Denken und Sein
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Neue Essays

  1. 292 Seiten
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Über dieses Buch

Die Essaysammlung "Denken und Sein" stellt den Versuch einer philosophischen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung dar. Sie zentriert sich um Probleme der Selbst- und Welterkenntnis und lotet deren moralische und politische Implikationen aus. Vor allem wendet sich der Autor gegen Formen der Identitätsphilosophie, die Ungleiches gleichmachen wollen. Ungelöste Fragen gehören ebenso zum Leben wie Widersprüche und Unvereinbarkeiten. Die essayistische Form entspricht der Offenheit eines Denkens, das sich seiner Subjektivität bewusst ist. Die Essays stehen in der Tradition der Aufklärung.

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Information

Verlag
tredition
Jahr
2020
ISBN
9783347023321
VI
Gehirn und Geist
Denkt das Gehirn?
Die Redeweise, dass das Gehirn fühlt, denkt, will, wahrnimmt, Bewusstsein hat oder gar die phänomenale Welt konstruiert, scheint tatsächlich irreführend, wie Bennett und Hacker behaupten. Dennoch würde ich Searle u.a. zustimmen, dass Fühlen, Denken, Wahrnehmen, Wollen und Bewusstsein kausal mit dem Gehirn verknüpft sind, ja, dass sie Eigenschaften des Gehirns sind. Wie sind diese beiden Perspektiven logisch vereinbar? Meines Erachtens ist es eine Tatsache, dass es im Gehirn Areale gibt, die aktiv sind, wenn wir denken, fühlen oder wahrnehmen; aber diese Aktivität ist mit der Existenz einer realen Körperumwelt verbunden. Ohne die Sinnesorgane, die Nervenbahnen und die Versorgungssysteme in einer ebenso realen sinnlich wahrnehmbaren Umwelt würden wir „durch“ das Gehirn auch nichts fühlen oder denken. Es ist in diesem Sinn ein metonymischer („pars pro toto”) Sprachgebrauch, wenn die „Leitungszentrale” mit dem ganzen Leistungssystem identifiziert wird, ähnlich der Redeweise, dass Angela Merkel 2015 eine Million Flüchtlinge ins Land gelassen habe. Merkel hat zwar die Anordnung getroffen, aber nicht persönlich die Flüchtlinge ins Land gelassen. Ohne das „System”, in dem Anordnungen oder Volitionen Wirksamkeit entfalten können, wären die Anordnungen wirkungslos. In Analogie kann man sagen: Ohne den Körper würde das Gehirn nicht existieren und wir auch nicht fühlen oder denken. Also ist das Gehirn eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung fürs Denken, Fühlen und Wahrnehmen. Zwar würde Merkel auch ohne Deutschland oder ohne die administrative Rolle in Deutschland existieren, aber man würde von ihr nicht mehr sagen können, sie hätte irgendetwas politisch Relevantes angeordnet. Was Merkel zuhause vor dem Spiegel macht, geht das Land nichts an. Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Wollen sind Eigenschaften des Gehirns in dem Sinn, dass sie Eigenschaften eines intakten menschlichen Organismus sind, zu dessen Funktionieren zwingend ein intaktes Gehirn gehört. Analog dazu kann man sagen, dass Merkel die Eigenschaft hat, Anordnungen geben zu können in dem Sinn, dass sie dies in der Rolle der Bundeskanzlerin tut. Als „Gehirn im Tank” hätten Gehirne nicht die Eigenschaft, denken zu können, sowenig wie Merkel als Privatperson die Eigenschaft hätte, politische Anordnungen zu treffen. Nun hat man bisher tatsächlich vom Menschen gesagt, er denkt, fühlt und will; solange man aber geglaubt hat, dass Menschen eine Seele haben, hat man ihr diese Eigenschaften zugeschrieben. Umso bemerkenswerter ist es, dass Aristoteles sprachkritisch bemerkt, dass man eher vom Menschen und nicht von der Seele die Fähigkeiten des Denkens und Fühlens aussagen könne. Das Gehirn ist wiederum mit dem ganzen Körper über Nervenbahnen verbunden, man kann es nicht isoliert betrachten, will man seine Funktionsweise verstehen; die Axone sind als Fortsätze der Nervenzellen direkt mit allen anderen Organen und Muskeln verbunden. Also kann man zurecht sagen, dass der ganze Körper Teil des Gehirns ist, weil die Axone Teile des Gehirns sind, die den gesamten Körper durchziehen. Unter einer gewissen Perspektive ist der Körper Teil des Gehirns, unter einer anderen ist es umgekehrt. Die philosophische Sprachkritik von Bennett/Hacker am „mereologischen Fehlschluss” stützt sich also ganz auf die Redeweise, dass das Gehirn – als isoliertes Organ – Teil des Körpers sei. Meines Erachtens ist die Isolierung des Gehirns ein untersuchungstechnischer Kniff. Deshalb muss man die Aussagen, die unmittelbar das Gehirn betreffen – Anatomie und Elemente betreffend – von den funktionalen und systemischen Eigenschaften trennen, die die Rolle des Gehirns im Kontext des ganzen Körpers betreffen. Ist es also plausibel, zu sagen, dass Bewusstsein eine Eigenschaft des Gehirns ist? Wenn man die Idee zugrunde legt, dass der Körper als organismische Einheit vom Gehirn zusammengehalten wird, kann man das durchaus so sagen: der Körper ist wach oder schläft. Wenn ich mein Körper bin, dann bin ich wach oder schlafe. In welchem Sinn bin ich mein Gehirn? In dem Sinn, in dem ich mein Körper bin. Die Sprache schlägt hier Kapriolen, denn sie isoliert das „Ich” von allen Eigenschaften, die sich das „Ich” selbst als Eigenschaft oder Eigentum zuschreibt: mein Herz, mein Körper, meine Biografie, mein Gehirn, meine Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen… Am Ende schrumpft das „Ich” zu einem eigenschafts- und ausdehnungslosen Punkt zusammen, der einfach nur die Sprecherperspektive kennzeichnet. Hier taucht das Problem auf, dass Sprache ein soziales Phänomen ist, das durch Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen entsteht. In diesem Kontext bedeutet das Personalpronomen „ich” die Sprecherperspektive im Unterschied zu anderen Sprechern. Das „Ich” ist in diesem Sinn auch nur eine sprachliche Fiktion und keine definierbare Entität; zumal ja jeder Sprecher von sich „ich” sagt. Diese Redeweise erzwingt, wenn man sie ontologisch ernstnimmt, die Annahme einer metaphysischen Entität, die mit nichts Empirischem identisch wäre. Insofern sind die „Seele” oder Kants „transzendentales Subjekt” eine sprachliche Fiktion, da man die soziale, interaktionale Rolle der Personalpronomina verkennt. Es gibt auch keine „Personen” in einem ontologischen Sinn, sondern tatsächlich nur menschliche Körper, die fühlen, denken, sprechen können, die sich selbst als „ich” bezeichnen, ihr Gegenüber als „du” und die sich wechselseitig Personenstatus ab- oder zusprechen. Das Problem ist das egozentrische mentale Vokabular. Alle mentalen Prädikate – fühlen, wahrnehmen, denken etc. – sind auf das „Ich” als Agenten bezogen. Das „Ich” ist aber mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein verbunden. Zugleich ist das „Ich” jener ausdehnungslose Punkt… Ich bin mir meiner bewusst als derjenige, der fühlt, denkt, wahrnimmt im Unterschied zu jemand anderes, der denkt. Mein Selbstbewusstsein ist kein substantielles, sondern ein relationales, kein absolutes, sondern ein differentielles. Fakt ist, dass wir nicht sagen können, dass Selbstbewusstsein das Bewusstsein ist, das das Gehirn von sich selbst hat. Kein Mensch hat spontan einen bewussten introspektiven Zugang zu seinen materiellen Gehirnprozessen. Wenn wir das Gehirn untersuchen, dann sehen wir keine Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, sondern eben nur organische Materie. Gedanken kann man nur denken, Gefühle nur fühlen, Wahrnehmungen nur wahrnehmen. Das bedeutet aber auch nicht, dass es ein Vermögen des Denkens gibt, dessen Gegenstand Gedanken, ein Vermögen des Fühlens gibt, dessen Gegenstand Gefühle oder ein Vermögen des Wahrnehmens gibt, dessen Gegenstand Wahrnehmungen wären. Ich fühle Liebe zu meiner Frau, ich denke an sprachphilosophische Probleme der Neurobiologie, ich nehme eine Kaffeetasse auf dem Fensterbrett in meinem Arbeitszimmer wahr. Ich weiß vom Gehirn nur aus zweiter, dritter Hand. Als denkendes, fühlendes Lebewesen lebe ich in meinen Gefühlen, Gedanken, ja auch in meiner Sprache. Die Tatsachen, die sich auf das Gehirn beziehen, sind empirische Entdeckungen. In diesem Sinn kann auch entdeckt werden, dass spezielle Areale meines Gehirns dafür zuständig sind, dass ich schreibe, „dass spezielle Areale meines Gehirns dafür zuständig sind, dass ich schreibe…. Dieser scheinbare Zirkel basiert auf der Konfundierung von Wirk- und Entdeckungszusammenhang. Tatsächlich steuern (Wirkung) bestimmte Gehirnareale den Satz, dass (Entdeckung) bestimmte Hirnareale diesen Satz steuern. Dann – wenn wir entdecken, wer denkt - wäre die sprachliche Konzeptualisierung meiner selbst und meiner Welt ein Anachronismus. Das wäre auch nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sich die Sprachen im Laufe von Jahrtausenden entwickelt haben. Nun muss man aber bedenken: mein Gehirn sieht sich offenbar selbst als Ich, das sich als seine eigene Eigenschaft betrachtet. Hacker/Bennett ist der Vorwurf zu machen, dass Sprachregeln als logische Regeln genommen werden, die den Sinn von Aussagen „konstituieren”. Die Sprachen sind aber nicht das Maß der Dinge, man kann durchaus Sachverhalte und Phänomene entdecken, die alle Sprachregeln außer Kraft setzen. Genauso wie die religiöse Rede oder die Rede vom Unbewussten, die Rede von Völkern und Staaten als Akteure der Geschichte zur Normalsprache gehören, weil sie irgendwann einmal akzeptiert und etabliert wurden, so kann es auch irgendwann zur Normalsprache gehören, dass Gehirnteile als Sitz des Ich-Bewusstseins betrachtet werden. Wer die sogenannte Normalsprache zum Maß aller Dinge macht, verabsolutiert die Semantik der verflossenen Jahrtausende und leugnet den Sprachwandel, der eben auch einen Wandeln des Denkens, Erkennens, Fühlens und Wollens wiederspiegelt. Die semantischen Netze sind keine transzendentalen, apriorischen Koordinaten, die unsere Erfahrung und Bezugnahmen ein für alle Mal festlegen. Wir könnten durchaus entdecken, dass ein vergleichsweise kleiner Zellverband „Ich-Bewusstsein” hervorbringt, wenn man die Funktion dieses Verbandes ein- und ausschalten würde. So ungefähr geschieht es auch, wenn wir einschlafen und erwachen. Der Kartesianismus – in den zwei Varianten: Geist vs. Körper und Gehirn vs. Körper – stellt einfach nur eine sprachliche Verlegenheit dar, weil man eben das Ich nicht lokalisieren kann und folglich auch nicht das „ich denke”, „ich fühle”, „ich sehe”, so dass man es früher mit der körperlosen Seele bzw. dem körperlosen Geist und heute mit dem isolierten Gehirn oder isolierten Gehirnteilen in Verbindung bringt. Es ist zwar richtig, dass wir es gewohnt sind, zu sagen, dass nur Menschen als Lebewesen denken, fühlen, wahrnehmen, aber was bleibt vom Menschen übrig, wenn man das „verkörperte Gehirn” wegstreicht? Wir sagen nicht, dass ein Mensch mit seinem Körper identisch sei, weil uns das vor sprachliche Schwierigkeiten stellt: Wir könnten nicht mehr sagen, wir denken an Hans (und nicht an seinen Körper) oder Hans könnte nicht mehr sagen, er fühle sich in seinem Körper unwohl. Tatsächlich sind das alles irreführende Redewendungen. Personen treffen auch keine Entscheidungen, denken oder fühlen, weil Personen eben philosophische Konstrukte sind. Menschen denken, wollen, fühlen, aber wenn man sagt, sie denken mittels ihres Gehirns oder sehen mittels ihrer Augen, sie gehen mittels ihrer Füße usw., sie machen also irgendetwas mittels ihres Körpers, dann verrät dieser Sprachgebrauch eben ein veraltetes Bild vom Menschen: er benutzt seinen Körper als Mittel. Wenn aber der Körper nur Mittel des Menschen ist – er denkt mit dem Kopf, fühlt mit dem Herzen etc. -, dann frage ich mich, wer dieser ominöse Mensch ist, er muss ja etwas von seinem Körper Verschiedenes sein. Tatsächlich scheint es genauso zwingend zu sein, dass der Mensch mit seinem Körper identisch sei, denn alle Kenntnis vom Menschen ist direkt oder indirekt an seine physische Existenz gebunden. Ich bin mein Körper, auch dann, wenn das Ich-Bewusstsein im Gehirn entsteht, weil das Gehirn mit dem ganzen Körper verbunden ist. Aber die Analogie hat Grenzen, denn schließlich ist das Herz über die Blutbahnen auch mit dem ganzen Körper verbunden, dennoch würde man nicht sagen, dass das Herz mit dem ganzen Körper identisch wäre. Das Gehirn hat zwar Nervenbahnen im ganzen Körper, dennoch ist es selbst ja etwas anderes. Das ist vertrackt. Man muss sich also eher über die Begrifflichkeiten Gedanken machen. Warum glauben wir, dass es so wichtig sei, den Ort des Bewusstseins, des Ichs zu bestimmen? Auch die Frage der Identität spielt hier hinein. Bin ich mein Gehirn? Bin ich ein kleiner Abschnitt meines Gehirns, wenn sich herausstellt, dass in einem bestimmten Hirnbereich Ich-Bewusstsein erzeugt wird? Ist das Gehirn ebenso ein Organ wie das Herz oder der Magen? Aber was ist materiell an Gefühlen und Gedanken? Man muss schon sagen, dass Denken und Fühlen auch materielle Qualitäten haben. Immerhin haben sie kausale Wirkungen, was ein Beweis für ihre physikalische Realität ist. Wenn ich etwas fühle oder denke, dann hat das Handlungen zur Folge und wenn es auch nur sprachliche Äußerungen sind. Natürlich haben Hacker und Bennett andererseits auch Recht: Wie machen wir das, was wir beobachten, begreiflich? Wie beschreiben wir das, was wir erkennen? Wir können eben räumliche und zeitliche Tatsachen beschreiben, aber sobald es komplexer wird, fangen wir an zu dichten. Dennetts Idee ist jedoch auch nachvollziehbar: Bewusstsein evolutionär verstanden muss doch Vorstufen haben. Also warum nicht protobewusste Funktionen annehmen? Das Rätsel des Bewusstseins besteht darin, dass Wahrnehmung, Gefühle, Erinnerungen, Fantasien und Gedanken von anderer Art zu sein scheinen als ihre Inhalte, Gegenstände. Überhaupt diese Unterscheidung lässt schon aufhorchen: Wieso haben Gefühle einen Inhalt? Haben sie denn eine Form? Das geht auf Brentano und Husserl zurück: alle Bewusstseins-Erlebnisse sind intentionale Akte in einem bestimmten Modus (sehen, riechen, spüren, eifersüchtig sein, lieben, wollen….) mit einem bestimmten Inhalt (einen Hasen sehen, Kaffee riechen, auf einen berühmten Schriftsteller eifersüchtig sein, eine Frau lieben, einen Beruf wollen…). Diese mentalen Ereignisse – ein Gedanke, eine Wahrnehmung, ein Gefühl - scheinen selbst keine physischen, raum-zeitlichen Qualitäten zu haben, sondern Qualitäten anderer Art: sogenannte Empfindungsqualitäten. Ein Aspekt dieses Rätsels ist, dass unser ganzes Wissen von der physischen Realität in der Wahrnehmung derselben mittels eines physischen Organs zu bestehen scheint, des Gehirns. Die sinnliche Wahrnehmung kommt über komplizierte Mechanismen zustande, denen selbst keine Wahrnehmungsqualitäten anhaften. Es stellt sich dann die Frage, wer oder was im Gehirn nimmt überhaupt wahr, fühlt, denkt? Wo sitzt das Ich, das sich seiner selbst bewusst ist und offenbar weiß, dass es fühlt, denkt, wahrnimmt? Untersucht man das Gehirn, dann findet man keinen „Humunculus”, man findet aber auch keinen Sehvorgang, kein Schmerzempfinden, keine Erinnerungen. Ich sehe einen Baum, dabei meine ich, dass ich einen Baum sehe, dass dieser Baum tatsächlich da hinten in meinem Garten steht; aber das Sehen ist kein Baum; das Meinen ist ein Zustand meines Gehirns, genauso wie das Sehen. Existiert der Baum in meinem Kopf? Nein, er ist da draußen. Das kann man doch sehen! Andere Menschen bestätigen mir das. Selbst Tiere, die ich beobachten kann, scheinen den Baum wahrzunehmen. So klettern Käfer auf ihm herum, so setzen sich Meisen auf seine Zweige und singen, so hüpft ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Ich sehe keinen Baum, sagt dagegen die Wissenschaft. Mein Gehirn interpretiert sensorische Informationen als Baum. Lichteinfall bestimmter Frequenz wird als Farbe und Form gedeutet. Frühere Erfahrungen und Erwartungen veranlassen bestimmte Hirnareale und die Sprachzentren dazu, meine Sprechwerkzeuge in Gang zu setzen oder „inneres Sprechen” zu simulieren und zu sagen oder zu denken, dass ich einen Baum sehe. Dabei sind es meine Gehirnteile und Sprechwerkzeuge, wobei ich nicht weiß, was oder wer dies „Ich” ist. Jedenfalls bin ich es gewohnt, zu sagen, ich sehe oder höre dies oder jenes, während die Wissenschaft und Philosophie mir aber haarklein erklärt, dass all das nicht sein könne. Ich höre nämlich auch keine Vögel. Schallwellen versetzen Hammer, Amboss und Steigbügel in Schwingung, auch diese Impulse werden in elektrische Spikes umgewandelt, die im auditiven Kortex als Laute wahrgenommen werden. Ich glaube zu wissen, dass der Baum Licht bestimmter Frequenz reflektiert, das durch meine Pupillen auf die Retina trifft, dann über die Sehnerven einen komplizierten Weg durchs Gehirn zurücklegt, um schließlich auf dem Sehrindenfeld V ein analoges Baummuster feuernder Neurone zu erzeugen. Selbst wenn ich das alles ungefähr weiß oder zu wissen glaube, kann ich mir nicht wirklich vorstellen, wie es sein kann, dass ICH ETWAS SEHE. Zugleich bin ich aber zutiefst davon überzeugt, dass es sich um alltägliche, triviale, erklärbare Phänomene handelt. Ich würde eine Erklärung vermutlich auch dann nicht annehmen, wenn man sie mir geben würde. Das Rätsel verschwindet nicht.
Handelt das Gehirn?
Ein Einwand gegen die vorwiegend unbewusste Handlungssteuerung durch das limbische System lautet: Handeln ist ein wissensbasiertes bewusstes Verhalten, das dem Zweck dient, Ziele zu erreichen. Wenn ich eine beliebige Alltagshandlung verrichte, dann weiß ich in der Regel um Mittel und Zwecke meines Tuns. Daraus kann schon geschlossen werden, dass ich der beste Interpret meines Handelns bin, da ich in der Regel weiß, was ich aus welchem Grund tue. Zwar mögen mir die Details meiner Handlungsplanung nicht bewusst sein, weil sie vielfach schon automatisiert verlaufen. Aber da ich sie zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst gelernt habe, kann ich sie theoretisch wieder erinnern. Das wird auch daran deutlich, dass ich für die meisten Alltagshandlungen Gründe angeben kann, die zugleich mein H...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrechte
  4. Fragen über Fragen
  5. I: Selbstbesinnung und Selbstbestimmung
  6. II: „Notwendige Illusionen“
  7. III: Probleme des Humanismus
  8. IV: Die Freiheit der anderen
  9. V: Sprachliche Fiktionen
  10. VI: Gehirn und Geist
  11. VII: Der Nihilismus der Sinnfelder
  12. Inhalt