Nationale Identität
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Mythos und Wirklichkeit am Beispiel Österreichs

  1. 264 Seiten
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Mythos und Wirklichkeit am Beispiel Österreichs

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Das Zeitalter des Nationalismus gehört angeblich der Vergangenheit an. Dennoch wehren sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft dagegen, ihre Souveränität zugunsten eines künftigen Vereinten Europas aufzugeben. Viele Menschen empfinden die Globalisierung als Bedrohung ihrer nationalen Identität. Diese ist historisch gewachsen und manifestiert sich in unzähligen Details, deren Gesamtheit wir als Lebensstil erfahren: im Umgang miteinander, in der Art, wie wir Feste feiern, was und wie wir essen, welche Orte wir besuchen, welche Kleidung wir tragen und wie wir wohnen, vor allem aber darin, dass man an sie glaubt. Die Österreicher, die viele Jahrhunderte im Zentrum eines Reichs lebten, das den Nationalismus bekämpfte, glaubten vor 1918 nicht, dass sie eine Nation waren, vielmehr waren sie, wie Musil es ausdrückte, "zuerst und ursprünglich nichts". Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie wurden sie gezwungen, sich eine nationale Identität im Schnellverfahren anzueignen. Sie taten sich damit sehr schwer. Die einen trauerten der untergegangenen Monarchie nach und fanden sich in der Gegenwart nicht zurecht, die anderen erstrebten den Anschluss an Deutschland, wobei dem Mythos des Volks große Bedeutung zukam. Ein weiterer zählebiger Mythos war der des Reichs, der sich sowohl auf das Reich der Habsburger als auch auf das Heilige Römische Reich bezog. Und dann gab es noch die Hoffnung auf ein zukünftiges Drittes Reich. Von diesen Mythen wurden die Österreicher durch die Katastrophe des Nationalsozialismus geheilt. Heute ist ihre Mehrheit davon überzeugt, dass sie eine nationale Identität hat. Diese ist eine junge Konstruktion, deren inhärente Brüche noch sichtbar sind. Am Beispiel Österreichs lässt sich daher die grundsätzliche Problematik nationaler Identität besonders gut aufzeigen. Als Gegenbeispiele dienen einige Länder, die seit langem ein starkes Nationalgefühl besitzen, insbesondere Irland. An der Entwicklung nationaler Identität haben Zufall und Schicksal ebenso teil wie bewusste Entscheidungen, Geschichtsklitterung, mythische Verklärung, Propaganda und Lügen. Mythen sind gefährlich und können Gesellschaften zerstören. Die historische Erfahrung zeigt aber auch, dass sie ihnen helfen können zu überleben. Der rechte Umgang mit Mythen muss erlernt werden.

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Kapitel 1 – Ein bedrohtes Wesen
In seinen Filmen Deine Frau, das unbekannte Wesen (1969) und Dein Mann, das unbekannte Wesen (1970) ging Oswald Kolle davon aus, dass wir über die uns am nächsten stehenden Personen nichts wissen. Aber nicht nur der Ehepartner, sondern auch das Land, in dem wir leben, ist für die meisten von uns ein unbekanntes Wesen, und diejenigen, die fürchten, dass Zuwanderer ihre nationale Identität gefährden, vermögen nur selten anzugeben, worin diese eigentlich besteht. In Worte zu fassen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten eine bestimmte Person auszeichnen und was deren Einzigartigkeit ausmacht, ist ein schwieriges Unterfangen. Das Wesen einer Gruppe von Menschen oder gar einer Nation zu definieren, ist unmöglich. Es ist nicht einmal sicher, ob man überhaupt von einer kollektiven Identität sprechen darf. Man kann nur immer neue Fragen stellen und immer wieder versuchen, sich dem Problem anzunähern.
Die Tatsache, dass sich das vierte Radioprogramm der BBC in den ersten Monaten des Jahres 2011 ausführlich mit der britischen Identität beschäftigte, zeigt, dass sie problematisch geworden ist. Vor nicht langer Zeit sind Die wahren Finnen angetreten, ihr Land vor der Überfremdung zu retten. In Österreich fordert H. C. Strache die Wiener auf, sich gegen die Bedrohung durch Türken und andere Ostvölker zu wehren. Thilo Sarrazin beschwört die Gefahr eines durch die Islamisierung zunehmend verblödenden Deutschlands herauf. Identität scheint das zu sein, was von allen Seiten bedroht wird: durch Immigration, durch die Europäische Union, durch die Globalisierung.
Wenn der Zahn der Zeit an einem Kulturdenkmal nagt oder wenn eine Tiergattung vom Aussterben bedroht ist, stürzt sich ein Heer von Historikern oder Zoologen auf die gefährdeten Objekte und Lebewesen und fotografiert, zeichnet, beschreibt und analysiert sie und sammelt alles, was sich an Wissenswertem über sie auftreiben lässt. Es ist also angebracht, noch einmal einen Versuch über nationale Identität zu wagen, bevor sich alle Nationen mitsamt ihrer einzigartigen Geschichte und Lebensweise im Globalisierungsbrei auflösen.
Tatsache ist: Länder verschwinden von der Landkarte und Kulturen gehen unter. Verhaltensweisen und Wertvorstellungen, die Jahrhunderte überdauert haben, fallen der Vergessenheit anheim. Wer weiterhin an ihnen festhält, wird müde belächelt. Der Zusammenbruch der alten Ordnung nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs hatte den europäischen Kontinent in seinen Grundfesten erschüttert, und die Suche nach einer neuen Ordnung endete in einer noch größeren Katastrophe. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich Europa, wie ich meine, zum Bessern gewendet. Stünde ein Bewohner der Welt von Gestern heute von den Toten auf, würde er seinen Kontinent nicht wiedererkennen. Noch zwar existieren die Nationalstaaten, die sich Jahrhunderte hindurch bekämpft hatten, doch haben sie begonnen, in einem größeren Europa aufzugehen. Bürger der Europäischen Union können sich in jedem Mitgliedsland niederlassen, wodurch es zu markanten demographischen Verschiebungen kommt. Gravierendere Veränderungen erfährt die Zusammensetzung der Bevölkerung vieler Staaten jedoch durch die Zuwanderung aus armen und krisengeschüttelten Ländern, die nicht der Europäischen Gemeinschaft angehören, was bei vielen Alteingesessenen zu Unmut, Angst und mitunter zu Aggressionen führt. So steht dem Abbau der Grenzen und der Globalisierung das Bestreben vieler Gruppen entgegen, sich im multikulturellen Gefüge unserer Zeit ihre Identität zu sichern und sie zu verteidigen. Sind aus dem Commonwealth nach Großbritannien zugewanderte Pakistaner, Inder und Nigerianer nach einigen Generationen immer noch Fremde, oder sind sie nun Briten, oder haben sie an mehreren Identitäten teil, und, falls ja, wie verhalten sich diese zueinander? Wieviel Zeit muss vergehen, bis nach Österreich eingewanderte Türken zu «echten» Österreicher werden?
Die Reduzierung der staatlichen Souveränität durch Abgabe von Kompetenzen an die Europäische Union mag für viele Österreicher schmerzlicher sein als für die Bürger anderer europäischer Staaten. Frankreich, England, Spanien und die Niederlande sind seit Jahrhunderten Nationalstaaten und hatten viel Zeit, ein starkes nationales Selbstgefühl zu entwickeln. Österreich hingegen musste, wie Stephen Toulmin schrieb, nachdem es 1918 „seine Identität als Kaiserreich verlor […] eine republikanische Identität vom Nullpunkt an aufbauen”. (S. 252). Seine Bewohner wurden gezwungen, in einem crash course nachzuholen, was anderswo Jahrhunderte Zeit gehabt hatte zu wachsen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Österreich das Zentrum eines von den Habsburgern regierten Verbundes von Völkern gewesen, dessen größter Feind der Nationalismus war, weshalb sich die Einwohner dieses dynastischen Betriebs, sofern sie dem Herrscherhaus loyal gegenüberstanden, als übernationale Wesen zu fühlen gelernt hatten. Dies traf vor allem auf die deutschsprachigen Untertanen Habsburgs zu. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erblickten die Anhänger des Hauses Österreich im Nationalismus den Hauptfeind der unzeitgemäß gewordenen Vielvölkermonarchie und verabscheuten und fürchteten ihn. Franz Grillparzer, der 1849 in einem Epigramm voraussagte, dass die „Nationalität zur Bestialität” führen werde, konnte freilich nicht ahnen, mit welcher Gründlichkeit das „Dritte Reich“ diese Prophezeihung erfüllen sollte. Dem deutschsprachigen Überrest des Habsburgerreiches, der 1918 infolge des Kollapses der alten Ordnung entstandenen österreichischen Republik, gelang es erst nach jahrzehntelangen Bemühungen und vielen Fehlschlägen, eine nationale Identität aufzubauen. Wenngleich kritische Geister wie z.B. Josef Haslinger, Robert Menasse oder Elfriede Jelinek Recht haben mögen, wenn sie die von der Politik propagierte österreichische Identität als ein Konstrukt denunzieren, welches zu einem Gutteil auf Verdrängung, Beschönigung und Geschichtslügen beruht, so hat sich dieses Konstrukt doch insofern bewährt, als sich die Mehrheit der Österreicher heute zu ihrem Staat bekennt. Kaum aber war es gelungen, die Identität Österreichs in den Gehirnen und Herzen seiner Bürger zu verankern, trat das Land der Europäischen Union bei und stimmte damit dem allmählichen Abbau dieser Errungenschaft zu. Das war natürlich nicht leicht zu verkraften. Robert Menasses polemisch gestellte Frage trifft den Kern des Problems: „Wohin aber jetzt mit unserer neuen Identität, der so lange zwanghaft aufgebauten?“ (Menasse, S. 53).
Da sich Österreich auf Grund seiner komplizierten Geschichte besonders gut dazu eignet, die Problematik nationaler Identität aufzuzeigen, steht es im Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Wir werden aber immer wieder auch Blicke auf andere Länder werfen. Ein lehrreiches Gegenbeispiel zu Österreich stellt die Irische Republik dar. Österreich und Irland sind junge europäische Nationalstaaten, die aus den Umwälzungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen sind. Im Gegensatz zu den Österreichern wurden jedoch die Iren niemals von Zweifeln darüber geplagt, was sie seien.
Ich weiß nicht, ob die Besucher der Filme Oswald Kolles nach dem Verlassen des Kinos ihre Ehepartner besser verstanden als vorher, und ich bezweifle, dass die Leser dieses Essays am Ende wissen werden, was nationale Identität im Allgemeinen und die österreichische Identität im Besonderen ausmacht. Vielleicht aber werden sie von den folgenden Ausführungen dazu angeregt, weitere Fragen zu stellen und Antworten zu suchen.
Kapitel 2 – Eine komplizierte Geschichte
Als wir vor einigen Jahren in Wien einen Zweitwohnsitz errichteten, trat meine irische Frau dem Club Welcome to Austria bei, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Ausländer, die längere Zeit in Österreich verbringen, mit der Geschichte und Kultur des Landes vertraut zu machen. Er organisiert Besuche von Ausstellungen, Konzerten und Restaurants, Stadtführungen durch Wien sowie Reisen in die Bundesländer. Die meisten Mitglieder sind Angehörige des diplomatischen Dienstes, andere sind Wissenschaftler oder Geschäftsleute, auch einige Österreicher, die mit Ausländern in Kontakt treten wollen, befinden sich darunter. Einmal besuchte meine Frau mit Mitgliedern dieses Clubs eine Ausstellung. Eine Dame schlug vor, anschließend zum Mittagessen in ein deutsches Restaurant zu gehen. Da sie englisch sprach, sagte sie: a German restaurant. Obwohl sie Wien gut kennt, hatte meine Frau nie von einem deutschen Restaurant in dieser Stadt gehört und war neugierig, was es dort Interessantes zu essen gäbe. Zu ihrer Enttäuschung erwies sich das deutsche Restaurant als normales Wiener Beisl.
Was ein Österreicher als typisch österreichisch oder wienerisch empfindet, mag sich einem Ausländer, der nichts von der komplizierten Geschichte des Landes weiß, anders darstellen. Touristen und Menschen, die aus beruflichen Gründen einige Zeit in einem fremden Land verbringen, begnügen sich im allgemeinen damit, das Allernotwendigste über ihr Gastland zu erfahren. Sie stellen einfache Fragen und erwarten einfache Antworten. Damit kommen sie in Österreich und besonders in Wien nicht weit, denn die Dinge sind hier nun einmal verzwickter als anderswo. Besuchern Frankreichs, Englands und anderer europäischer Staaten fällt es nicht allzu schwer, sich mit Hilfe der in den gängigen Reiseführern als besonders wichtig hervorgehobenen historischen Tatsachen recht und schlecht zu orientieren. Was aber soll denn der Besucher Österreichs über die Geschichte eines Gebildes lernen, das alle paar Jahre seine Gestalt radikal änderte? Man sehe sich historische Karten von Frankreich, Spanien, Portugal, England oder Irland an. Diese Länder haben ihre Gestalt über Jahrhunderte im Wesentlichen beibehalten, sie besitzen eine deutlich sichtbare Identität. Anders steht es mit Österreich: Die Niederlande, Kroatien, Mailand, Triest, Venedig, Neapel und Sizilien sind längere oder kürzere Zeit österreichisch, sehr lange zum Herrschaftsbereich der Habsburger gehörten Ungarn, Böhmen, Slowakien und Slowenien, ein paar Jahre vor dem Ende der Monarchie auch noch Bosnien. Zu allen Titeln und Würden der Habsburger – sie waren u.a. Erzherzöge von Österreich und Könige von Böhmen und Ungarn – kam auch noch der des deutschen bzw. „römischen” Kaisers hinzu. Bevor sich die Habsburger in eine deutsche und eine spanische Linie teilten, herrschte Karl als König Karl I. über Spanien und als Kaiser Karl V. über das Heilige Römische Reich, dessen wichtigster Teil Deutschland war. Die Stammburg der Habsburger lag im Aargau in der Schweiz, und es ist ein wenig ironisch, dass sich die ursprüngliche Heimat dem Einfluss dieser zu königlichen und kaiserlichen Würden aufgestiegenen Dynastie für immer entzog. Zu ihrem neuen Stammland erkoren die Habsburger das von den ausgestorbenen Babenbergern übernommene Herzogtum Österreich, das im Wesentlichen aus Wien und einem Teil des heutigen Niederösterreichs bestand. Unter ihnen stieg es zum Erzherzogtum auf und wurde um einige Gebiete erweitert. Dies ist der Grund, warum die habsburgische Dynastie auch als Haus Österreich (in Spanien als Casa d’Austria) bekannt ist. Wer sich in der österreichischen Geschichte zurechtfinden will, muss sich unter anderm in der Geschichte Deutschlands, Spaniens, der Schweiz, Italiens, Ungarns, der tschechischen und slowakischen Republik, Italiens, Belgiens und der Niederlande sowie des von der politischen Karte Europas getilgten Jugoslawiens umsehen. Es ist also kein Wunder, dass die meisten Besucher beim Studium der österreichischen Vergangenheit rasch ermüden und sich auf ein paar vertraute Highlights beschränken: auf den alten Kaiser Franz Joseph I. in Schönbrunn, seine Kaiserin Sisi, die Spanische Hofreitschule, die Wiener Sängerknaben und die Wiener Philharmoniker. Wenn sie noch Zeit haben, unternehmen sie einen Abstecher nach Salzburg, essen Mozartkugeln und absolvieren eine Sound of Music Tour, bevor sie in ein Land weiterreisen, dessen Geschichte ihnen weniger Mühe abverlangt.
Kapitel 2.1 – Deutsche, Tschechen, Kroaten und andere Österreicher
Die Bewohner eines Landes, das eine lange Geschichte hinter sich hat, teilen bestimmte Anschauungen, Werte, Vorurteile und Verhaltensweisen, die der Besucher als typisch für das Land und seine Menschen erlebt. Weil nun die österreichische Geschichte so kompliziert ist, muss die Antwort auf die Frage, was typisch österreichisch ist, ebenfalls kompliziert ausfallen. Die Tatsache, dass sogar ein Wiener Beisl von Fremden mit einem deutschen Restaurant verwechselt werden kann, gibt doch zu denken! Schriftsteller, Historiker und Psychologen haben versucht, herauszufinden, wie der österreichische Mensch, der homo austriacus, beschaffen ist bzw. ob es ihn überhaupt gibt. Zu ihnen gehören zum Beispiel Karl Kraus, Hermann Broch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil, Oswald Spengler, Erwin Ringel und William M. Johnston. Manches von dem, was über Österreich und die Österreicher geschrieben wurde, entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität. Hofmannsthals schematische Gegenüberstellung von Preußen und Österreichern aus dem Jahre 1917 ist eine Sammlung von bedenklichen Klischees. Da lesen wir etwa (S. 459–461), dass der preußische Staat „ein künstlicher Bau”, Österreich dagegen ein „geschichtliches Gewebe” sei, oder dass in Preußen „mehr Tugend”, in Österreich „mehr Frömmigkeit”, in Preußen „mehr Tüchtigkeit”, in Österreich „mehr Menschlichkeit” herrsche. Der Preuße leide an „Mangel an historischem Sinn”, der Österreicher dagegen verfüge über „historischen Instinkt”. Hofmannsthals Schema ist allemal gut dazu, Vorurteile gegen «die Deutschen» zu bestärken, die viele Österreicher mit den «Preußen» in einen Topf werfen. Wenn er liest, dass der Preuße „selbstgerecht, anmaßend und schulmeisterlich” sei, schlägt das Herz manches braven Österreichers höher, auch wenn er vielleicht nicht so gern zur Kenntnis nimmt, dass der Österreicher „verschämt, eitel, witzig” ist. Ist es tatsächlich so, dass der Österreicher dazu neigt, Krisen auszuweichen? Tun dies Angehörige anderer Nationen nicht auch? Und ist es wirklich richtig, dass der Preuße „zu Krisen” geradezu “[d]rängt”? Wir wissen natürlich, dass Friedrich der Große in seinem Krieg gegen Maria Theresia mehrere Male alles auf eine Karte setzte und beinahe alles verlor. Nach der Schlacht bei Kunnersdorf, in der er von den vereinten Russen und Österreichern vernichtend geschlagen worden war, war er sehr nahe daran, mitsamt seinem Preußen unterzugehen. Er hatte einfach Glück, dass seine Alles-oder-Nichts-Politik für ihn gut endete und er in die Geschichte als „der Große” einging. Aber ist diese Art von Hasardieren typisch preußisch? Es war schließlich der Österreicher Adolf Hitler, der sich den „großen” Preußenkönig zum Vorbild nahm und ihn an Krisensucht weit übertraf. Als sein „Drittes Reich” längst auf den sicheren Untergang zusteuerte, hoffte er immer noch auf eine entscheidende Wende zum Endsieg. Das Glück, das dem preußischen Friedrich hold gewesen war, blieb Hitler versagt, und so stürzte er den gesamten deutschen Kulturraum in die Katastrophe, von der er sich bis heute nicht erholt hat und wohl nie mehr vollständig erholen wird. Allerdings wäre die Katastrophe noch größer gewesen, hätte der „Führer” das Kriegsglück des Alten Fritz auf seiner Seite gehabt. Viele Österreicher hören gewiss gerne, dass die Preußen „nach der Vorschrift” und die Österreicher „nach der Schicklichkeit” handeln. Leider widerspricht dem, dass der Extrembürokrat Adolf Eichmann, der unzählige Juden streng „nach der Vorschrift” in den Tod schickte, kein Preuße, sondern ein Österreicher war. Von „Schicklichkeit” war da nichts zu merken. Es verdient festgehalten zu werden, dass sich Hugo von Hofmannsthal vor seiner Entdeckung des österreichischen Wesens bemüht hatte, nachzuweisen, dass die Österreicher Deutsche seien. Als Student hatte ich einige Male die Ehre, an einem literarischen Kränzchen in Salzburg teilzunehmen, zu dem eine liebenswürdige junge aristokratische Dame einzuladen pflegte. Mehrere schöngeistige Menschen, zu denen auch ich mich damals zählte, saßen um einen Tisch herum und lasen einander Texte aus der österreichischen Literatur vor. Auf diese Weise kam es dazu, dass ich den Text Hofmannsthals vorzulesen hatte, in welchem von der deutschen Wesensart des Österreichers die Rede war. Der Autor betonte darin, dass nicht nur am Rhein, sondern auch am Donaustrome in den Adern der Menschen deutsches Blut rolle. Ich fand das sehr komisch und bekam einen Lachkrampf, der mehrere Minuten dauerte. Damit verscherzte ich mir die Gunst der Gastgeberin, und ich wurde hinfort von der literarischen Tafelrunde ausgeschlossen.
Die Identität einer Person, eines Stammes, einer Nation oder einer Kultur ist nichts Angeborenes und nichts Feststehendes, sie ist vielmehr erworben und in fortwährender Entwicklung begriffen. Dabei spielen historische Zufälle eine beträchtliche Rolle. Wir alle sind geformt von unserem Hintergrund, von Familie, Gesellschaftsschicht, Religion und Wirtschaft, vom Staat, in dem wir leben, von der uns umgebenden Kultur und von den verwirrten und verwirrenden Wegen der Geschichte. Aber obwohl das Meiste von außen an uns herangetragen wird, können wir mitunter an der Bildung unserer Identität mitarbeiten und ihre Entwicklung beeinflussen. Manchmal haben wir sogar die Gelegenheit, zwischen verschiedenen Identitätsangeboten zu wählen. Menschen, die in ein anderes Land auswandern, tun dies, und in der österreichisch-ungarischen Monarchie hatten nicht nur Zuwanderer, sondern im Grunde alle unter Habsburg lebenden Menschen die Wahl zwischen mehreren Identitäten. So befanden sich zum Beispiel unter den Vorfahren meiner Großmutter väterlicherseits zu etwa gleichen Teilen Deutsche und Kroaten. Meine Großmutter hatte braune Augen und hervorstehende slawische Backenknochen und sprach gleich gut deutsch und kroatisch, aber sie wurde nicht müde, aller Welt zu verkünden, dass unsere Familie „rein deutsch” sei. Sie hatte sich bewusst für die Identität entschieden, die in dem Vielvölkerstaat als die «bessere» galt. Die österreichisch-ungarische Bürokratie ordnete die Bewohner des Habsburgerreichs verschiedenen Nationalitäten zu. Welcher Nationalität man angehörte, hing von der zu Hause gesprochenen Sprache ab. Sprach man deutsch, war man „Deutscher“, sprach man tschechisch, war man „Tscheche“ usw. Indem sich die Familie meiner Großmutter für die deutsche Sprache entschied, tat sie, was viele taten, die gesellschaftlich aufsteigen und ihre Karriere fördern wollten. Auch die meisten in Österreich-Ungarn lebenden Juden, die sich in das soziale Gefüge dieses Staates zu integrieren trachteten, orientierten sich an der von ihnen so bewunderten deutschen Kultur, die gewissermaßen die Leitkultur der Monarchie war. Gustav Mahler, Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Karl Kraus und Franz Kafka sind nur einige hervorragende Beispiele. In einem Brief an Milena behauptete Kafka, dass Deutsch zwar seine „Muttersprache” und für ihn deshalb „natürlich”, das Tschechische ihm aber „viel herzlicher” sei. Wenn man ihm das abnimmt, ist es doch merkwürdig, dass er nichts in der tschechischen Sprache geschrieben hat. Ich erinnere mich an einen Besuch eines Museums über tschechische Literatur in Prag im Jahre 1966, also noch vor dem Prager Frühling. Ich suchte lange nach Informationen über Franz Kafka und stieß schließlich in einem abg...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titelblatt
  4. Urheberrecht
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Vorwort
  7. Kapitel 1 – Ein bedrohtes Wesen
  8. Kapitel 2 – Eine komplizierte Geschichte
  9. Kapitel 3 – Ein wildfremdes Ausland in Deutschland
  10. Kapitel 4 – Was für ein Volk?
  11. Kapitel 5 – Symbole und Rituale
  12. Kapitel 6 – Geschichte und Mythos
  13. Kapitel 7 – Mythen gesucht
  14. Kapitel 8 – Der Mythos des Reichs
  15. Bibliographie
  16. Personenregister