Europa mit der Moralkeule
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Europa mit der Moralkeule

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Europa mit der Moralkeule

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Über dieses Buch

DIE MORALISCHEN MAXIMALISTEN: Der Frankfurter Soziologe Dieter Prokop kritisiert, dass in der EU einzelne Politiker oder ganze Regierungen die Verträge, das Recht, die Gesetze verletzen oder dehnen - und das mit naturrechtlich veredelter Moral (Humanität, Menschenrechte, Solidarität etc.) begründen. Prokop zeigt, dass diese sich mit Pathos auf Menschlichkeit berufende "Politik mit der Moralkeule" in Wirklichkeit die menschlichste Forderung des Naturrechts missachtet: die Maxime der Angemessenheit. Er untersucht die unangemessene politische Übergriffigkeit dieser Politik gegenüber den Lebensweisen und Interessen und auch gegenüber dem Verstand der Menschen.DIE WERBUNGS-FALLE: Prokop untersucht auch, wie es zu dieser Übergriffigkeit kommt. Dass die Moralpolitikerinnen und Moralpolitiker glauben, die Wählerinnen und Wähler bei ihren 'Wertorientierungen' packen zu können - das wurde ihnen von der Werbung eingeredet: von den Medien, die Werbeplätze verkaufen, von den Werbeagenturen, von der Markt- und Meinungsforschung, von den Fake News-Machern und von Facebook, Twitter, die ihre gesammelten Daten ('Big Data') an die Werbeagenturen verkaufen. Prokop weist nach, dass die Moralkeulen-Politiker damit in einer Falle sitzen, in der Werbungs-Falle: "Sie werben für 'Werte' und appellieren an die Gefühle und wollen nicht wahrhaben, dass die Menschen ihnen nicht glauben, weil sie Werbung überhaupt für unglaubwürdig halten."

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Information

Verlag
tredition
Jahr
2017
ISBN
9783743930346

VIRTUELLE KONSTRUKTION VERSUS GLAUBWÜRDIGKEIT

Politik, die ›Werte‹ und Stimmungen für wichtiger hält als den Verstand der Menschen, befindet sich in der Werbungs-Falle

Die Werbungs-Falle I: die Fallensteller. Die Marktforschung; die Meinungsforschung; die Werbeagenturen; die Werbeplätze und Zielgruppen verkaufenden Medien; die Fake News-Macher; die Zielgruppen-Daten verkaufenden ›sozialen‹ Medien

Das einseitige Modell von Gesellschaft als System ›institutionalisierter Werte‹ und dessen Einfluss auf die Praxis der Markt- und Meinungsforschung

Jetzt möchte ich die Frage klären: Was sind die strukturellen Ursachen dafür, dass man in der Politik – auch in den Parteien der Mitte – daran glaubt, dass es etwas bringt, wenn man in der politischen Selbstdarstellung so demonstrativ betont, dass man die ›guten Werte‹ realisiert? Dass man die vielen Sachfragen, an denen man tagtäglich arbeitet, gegenüber den Wählerinnen und Wählern nicht erwähnt?
Um das zu beantworten, halte ich es für wichtig, jene gesellschaftlichen Institutionen zu beachten, derer sich die Politiker in der Praxis bedienen, um in der Bevölkerung Unterstützung zu finden. Sie bedienen sich der Politikberatung, der Werbung und des Marketing und nicht zuletzt der Markt- und Meinungsforschung. In jene sind nicht die Prämissen der Philosophen über die ›richtigen Werte‹ eingegangen, sondern die Prämissen der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Psychologie. Jene haben die Politik und deren Strategien der öffentlichen Performance geprägt. Dass Politiker sich die Gesellschaft, die gesellschaftliche Integration, als einen Zusammenhalt vorstellen, der durch ›gemeinsame Werte‹ geschaffen wird – das kommt nicht zuletzt aus der Soziologie, und zwar der konservativen, positivistischen, in der man sich vorstellt, dass gesellschaftliche Ordnung nicht aufgrund Macht und materiellen Interessenlagen zustande kommt, sondern durch ›institutionalisierte Normen und Werte‹ die die Menschen von Geburt an im Prozess der ›Sozialisation‹ in sich aufnehmen, indem sie lernen, ›soziale Rollen‹ zu spielen und die damit verknüpften Wertvorstellungen ›internalisieren‹.
Das alles gibt es, das sind keine Fiktionen. Von Geburt an übernehmen die Menschen auch Wertorientierungen, sie werden ihnen von Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrern etc. eingebläut. Soziologen haben anhand vieler empirischer Studien gezeigt, dass Wertorientierungen ›schichtspezifisch‹ bzw. ›milieuspezifisch‹ sind. Dazu gehören auch Normen darüber, was in der eigenen Schicht bzw. im eigenen Milieu als angemessenes Verhalten angesehen werden kann; die Menschen lernen also ›schichtspezifische Angemessenheitsnormen‹. Diese empirischen Ergebnisse sind nicht zu bezweifeln. Nur hat die Forschung damit auch festgestellt, dass materielle Strukturen das Entscheidende sind: Beruf, Einkommen, sozialer Status, Wohnort, Alter, Schulbildung, Ausbildung, Sprachbeherrschung, Geschlecht, Herkunft etc. Und wenn Soziologen es nicht bei der Feststellung solcher Fakten belassen, sondern jene auf der makrosoziologischen Ebene betrachten, kommen sie zu dem Schluss, dass gesellschaftliche Integration nicht nur eine Frage von ›gemeinsamen Wertorientierungen‹ ist, sondern eine Frage der materiellen Ressourcen, über die eine Gesellschaft verfügt und über die die Einzelnen verfügen oder eben nicht verfügen. Und da diese Ressourcen offensichtlich – das erbringt selbst die unkritischste empirische Forschung – ungleich verteilt sind, kommen die Makrosoziologen automatisch dazu, ökonomische, politische, gesellschaftliche Verteilungskämpfe wahrzunehmen. Verteilungskämpfe gibt es zum Beispiel in der Industrie zwischen Männern und Frauen um Managerposten oder sichere Jobs oder bei der ›Willkommenskultur‹ um staatlich subventionierte Posten, Geld und Quoten. Auf europäischer Ebene gibt es Verteilungskämpfe um Rettungsfonds-Gelder für von Insolvenz bedrohte Staaten und Banken oder um gesamteuropäische Sozialsysteme. Gesellschaftliche Integration ist also ein Phänomen von Verteilungskämpfen. Diese Erkenntnis macht die ganze Gefühlsduselei über ›unsere gemeinsame Werteordnung‹ fragwürdig. Zwar gibt es dann immer noch Gruppierungen aller Art, die ihren Verteilungskampf mittels ›unserer Werteordnung‹, ›unserer kulturellen Orientierung‹ oder auch mittels ihrer ›religiösen Orientierung‹ legitimieren, sich sogar als Opfer der Verhältnisse oder einfach der Anderen darstellen – aber das können die Makrosoziologen dann nur noch als Show ansehen, denn dahinter befindet sich immer ein Verteilungskampf um Ressourcen. Soziologen nennen das nicht ›Show‹, sondern ›Legitimationsideologie‹. Aber wie immer man das nennt, ›Gesellschaft‹ und ›gesellschaftliche Integration‹ ist dann eine konfliktreiche Angelegenheit, in der mit harten Bandagen – auch solchen der Rhetorik, der Symbolpolitik – gestritten, intrigiert, gekämpft wird.
Die Vorstellung der konservativen Soziologie von der absoluten Wichtigkeit der ›Werte‹ könnte allen Nichtsoziologen gleichgültig sein. Der ›Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹ zwischen kritischen und konservativen Soziologen (s. Adorno et al, 1969b) hat die Politik nie interessiert. Aber die Vorstellung, dass ›Werte‹ – und damit auch Gefühle, Stimmungen, Attitüden – das Entscheidende seien, ist in die Markt- und Meinungsforschung eingegangen, und jene hat bekanntlich einen starken Einfluss auf das Handeln von Unternehmen und Parteien.

Das nicht sehr realistische Modell der angeblich individualisierten ›postmaterialistischen Werte‹

Heute hält man die ›Werte‹ der Menschen für ›individualisiert‹. Ich bestreite das und möchte das mit einem Blick auf die empirischen sozialstrukturellen Entwicklungen belegen. Sie sehen in den heutigen Gesellschaften so aus:
Es gibt seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland mehr Angestellte als Arbeiter und mehr Dienstleistungsberufe als Industrieberufe. Die meisten Erwerbstätigen arbeiten als abhängig Beschäftigte. Dazu kommt eine Veränderung der Berufsstrukturen: Die entscheidende Veränderung bestand im starken Absinken der Zahl der Erwerbstätigen im ›primären Sektor‹ der Wirtschaft, d. h. der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und der Fischerei. Es gibt auch ein Absinken der Zahl der Erwerbstätigen im ›sekundären Sektor‹, in der Industrie, im Handwerk und im Bergbau. Und einen starken Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen im ›tertiären Sektor‹, d. h. im Dienstleistungsbereich. In den 1970er Jahren überholte der tertiäre Sektor den sekundären. Aus Industriegesellschaften wurden postindustrielle Dienstleistungsgesellschaften. Dabei muss man beachten, dass viele Dienstleistungen für den sekundären Sektor erbracht werden, als Planung, Forschung oder Instandhaltung im Dienste der Industrie. (Übrigens meint der Begriff ›Dienstleistungsgesellschaft‹ lediglich den Anteil von Berufen wie Verkäufern, Bankangestellten, Busfahrern etc. Damit ist nichts über die Qualität der Dienstleistungen gesagt. Die Annahme, dass man als Kunde in der Dienstleistungsgesellschaft gut und freundlich behandelt wird, wäre völlig falsch.)
Es gibt Anfang des 21. Jahrhunderts keine voneinander abgegrenzten Klassen und auch keine ständischen Schichten mehr. Arbeiter steigen zwar selten zu Managern auf, aber sie können ihr Leben durch Ausbildung und Konsum verbessern. Umgekehrt kann ein Jung-Akademiker bei wechselnden Jobs auch mal Arbeiter sein, ohne damit gleich dauerhaft in die Unterschicht abzusinken – man nennt das ›fragmentierte Bastelbiografien‹.
Die Systeme sozialer Sicherheit und öffentlicher Leistungen haben für einen Teil der Bevölkerung gewisse Lebens-Sicherheiten geschaffen, man kann sich durchschlagen, selbst wenn diese Sicherheiten durch die neoliberale-marktradikale Politik massiv abgebaut werden.
Die Familienformen haben sich verändert. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte hat im 20. Jahrhundert zugenommen. Nicht alle davon sind junge Singles, in fast der Hälfte aller Ein-Personen-Haushalte leben Menschen über 65 Jahre. Die Zahl der Mehr-Personen-Haushalte ist gesunken.
Die Zahl der Eheschließungen hat sich seit den 1960er Jahren fast halbiert. Die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften ist beträchtlich gestiegen. Ungefähr ein Drittel aller Ehen werden geschieden. Fast ein Fünftel aller Eltern mit Kindern sind alleinerziehend, davon wiederum sind fast die Hälfte der Eltern geschieden und ein Drittel ledig, der Rest getrennt lebend oder verwitwet.
Aber es gibt keine Individualisierung. ›Individualisierung‹ ist ein Propagandabegriff der Marktforschung.
Diese Strukturveränderungen waren Anlass für die These von Soziologen, die Menschen seien in den heutigen Industriegesellschaften ›individualisiert‹. Es nähmen die Zwänge zu, den eigenen Lebenslauf selbst zu gestalten. Deshalb seien für das Leben der Menschen nicht mehr Beruf, Einkommen und Schulbildung das Entscheidende, sondern das ›soziale Milieu‹ und der darin gepfegte ›Habitus‹ oder ›Lifestyle‹ oder die Konsumorientierung. Anhänger der Individualisierungs-These unterscheiden soziale Milieus nach spezifischen Wertorientierungen. Sie gehen davon aus, dass heute – innerhalb der Schichten und auch schichtübergreifend – spezielle Wertorientierungen, ›subjektive Sinnkonstitutionen‹ bedeutsam sind. Vor allem wurden von der Marktforschung die Dimensionen des Soziologen Ronald Inglehart übernommen, der zwischen ›materialistischen‹ und ›postmaterialistischen‹ Wertorientierungen unterschied. (s. Inglehart 1977) Ich gehe im nächsten Kapitel auf die sozialen Milieus ein. Hier möchte ich erst einmal diese Vorstellungen über ›Individualisierung‹ kritisieren.
Die neuen sozialstrukturellen Veränderungen, die stärkere Differenzierung der sozialen Schichtung, als ›Individualisierung‹ zu bezeichnen, halte ich für falsch, denn damit wird die Realität dieser Differenzierung beschönigt. Zu sagen, heute käme es nur auf den Lifestyle an, ist nur für jene kommerzielle Forschung brauchbar, die Lifestyle mit Konsum gleichsetzt. Konsum ist jedoch vom Einkommen abhängig, und Einkommen immer noch von Beruf, und Beruf immer noch von Ausbildung. Hieran findet die angebliche ›Individualisierung‹ ihre strukturellen Grenzen. Eine Barriere existiert zwischen ungelernter Arbeit und gelernter Arbeit, gleichgültig, ob bei Arbeitern oder Angestellten; eine andere Barriere besteht zwischen mittlerer Schulbildung und Universitätsausbildung. Also: Ausbildung und die Art der Erwerbstätigkeit bestimmen immer noch die Chancen der Lebensführung.
Die ›individualisierte‹ Gesellschaft ist in Wirklichkeit eine flexibilisierte Gesellschaft, eine Gesellschaft der Automation, der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, der Schaffung weniger neuer, qualifizierter Arbeitsplätze und vieler Niedriglohn-Jobs. Wer Arbeit hat, wird durch die Angst vor Arbeitslosigkeit von Lohnforderungen abgehalten. Menschen, die das Berufsleben zu Flexibilität zwingt, entwickeln ein flexibleres Bewusstsein als es z. B. Beamte haben (s. Sennett 2000), aber solche Flexibilisierung schafft keine Individualisierung. Wenn junge Leute weniger Chancen haben, einen dauerhaften Beruf zu finden, schafft das keine individualisierten Menschen, sondern verängstigte Opportunisten. Und Erwachsene, die von Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe abhängig sind, entwickeln sicherlich ein anderes Lebensgefühl als in einer lebenslang sicheren Berufssituation, aber das kann man nicht ›Individualisierung‹ nennen.
Aber gibt es denn nicht die Individualisierung im Konsum? Ist es denn nicht für viele Jugendliche wichtig, die richtigen Marken-Klamotten zu tragen? Finden sie darin nicht einen individualisierten Habitus? Sind Erwachsene nicht stolz auf ihre vielen Swatch-Uhren, deren Farbe und Ausstattung sie ganz individuell, je nach Laune, passend zur wechselnden Freizeitkleidung wechseln können?
Ja, das gibt es. Aber es ist in der empirischen Forschung bekannt, dass gerade solch ›individualisierter‹ Konsum stattfindet, um Gruppen-Zugehörigkeit zu demonstrieren. Wer nicht die Markenartikel trägt, gilt als ›out‹, wird sozial negativ sanktioniert. Also ist das, was Soziologen als ›Individualisierung‹ feiern, in Wirklichkeit eine ichschwache oder bewusst opportunistische Reaktion auf Gruppendruck. ›Individualisierte‹ Angebote und deren ›individualisierte‹ Selektion schaffen keine autonomen Subjekte, sondern konformistische Konsumenten, die glauben, sie seien individualisiert, wenn ihnen geringfügige Variationen von geringfügigem Konsum möglich sind.
Die Problematik besteht in der Frage, welche Anforderungen die Auftraggeber an die Forschung stellen und welche nicht.
Wenn in der kommerziellen Marktforschung arbeitende Soziologen die Feinstruktur der Ungleichheit und die ›individualisierten‹ Wertorientierungen betonen, folgen sie den Unternehmen aus Werbung, Marketing und PR, die an einer Segmentierung des Publikums-Markts in ›Zielgruppen‹ und ›Milieus‹ interessiert sind. In Werbung und Marketing bedeutet ›Individualisierung‹ lediglich, dass man die ›Ansprache des Nutzers‹ zielgruppenspezifisch gestaltet: Man wirbt in Sport-Fernsehsendern für Bier und Sportartikel, in RTL 2 für Popmusik-CDs und Gesichtswasser. Man betreibt Werbung für Zielgruppen, man will ›weg von einem einzigen Massenpublikum‹, man will alles ›auf das Individuum maßgeschneidert‹. In der Werbung wird das ›targeting‹ genannt. Wie dieses targeting, dieses Zielen auf die potenziellen Konsumenten und Wähler genau funktioniert, zeigt jetzt folgende Kapitel.

Wie das Bild vom ›einfachen Konsumenten und Wähler‹ konstruiert wird, der glücklich in der Werteprovinz seines ›sozialen Milieus‹ lebt und dort angeblich kein anderes Interesse hat, als seine ›Lebensform‹ zu pflegen

Meine These ist: Die Konstruktion des Bilds vom einfachen, ›wertorientierten‹ primär Gefühlen folgenden Wählervolk entsteht bereits im Subjektivismus der Werbewirtschaft, der Marktforschung, der Zielgruppenforschung, der Milieuforschung, der Meinungsforschung. Ihr Subjektivismus führt dazu, dass die Stimmungen der Bevölkerung für wichtiger gehalten werden als deren Verstand, was wiederum zur Betonung der ›Werte‹ in der Politik und letztlich auch zum moralischen Maximalismus in der Politik führt. Da das sehr komplizierte Prozesse sind, bei denen man mit den üblichen Medien-Beschimpfungen nicht weit kommt, muss ich hier ins Detail gehen.
Zielgruppen- und Milieuforschung ist der Versuch, die kaufkräftigen und/oder konsum-affinen Teile der Bevölkerung mit sozialwissenschaftlichen Methoden an die werbungtreibenden Unternehmen verkaufbar zu machen. Medien wie Fernsehen und Zeitschriften wollen damit die Auftraggeber von Werbung beeindrucken. Dasselbe wollen auch die neuen ›sozialen‹ Medien wie Facebook oder Twitter. In der politischen Diskussion stehen heute die Falschmeldungen (›Fake News‹) in den ›sozialen‹ Medien im Vordergrund des Interesses. Aber auch hierbei geht es immer um Werbung, wobei im Vordergrund des Interesses die Parteienwerbung steht. Das Ganze funktioniert so (und ich bleibe in meiner Darstellung beim Fernsehen):
Werbeagenturen buchen Fernseh-Sendezeit für ihre Werbespots. Sie tun das aufgrund von Einschaltquoten. Aber die Werbeagenturen wollen nicht nur Einschaltquoten. Sie wollen wissen, ob z. B. Werbung für junge Mode im Fernsehen auch wirklich die jungen Leute erreicht oder ob Werbung in Jugendzeitschriften besser wäre; und was man den jungen Leuten sonst noch verkaufen könnte. Sie wollen Daten über das Medien- und Konsumverhalten ihrer Zielgruppen. (Auch die ›Milieus‹ sind nichts Anderes als Zielgruppen, doch darüber später.) Sie wollen wissen, welche Kaufkraft sie haben. Deshalb erhalten sie Daten über die Menge der Zuschauer, aufgegliedert nach sozialstrukturellen Merkmalen: Alter, Geschlecht, Beruf, Einkommen, Schulbildung, Familienstand, Kinderzahl, Kaufvolumen, Markentreue, Preisverhalten etc. Man nennt das ›quantitative Daten‹.
Diese Informationen werden den Werbung-Auftraggebern von den Medien, den Werbeträgern – den Fernsehsendern, den Illustrierten etc. –, kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Medien finanzieren die entsprechende kommerzielle Forschung, also eine Auftragsforschung, bei sie als Auftraggeber die Forschungs-Fragestellungen bestimmen. (Aber auch das Bundespresseamt und die Parteien kaufen die Forschungsergebnisse und beeinflussen die Fragen, die die Forscher stellen.)
Dasjenige Medienunternehmen, das einem Auftraggeber von Werbung mehr Informationen über die Konsumvorlieben und Konsum-Aufgeschlossenheit der Zielgruppen liefert, erhält eher Werbeaufträge. Es bietet die Ware ›kauffreudiges ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. HYBRIS DES HERZENS VERSUS ANGEMESSENHEIT
  7. Humanitäre Moral ist unverzichtbar, aber von den Menschen zu verlangen, dass sie bedingungslos ›Werten‹ folgen statt ihrem Verstand, ist politisch übergriffig
  8. VIRTUELLE KONSTRUKTION VERSUS GLAUBWÜRDIGKEIT
  9. MORALISCHE UNTERWERFUNG VERSUS DEMOKRATISCHER RECHTSZUSTAND
  10. Schlusswort
  11. Literatur