II
WELT DER ÜBERLIEFERUNG
Das Mysterium des hypostatischen Antlitzes
Man stößt bei muslimischen Verfassern auf die zumindest überraschende Auffassung, kein »Gesandter« oder Religionsgründer habe Gott so sehr geliebt wie der Prophet des Islam, und keiner sei von Gott so sehr geliebt worden wie er. Schlicht eine Frage der Voreingenommenheit, der Unkenntnis, des Mangels an Vorstellungsvermögen, wird man sagen; de facto ist dies richtig, aber es bedarf einer weiteren Erklärung, denn die genannte Auffassung wird – als religiöse Gesinnung oder gewissermaßen sittliche Handlung – von einem Hintergrund begünstigt, der über den Bereich rein menschlichen Beliebens hinausgeht.
Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt darin, dass es nicht nur einen persönlichen Gott gibt – der sozusagen das »menschliche« oder »vermenschlichte Antlitz« der überpersönlichen Gottheit ist –, sondern dass es auch, unterhalb und als Wirkungsweise dieser ersten hypostatischen Stufe, das gibt, was wir das »konfessionelle Antlitz« Gottes nennen könnten: Es ist dies das Antlitz, das Gott einer bestimmten Religion zuwendet, der Blick, den er auf sie wirft, ohne den sie gar nicht bestehen könnte. Anders gesagt: Das »menschliche« oder »persönliche« Antlitz Gottes nimmt verschiedenartige Formen an, die ebenso vielen verschiedenen religiösen, konfessionellen oder geistigen Anschauungen entsprechen, so dass man sagen könnte, jede Religion habe ihren eigenen Gott, ohne damit zu leugnen, dass es nur einen Gott gibt, und dass diese Einheit jederzeit den Schleier der Vielgestaltigkeit zerreißen kann. Die Tatsache, dass der Gott des Islam sich anders als der Gott des Christentums kundgibt – oder kundgeben kann –, kann nichts daran ändern, dass Christen und Muslime im Wesentlichen denselben Gott anbeten.
Das göttliche Sein enthält alle geistigen Möglichkeiten und folglich alle religiösen und mystischen Urbilder; und wenn es diese ins Dasein ausgestrahlt hat, betrachtet es jedes von ihnen mit einem besonderen und passenden Blick; in einem ähnlichen Sinn heißt es, die Engel sprächen zu jedem Menschen in der ihm passenden Sprache. Dieser »Blick« oder dieses »Antlitz« ist eine Art von neuer »göttlicher Subjektivität«, die derjenigen Gottes als solchem untergeordnet ist und die diese auf eine besondere Weise an den Menschen übermittelt; genauso strahlt das farblose Licht die Farben des Regenbogens aus, ohne aufzuhören, Licht zu sein; und genauso ruft das in Eis verwandelte Wasser Kristallbildungen und folglich unterschiedliche und sogar gegensätzliche Erscheinungsformen hervor. Wenn es Konflikte zwischen Religionen, Konfessionen und geistigen Wegen gibt, dann darum, weil es einen Wettstreit zwischen den Urbildern gibt: Diese können sich zwar nicht von Grund auf widersprechen – der scheinbare Gegensatz der Farben Rot und Grün löst sich ja in ihrem farblosen Ursprung auf –, sie schließen sich aber dennoch gegenseitig aus, von ihrer naturgemäß formlosen und ins reine Licht mündenden jeweiligen Mitte abgesehen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass das Antlitz oder der Blick der Hypostase nicht einfach ein abstrakter Begriff ist, sondern im Gegenteil eine konkrete göttliche Selbstbestimmung im Hinblick auf ein bestimmtes menschliches Gefäß, als Einzelnen oder als Gemeinschaft; und dass es eine ganz eigene Welt mit ihren eigenen Gesetzen, ihren eigenen Möglichkeiten und ihren eigenen Wundern in die menschliche Mâyâ einstrahlt. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Übergang zu einer anderen Religion der Änderung eines Planeten gleichkommt; und eine fremde Religion als eine Erscheinung verstehen, heißt vor allem begreifen, dass sie ein Planet und nicht einfach nur ein Erdteil ist, obwohl es sicherlich Gradunterschiede in der Entfernung oder im Unterschied und demzufolge im Gefühl der Unvertrautheit gibt, das eine fremde religiöse Atmosphäre wachrufen kann.
Es gibt nur eine Sonne, sie sieht aber die Planeten sozusagen mit verschiedenen Blicken an und wird selbst je nach deren Lage im Raum auf unterschiedliche Weise gesehen; ein zu einfaches Bild vielleicht, aber in jedem Fall hinlänglich geeignet für den Punkt, auf den es hier ankommt.
Exoterisch wird man – in muslimischer Redeweise – sagen, Gott habe Mohammed gesandt, um den Islam zu begründen; esoterisch könnte man sagen, das Urbild in divinis der »islamischen Möglichkeit« habe diese ins Dasein ausgestrahlt und sei dadurch für diese Ausstrahlung Gott schlechthin geworden; eine Ausstrahlung, die nicht von Gott an sich getrennt ist, sondern die ihn in gewisser Weise »aussondert« und dabei trotzdem dem menschlichen Gefäß alle Eigenschaften und Wirkungsweisen Gottes an sich mitteilt, aber eben dem »Stil« gemäß, den diese Aussonderung erfordert.
Jedes göttliche Antlitz wirkt mittels eines Leitgedankens, der es beschreibt und der alles ist: Wenn man im christlichen Umfeld »Christus« sagt, hat man alles gesagt; das Mysterium der erlösenden Kundgabe hat Vorrang vor allem, es gibt nur eine entscheidende Wahrheit, nämlich dass »Gott Mensch geworden ist, auf dass der Mensch Gott werde«. Die »hypostatische Sonderung« – das »göttliche Antlitz«, welches diesen Anblick der »Gott-Mensch-Beziehung« in die Welt ausgestrahlt hat –, dieses hypostatische Antlitz steht in gewisser Weise für alle Folgeerscheinungen ein, die das Urbild in der menschlichen Welt auslöst, einschließlich jener ganz natürlichen Erscheinung der religiösen Voreingenommenheit. Dennoch: Selbst in dieser Begrenzung hört Gott nie auf, Gott zu sein – der einzige Gott, den es gibt –, und er lässt nicht zu, dass eine bestimmte seiner Ausstrahlungen den vollständigen Sieg erringt. Er widerspricht dieser, sei es ab extra, sei es ab intra, das heißt, entweder durch eine andere Religion oder durch die Sophia perennis; Spiritus autem ubi vult spirat.
Im muslimischen Umfeld ist der Leitgedanke – der sozusagen seinsmäßig unumstößliche Gedanke – der Satz vom einen Gott; wer »Allâh« sagt, hat alles gesagt; dieses Wort verschließt gleichsam von Grund auf die Tür zu jedem Streitgespräch. Diese Unbedingtheit springt zwangsläufig auf den Gesandten über und erlaubt es – guten Gewissens und im Angesicht des entsprechenden »hypostatischen Antlitzes« – zu behaupten, dass keiner von Allâh mehr geliebt werde als der Gesandte Allâhs, das heißt, das Sprachrohr des Leitgedankens, den dieser Name ausdrückt und kundtut. Wir haben hier ein Beispiel dafür, was wir des öfteren das »verhältnismäßig Unbedingte« genannt haben – ein sicherlich paradoxer, aber auf der Ebene der metaphysischen Untersuchung unerlässlicher Ausdruck.
Vom Leitgedanken haben wir gesprochen, und wir wollen ihn näher bestimmen: Im Christentum ist es die strahlende Erscheinung des einzigartigen Gott-Menschen, unerreichbar und a fortiori unübertrefflich, allein imstande, die Seelen zu erlösen; bei den Muslimen ist es die überwältigende Offenkundigkeit des Unbedingten, des einzigen Urgrundes, unteilbar, unantastbar und unbesiegbar. Die Gewissheit des Unbedingten ist unbedingt, so wie »die Lehre von der Einheit einzig ist« (at-Tawhîdu wâhid); und wie der Glaube an den Erlöser erlösend ist.
Jede Religion ist ein Lehrgebäude, das nicht nur dogmatisch, mythologisch und methodisch ist, sondern auch kosmisch und eschatologisch. Man kann den Wert einer Glaubenslehre nicht mit den Maßstäben einer andern messen; was der offensichtlichen Gleichartigkeit ihres gemeinsamen Wesens jedoch nicht widerspricht.
Als Religion ist das Christentum ein Upâya – ein »heilbringender Kunstgriff«, mithin ein formales Lehrgebäude unter anderen formalen Lehrgebäuden –, und die Göttlichkeit des Gesandten kann daran nichts ändern; »Gott allein ist gut«, hat Christus gesagt. Die Begrenztheit der christlichen Glaubenslehre zeigt sich sofort in ihrer axiomatischen Definition des Menschen, der »Sünder« ist und der sich Gott nur auf dieser Grundlage annähern kann, daher die stillschweigende oder ausdrückliche Ablehnung jeglicher Gnosis; der Mensch ist aber auch »Kind Gottes«, wobei Gott »Vater« ist, und weiter: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«; dies deutet auf eine Esoterik der Liebe hin und richtet sich als solche an eine Gemeinschaft geistiger Menschen, nicht aber an eine Gesamtheit von Menschen. Tatsächlich hat die legalistische Anwendung dieser »Weisheit der Heiligen« eine gefährliche Spaltung in der Gesellschaft hervorgerufen, wie es in der Geschichte der Christenheit die versteckte Spannung – oder der anhaltende Zwist – zwischen der Priesterschaft und dem Laientum zeigt, vor allem in der katholischen Welt.
Das den Islam lenkende »hypostatische Antlitz« hat sich gegen diese Gesamtsicht »gewehrt«: nicht nur gegen die Gefahr der Spaltung und des Ungleichgewichts, sondern auch und a priori gegen die Vorstellung von der »Sündenverfallenheit des Menschen« und gegen die der »Menschwerdung Gottes«; diese zweite Vorstellung hat die trinitarische Theologie geprägt, oder genauer, die Gleichsetzung des Anblickes der Dreifaltigkeit mit dem Unbedingten, woher ein »Christozentrismus« kommt, der de facto alles beherrscht. Zum einen hat der Islam – wenn man so sagen darf –die ursprüngliche Bedeutung Gottes und seine wesenhafte Transzendenz zurückgebracht, und zum anderen hat er für den Menschen sein »übernatürlich natürliches« Priesteramt wiederhergestellt und damit die gesamte Gemeinschaft geheiligt.
Für den Islam ist Gott nicht »Vater« – zumindest nicht a priori und für jeden –, sondern er ist der »Herr«, wie dies einer ganzen Gemeinschaft gegenüber angemessen ist; der Mensch ist »Sklave« – und nicht »Kind«, Letzteres würde für muslimisches Empfinden bereits eine mystische Nähe voraussetzen –, er ist aber auch, dank seiner menschlichen Würde, »Stellvertreter« auf Erden und damit Bevollmächtigter Gottes. Dieser Sichtweise entsprechend ist die Gottesliebe in dem Maße vortrefflich, wie sie sich auf die Gebote des Islam gründet; nun liebt Gott in vortrefflichster Weise den »Sklaven-Stellvertreter«, den Spiegel der göttlichen Einheit. Die Muslime können nicht anders »denken« als im Rahmen ihres Lehrgebäudes; für sie ist Mohammed der »Diener« in höchster Vollendung, weil er – entsprechend der Vorstellung des »Herrn« – das »Sichniederwerfen« des Geschöpfs verkörpert, und er ist auch der »Stellvertreter« in höchster Vollendung, weil er eine umfassende Rechtsordnung verkörpert und auf dieser Grundlage das zugleich geistliche wie weltliche Amt des Monarchen ausübt.
Gott kann sich nicht selbst widersprechen, das ist offensichtlich, aber er kann verschiedene Dimensionen seines einen Wesens offenbaren – weil die Verschiedenheit durch Mâyâ verursacht wird. Die christliche Lehre, die dem »Fleisch«, der »Natur« und dem Diesseits feindlich gesinnt ist, schließt unerbittlich jeden sexuellen Yoga oder jeden »Tantrismus« aus, wohingegen die islamische Lehre, die der natürlichen Regel und dem Gleichgewicht wohlwollend gegenübersteht, dazu neigt, das zu heiligen, was uns die zugleich weise und freigebige Natur anbietet; denn der Mensch ist nicht nur da, um die an sich unschuldigen Gegebenheiten seiner Umgebung und seines Lebens zu beherrschen und sich über sie zu erheben, er ist auch da, um sie zu adeln und zu heiligen, kurz, um sie in seine »senkrechte Stellung«, seine Berufung und seinen Weg, einzufügen. Es gibt nicht nur eine Mystik des Opfers, es gibt auch eine Mystik der Dankbarkeit.
Gottes hypostatische Antlitze »verkörpern« verschiedene Urbilder; darum finden sich auch beim Begriff der »Gottesliebe« – wir haben darauf angespielt – Auswirkungen und Unterscheidungen: Aufopfernd in christlicher Sicht, will die gleiche Liebe in islamischer Sicht »einschließender« sein, ohne deswegen die Askese zu vernachlässigen, da ja die Gottesliebe alle Weisen, die das Dasein uns auferlegt, verwirklichen soll. Man muss diesem Spiel der Urbilder Rechnung tragen, wenn man auf eine konfessionelle Besitzergreifung der Liebe Gottes – und a priori von Gott selbst – stößt, und man muss verstehen, dass das hypostatische Antlitz, auf das sich diese Besitzergreifung bezieht, notwendigerweise für Meinungen oder Gefühle bürgt, die der von ihm geschaffenen Welt mit ihren Möglichkeiten entsprechen; selbst auf die Gefahr hin, gelegentlich die Schale der Sinnbildlichkeit aufzubrechen und – auf äußerst paradoxe Art und Weise – jene Quintessenz kundzutun, welche die »immer und überall« gültige Wahrheit ist. Jede Religion kommt von Gott und »verwickelt« Gott aus diesem Grunde – bis zu einem gewissen Grad und in gewisser Beziehung – in den Rahmen dieses oder jenes Glaubens; aber Gott in seiner Aseität ist deswegen noch kein Anhänger einer bestimmten Glaubensrichtung; quod absit.
Man könnte auch sagen, Gott wirke auf der Ebene der vielgestaltigen Offenbarung durch Gegensätzlichkeit: Er offenbart die Wahrheit nicht gleich in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, sondern legt nach und nach oder hier und da einander widersprechende Gesichtspunkte vor,9 von denen jeder sich in seiner Mitte auf die eine und allumfassende Wahrheit hin öffnet; und diese enthüllt sich nicht umsonst, sie stellt Ansprüche, die letzten Endes den ganzen Menschen verpflichten.
Ganz unbestritten hat – sogar die unausgesprochene – Behauptung, es gebe einen religiösen Gesandten, der vollkommener sei als Christus, etwas zutiefst Anstoß Erregendes an sich; aber man darf nicht übersehen, dass, vom muslimischen Standpunkt aus, die Behauptung, Jesus sei Gott kraft einer echten Dreifaltigkeit – derart, dass in gewisser Weise Gott Jesus sei –, mindestens genauso Anstoß erregend ist wie es, außerhalb dieses Standpunktes, die vorherige Auffassung ist. Und ähnlich ist für einen Hindu oder einen Buddhisten die Behauptung, dass ihre jeweiligen Offenbarungen nur einen »menschlichen« oder »natürlichen« Ursprung hätten, dass sie also nichts »Übernatürliches« an sich hätten, und dass nur das Christentum den Menschen retten könne – diese Behauptung oder diese Auffassung, sagen wir, ist ihnen genauso unerträglich, wie es den Christen die Unterschätzung Christi ist. Genauso ist es auch den Juden – und übrigens auch den Muslimen – aufs tiefste zuwider, wenn sie hören, dass ein Henoch, ein Noah, ein Abraham, ein Moses, ein Elias nur durch Vermittlung von Jesus von Nazareth Zugang zum Paradies gefunden hätten, wo sie doch grundsätzlich das Eingreifen einer göttlichen Macht – wobei die »Gottesnamen« praktisch den Hypostasen gleichwertig sind –, folglich eines zeitlosen und übergeschichtlichen Logos anerkennen würden.
Alles in allem scheint uns die Vorstellung, dass ein bestimmter religiöser Gesandter Gott vollkommener geliebt haben soll als irgendein anderer oder alle anderen Gesandten, zumindest ein unnützer Luxus zu sein; im Islam – wo sie sogar bei einem der hervorragendsten Schriftsteller aufgetaucht ist – ergibt sie sich weder aus dem Koran noch aus der Sunna; sie ist also nichts als eine fromme Übertreibung. Es bleibt dahingestellt, ob im relig...