Probleme oder Emotionen zu erfassen und Lösungsideen zu erkennen. Dabei werden Sie sich mühelos eine bildhafte Sprache aneignen, verwenden also automatisch Worte, die Bilder und Gefühle wecken. Wer das gut kann, wird als interessant, oft sogar als »charismatisch« erlebt, meint die psychologische Forschung. Sie wachsen innerlich und in den Augen anderer auf vielerlei Art. Es ist durchaus gesunder Egoismus, es zu genießen, während Sie vorrangig das Ihnen anvertraute Kind unterstützen.
Formen Sie - so wie es RegisseurInnen tun - einzelne Momente zu Geschichten. Damit bekommen Ereignisse »eine gute Gestalt« (Gestaltpsychologie) und einen wichtigen Platz auf der Lebenslinie, das „erinnerte Leben“ – (vgl. Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. 2012), ein wichtiger Teil der individuellen Identität.
Suchen, sammeln und schreiben Sie Geschichten, die Kindern beim Wachsen helfen, anstatt sie großziehen zu wollen. Zauberei durch die Macht und Magie der Worte.
1.1 Wann leisten Geschichten gute Dienste?
!Vorab eine persönliche Frage: Erinnern Sie sich an eine Buchgeschichte, eine Film oder Comic-Figur, die Sie als »Ihre Welt bewegend« erlebt haben? Was war eine der ersten beeindruckenden Geschichten (als Buch oder Film) Ihres Lebens? Wieso hat sie so gut gepasst? Was hat sie bewirkt? Gab es eine Lieblingsfigur darin? Welche Geschichte hat Sie vor kurzem berührt oder bewegt? Auf welche Weise? Was sagen diese erste und die letzte wichtige Geschichte über Sie aus, über Ihre Werte oder Lebensthemen?
Hören Sie zu, wenn andere Menschen über solche Fragen laut nachdenken. Nahezu jede/r von uns Erwachsenen erinnert sich an prägende Geschichten. Vielleicht wird eine/r Ihrer heutigen ZuhörerInnen in 20 Jahren noch immer an genau Ihrer Geschichte denken.
Zur rechten Zeit die richtige Geschichte zu hören, das kann ein Leben verändern.
Was also bewirken gute Geschichten? Bei welchen Problemen können Sie Kinder (und natürlich Erwachsene) dadurch unterstützen? Einen ersten Überblick bietet die Geschichtenliste am Ende des Buches.
Geschichten berühren und bewegen verschiedenste Facetten in Menschen. Entsprechend vielfältig sind die Gelegenheiten, wo Sie darauf zurückgreifen können. Sie können damit...
• bestimmte Gefühle erzeugen oder verändern (in sich selbst und in anderen Menschen): Geschichten fördern gezielt Mitgefühl, Freude, Zufriedenheit, Dankbarkeit, Trauer, Angst oder Sicherheit. Sie erzählen über emotionale Veränderungen und führen manche/n ZuhörerIn von nörglerischer Selbstkritik zu Stolz, von Scham zu gerechtfertigtem Ärger, von Schuldverleugnung zu Verantwortungsübernahme, vom Stillstand zum Entwicklungssprung. Manche dienen der reinen Unterhaltung oder sollen abends als Entspannungs- und Einschlafhilfe fungieren. Gute Vorbilder finden sich in der Wirtschaft (»Story telling«), in den Medien, in der Werbung oder auf der Bühne. Überall werden sie zur Erschaffung bestimmter Gefühle eingesetzt.
• belastende Gefühle oder schwierige Themen indirekt ansprechen, respektvoll herausfinden, was der/die andere über sich selbst denkt, neue Worte oder nützlichere Erklärungen dafür anbieten.
• Informationen, Werte oder Botschaften übermitteln, direkt oder indirekt (als Metapher, durch Symbole); Sie können Fakten, Gefühle, Verhaltensweisen, Lösungswege, Erklärungen u.v.m. vermitteln.
• Beziehung zwischen ErzählerIn und ZuhörerIn und zwischen den Zuhörenden erschaffen oder festigen. Geschichten über eine bestimmte Sache zu hören oder selbst zu erzählen, verbindet mit dieser Sache.
• ganz neue Gedankengänge anregen, unbequeme Fragen stellen oder verwegene Antworten anbieten, Unerwartetes provozieren, neue Bewertungen vorschlagen (etwas scheinbar nur Gutes kritisch ausleuchten, etwas Gute im vordergründig Schlechten sichtbar machen).
• Vergangenes verstehen, abschließen und einordnen. Etwas Erzähltes wird besser in Erinnerung behalten. Die Details der Geschichte bestimmt, wie es erinnert wird und welche Lernerfahrungen daraus gezogen werden.
• Zukünftiges erleichtern, mögliche Schwierigkeiten vorhersagen und zugleich Lösungswege indirekt vorschlagen.
• bei alledem jedem Kind Spielraum für Kreativität, eigene Wahlmöglichkeit und Ablehnung offen lassen. Eine Geschichte erlaubt Distanzierung - viel stärker als ein direkter Rat oder Tipp. Reaktionen wie zum Beispiel: »Eine komische Geschichte. Das passt für mich gar nicht. So wie diese Geschichtenfigur würde ich nie handeln.« sind möglich und laden zur Diskussion ein.
Grundsätzlich verbinden fast alle Kinder mit Geschichtenerzählen angenehme Gefühle, daher können Sie nahezu immer damit punkten. Schließlich sind wir es heutzutage mehr denn je gewohnt, uns die Erlebnisse anderer Menschen mittels Medien ins Wohnzimmer liefern zu lassen. Die hier beschriebenen dienen nicht (vorrangig) der Unterhaltung, sondern sie sollen konkrete Unterstützung für den Zuhörer oder die Leserin bieten.
Zielgruppe:
Das Erzählen kann grnundsätzlich in Familie und Freundschaften nützlich sein, in Kindergärten, in psychologischen, psychotherapeutischen und anderen Beratungs- und Behandlungsräumen. Manche Geschichten können ÄrztInnen, TrainerInnen oder Lehrkräfte dienen, die Kinder beruhigen, Trainees motivieren oder SchülerInnen inspirieren wollen. LogopädInnen können damit Kindern helfen, keine Angst vor dem Schlucken zu haben und PhysiotherapeutInnen fördern damit neue Bewegungsmuster.
Konkrete Anlässe – und passende, hilfreiche Geschichtenideen:
• Sie wollen einem Kind bei der Verarbeitung von belastenden Erlebnissen, von kleinen oder größeren Katastrophen helfen, die in der Vergangenheit passiert sind? | → Heilsame Geschichten, Kap. 2.1 |
| → Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ähnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. |
• Ein Kind hat ein unangenehmes Gefühl. | → Sie erzählen eine Geschichte, die ein neues Gefühl vermittelt (s. nächstes Beispiel). |
• Eine schwierige Situation steht einem Kind bevor und Sie wollen es darauf vorbereiten: Umzug, Schuleintritt, Operation... | → Lösungsgeschichten in verschiedenen Varianten, Kap. 3.3 |
• Ein Kind hat ein Problem (hat Ängste, kann nicht gut schlafen, kann sich gegen eine/n MitschülerIn nicht wehren...) und Sie wollen ihm Möglichkeiten aufzeigen, ohne z.B. direkte Ratschläge zu geben | → Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ähnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. |
• Ein Kind muss sich mit einem anstrengenden Verhalten von sich selbst herumschlagen und Sie wollen ihm helfen, es loszuwerden. | → Lösungsgeschichte, Tipps auf einer symbolischen Ebene geben Kap. 3.2 |
| → Teilegeschichten Kap. 3.3 |
• Eine wichtige Bezugsperson zeigt ein anstrengendes Verhalten, worunter das Kind leidet. Sie wollen das Kind unterstützen, ohne über diese Person zu schimpfen. | → Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ahnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. |
• Das Kind quält sich mit einem starken Selbstzweifel oder einem speziellen, belastenden Gedanken über sich selbst (= negative Selbstüberzeugung), wie z.B.: | → Selbstwertgeschichten, wo mögliche Ursachen für die belastende Selbstüberzeugung erklärt werden und die Beweise gefunden werden für neue, gute Sätze und Selbstüberzeugungen: |
• »Ich kann das nie schaffen.« | → »Ich habe schon viel geschafft, ich bin stark.« oder »Ich kann echt gut lernen.« |
• »Ich bin dumm.« | → »Meine Nase ist ganz ok.« oder »Wer mich nur wegen meiner Nase nicht mag, der hat mich nicht verdient. Sie hilft mir, wahre Freundschaft zu finden.« |
• »Ich habe eine hässliche Nase.« | |
...und vieles mehr. | |
BEISPIEL in einem Krankenhaus: Ein Kinderarzt möchte, dass die jungen Patientlnnen weniger gestresst sind, wenn er sie im Rahmen von Visiten untersucht. Wir besprechen, wie in peinlichen Situationen ein winziges Kompliment oder eine Ablenkung helfen kann.
Er überlegt sich zu einigen Körperteilen kleine, stärkende Geschichten:
Ein Kind kann eine »Lunge wie ein Pferd« haben, wunderschön symmetrische Füße wie ein bestimmter Tänzer, schmal und stark sein wie eine Läuferin. Ein außergewöhnlich angenehmer Kleidungsstoff erinnert an Seide und an die interessante Geschichte der Seidenraupe, die Farbe der Haare an die Fellfarbe eines tollen Tieres... Von nun an findet er bei Bedarf an jedem Kind etwas wahres Gutes, über das er eine solche Mini-Gesch...