Lila setzte sich zu den Büronis an den Tisch und eröffnete das Gespräch: Ich denke, unser Hauptproblem ist, dass die Prozesse nicht funktionieren und Verantwortlichkeiten nicht geklärt sind. Kennst Du das?
#1 Das ganze Leben ist ein Keks
Benno lachte, so beginnen schon seit vielen Jahren die allermeisten Gespräche. Du glaubst nicht, wie häufig ich das zu hören bekommen habe: Prozesse hier, Prozesse da. Gerade in großen Firmen diskutieren sie immerzu Prozesse. Wollen sie verbessern oder modernisieren oder mehr davon ins Leben rufen, um Ordnung zu schaffen. Dabei sind Prozesse nur statische Ketten, mehr oder minder detailliert festgelegte feste Abfolgen von Aufgaben, die immer wieder nacheinander erledigt werden sollen, wenn wir ein Produkt erzeugen. Fast genauso gerne reden wir über Verantwortlichkeiten oder Verantwortung. Dabei gibt es Verantwortung für sich genommen überhaupt nicht. Verantwortung hat man immer und automatisch nur für die Erledigung der Aufgaben, die man übernommen hat.
Hast Du beispielsweise die Aufgabe übernommen, heute für Deine Familie das Mittagessen zu kochen, bist Du verantwortlich dafür, dass Du eine genießbare, mitunter auch gesunde Mahlzeit in hinreichender Menge und zur richtigen Zeit auf den Tisch bringst. Das ist die Verantwortung, die zu dieser Aufgabe gehört. Wir vergessen das meist, weil wir irgendwann angefangen haben, Aufgaben inhaltlich in Handlungsabschnitte zu zerlegen und auf mehrere Personen zu verteilen. Und mit dem Taylorismus1 obendrein noch Denken und Handeln bei einer Aufgabe voneinander zu trennen: Du hast zwar die Aufgabe, zu kochen, aber Dein Chef entscheidet, welches Gericht es geben wird, welche Handgriffe Du zu tun hast und welche Deine Kollegen übernehmen. Da sind Irritationen vorprogrammiert, z.B. wenn der Topf überkocht und überraschend neue Handgriffe erforderlich werden.
Also wird klar, sowohl bei Prozessen als auch bei Verantwortlichkeiten geht es eigentlich um Aufgaben. Aufgaben sind die universelle Währung unseres Lebens sowie unserer Arbeitswelten, für sie erzeugen wir Prozesse, die uns Orientierung geben, was der jeweils nächste Schritt sein soll. Für sie können wir Verantwortung haben und für sie schaffen wir Stellenbeschreibungen, um festzulegen, wer genau was tun soll. Wovon das abhängt, ob diese Schritte überhaupt helfen können, unsere Aufgaben zuverlässig zu erledigen, davon erzähle ich Dir an einem anderen Tag. Lass uns lieber erst einmal über Aufgaben sprechen.
Denn mit Aufgaben ist das nicht ganz einfach: Jedes unserer Produkte ist für sich gesehen eine Aufgabe. Auch unser Leben insgesamt, eine Hochzeit oder eine Masterarbeit sind Aufgaben. Allerdings würde es uns schwerfallen, so umfangreiche Aufgaben zu beschreiben, richtig einzuschätzen oder sogar zu erledigen. Deshalb zerlegen wir sie. Ebenso wie wir immer kleinere Krümel erhalten, je häufiger wir auf einen Keks schlagen, können wir Aufgaben immer weiter zerlegen, bis sie aus nichts Weiterem mehr bestehen als einem einzelnen Gedanken oder Handgriff.
Die wichtigste aller Fragen ist deshalb, auf welcher Detail-Ebene wir welche Aufgaben organisieren wollen, um nicht den Überblick zu verlieren, und wieviel Umfang eine einzelne Aufgabe im Normalfall haben soll. Nach unten hin ist das klar: Keine organisierte Aufgabe darf weniger als zwei Minuten in Anspruch nehmen, denn dann ist die sofortige Erledigung immer der wie auch immer gearteten Verwaltung vorzuziehen. Nach oben hin sollte eine Aufgabe nicht umfangreicher sein als übliche Zeitfenster, in dem eine Aufgabe ohne Unterbrechungen erledigt werden kann bzw. für die man noch verlässlich den Zeitbedarf zur Erledigung schätzen kann. Es könnte deshalb angeraten sein, den maximalen Zeitwert einer konkreten Aufgabe auf ein bis zwei Stunden, maximal aber einen Tag festzulegen.
Für mehrwöchige Aufgaben wie ein Projekt, ein Konzept oder eine Kampagne ist es angeraten, sie zu zerlegen, bis wir Teilaufgaben erhalten, die jeweils in einem Zug erledigt werden können, und im Verlauf nur jeweils die aktuellen Teilaufgaben zu betrachten. Denn das ist eigentlich das Problem: Meist verteilen sich unsere Aufgaben auf dem Zeitstrahl, dauern unterschiedlich lange, sind zum Teil voneinander abhängig und wir verhaspeln uns dabei, den Überblick über den Zeitfaktor zu bewahren. Aber davon kann ich Dir ja morgen erzählen…
Lila: Gestern haben wir über Aufgaben gesprochen. Ich habe darüber nachgedacht, ich habe viel zu viele davon und schaffe es nicht, den Überblick über alle zu behalten. Da hast Du vorgeschlagen, jeweils nur die aktuellen Aufgaben anzuschauen. Wie mache ich das, ohne etwas zu vergessen?
#2 Alles bedeutet nichts
Benno überlegte einen Moment, dann begann er zu erzählen: Mit dem technischen Fortschritt kam die Verheißung, uns nicht mehr beschränken zu müssen. Endlich können wir - heutzutage sogar in der grenzenlosen Cloud - alle unsere Daten speichern, und es gibt nicht wenige Apps, die damit werben, „auch …“ zu können.“ In unseren Unternehmen führen wir vollständige Listen und haben für alles Prozesse, Kennzahlen und Checklisten. Wir sind im alles-Zeitalter, in dem wir versuchen, immer ausgefeilter und vor allen Dingen alles zu verwalten.
Letztlich ist es die ingenieursmäßige Jagd nach der nächsten und nächsten Stufe sowie die Aussicht, am Ende alles technisch regeln und steuern zu können, die uns stets nur nach der Erweiterung unserer Möglichkeiten Ausschau halten lässt. Weglassen? Wegwerfen? Löschen? Auswählen? Das haben wir doch (technisch gesehen) gar nicht mehr nötig.
Dabei wäre das nur allzu menschlich: Schließlich weiß sich schon unser Gehirn von Natur aus durch Vergessen vor Überlastung zu schützen. Seien wir ehrlich: Wollen wir wirklich bei Google alle Treffer lesen? Interessieren wir uns jemals wirklich für alle Aufgaben im Projektplan? Nein, natürlich nicht, wir lieben nur das Gefühl der Vollständigkeit, weil es uns Sicherheit vermittelt. Gerade weil wir es gar nicht verarbeiten können, ist es ein Denkfehler, zu glauben, dass wir allein dadurch mehr Ordnung schaffen, dass wir nur immer vollständiger, präziser und exakter planen und arbeiten.2
Die wahre Herausforderung unserer Zeit besteht darin, uns zu beschränken, zu fokussieren auf das, was genau hier und jetzt relevant ist. Deshalb ist es so wichtig, unsere vollständigen und unübersichtlichen To-do-Listen daraufhin zu untersuchen. Denn genau hier liegt die größte aller Verheißungen: Schaffen wir es, unseren Blick auf etwa fünf bis zehn aktuelle Aufgaben zu reduzieren, ist unser Bauch bzw. unser Unterbewusstsein wieder in der Lage, intuitiv zu priorisieren, ohne Eisenhower-Zirkus oder irgendwelche elektronischen Hilfsmittel, allein durch Vergleich entlang der Kriterien Wichtigkeit, Dauer, Unsicherheit der Bearbeitung und negativ Konsequenzen bei Verspätung. So wie wir das im privaten Umfeld andauernd tun.
Aber selbst, wenn wir das nicht schaffen, in den allermeisten Fällen können wir nach zehn bis fünfzehn Aufgaben aufhören, wenn wir nach denen suchen, die für die einzig relevante Entscheidung „was tue ich als Nächstes?“ tatsächlich in Frage kommen. Die allermeisten unserer übrigen Aufgaben können wir später angehen oder sie traten mal zur Bewältigung einer akuten Krise, als Verbesserungsvorschläge bzw. als gute Vorsätze in unser Leben, haben mittlerweile Grünspan angesetzt und taugen allerhöchstens noch als Lückenfüller für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir mal Zeit oder etwas weniger zu tun haben.
In jedem Fall ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass die jederzeitige vollständige Verwaltung von allem (was naturgemäß mit der Zeit immer mehr wird) keine Lösung ist. Wir brauchen keine riesige Landkarte, auf der alles vollständig und fein säuberlich verzeichnet und exakt hintereinander aufgereiht ist, um die Dinge in der richtigen Reihenfolge zu tun. Tatsächlich ist das Leben nur eine lange Kette von Einzelentscheidungen über die jeweils nächste Sache, die wir angehen. Der Schlüssel dafür, den Überblick zu behalten, ist also, Wege zu finden, Dinge wegzuwerfen, zu löschen oder aus der Betrachtung auszublenden. Aber davon erzähle ich Dir morgen mehr…
Lila fand zunehmend Gefallen am morgendlichen Austausch mit Benno und wurde jeden Tag neugieriger: Gestern haben wir darüber gesprochen, uns nur auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren. Dabei kann mir doch eine App oder das EDV-System helfen, oder?
#3 Nicht nur in Eiern stecken Überraschungen - wie wir die Welt mit zwei Augen sehen
Schauen wir uns unsere betrieblichen Aufgaben genauer an, unterscheiden sie sich nicht nur in kleine und große sowie in jetzt und später relevante, sondern in genau einer organisatorisch wichtigen Weise: Es gibt Aufgaben, die immer wieder gleich sind, z.B. 3.000 Autos am Tag zu montieren, und solche, bei denen mindestens ein Detail so noch nicht da war, beispielsweise bei einem kundenspezifischen Konzept. Es ist ganz wichtig, dass Du den Unterschied zwischen beiden kennst.
Das ist deshalb relevant, weil sich für identisch wiederkehrende Aufgaben aus dem vorhandenen Wissen Prozesse - feste Abfolgen von Tätigkeiten oder Einzelaufgaben - bilden lassen. Hier gibt es keine Abweichungen von der Norm, hier ist die Heimat von zunächst Standardisierung und später Automatisierung. Und genau der Teil ist neu: In der Vergangenhe...