I. Konflikte verstehen
Benjamin Franklin war ein weiser Mann. Er erfand nicht nur den Blitzableiter und war einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, sondern gab seinen Mitmenschen schon vor 250 Jahren die Erkenntnis auf den Weg: „Es gibt drei Dinge, die extrem hart sind: Stahl, ein Diamant, und sich selbst kennen“. Sein Ratschlag war: „Beobachte alle Menschen, insbesondere Dich selbst.“3
Viele Menschen gehen davon aus, dass die anderen in etwa so funktionieren wie sie selbst. Menschen sind jedoch unterschiedlicher als wir meinen. Sie nehmen die Welt unterschiedlich wahr, bewerten die Dinge unterschiedlich und greifen auf unterschiedliche Erfahrungen zurück. Jeder und Jede lebt also gewissermaßen in der eigenen Realität. Aus der Unterschiedlichkeit heraus entstehen Konflikte, und die Unterschiedlichkeit erschwert es, Konflikte sachlich und zielgerichtet zu lösen.
Um einen Konflikt zu lösen (und unnötige Konflikte zu vermeiden), sollten Sie deshalb verstehen:
• wie Sie und andere Menschen die Welt wahrnehmen und Situationen bewerten,
• dass wir alle in verschiedenen Realitäten leben,
• dass Konflikte oft tieferliegenden Bedürfnissen entspringen,
• dass Menschen Konflikte als Bedrohung betrachten,
• wie Menschen auf Bedrohungen reagieren und
• dass Menschen mit Konflikten unterschiedlich umgehen.
1. Unsere Version des Konflikts ist nicht der Konflikt
Das Wichtigste in Kürze:
• Menschen bilden sich ihre Wirklichkeit aufgrund subjektiver Erfahrungen und Urteile. Diese „subjektive“ Wirklichkeit halten sie zugleich für objektiv und „wahr“. Sie bestimmt das Handeln.
• In einem Konflikt sollten Sie sich bewusst sein, dass Sie unter Umständen wichtige Dinge nicht wahrnehmen oder bewusst ausblenden.
• Ein Konflikt kann allein dadurch entstehen, dass Menschen etwas in eine Situation hineininterpretieren, was aus Sicht der anderen Seite überhaupt nicht so gemeint oder beabsichtigt war.
• Konflikte können sich aufschaukeln, weil beide Seiten der Meinung sind, dass die Ursache des Konflikts beim anderen zu suchen ist.
Wir leben alle in unserer eigenen Welt
Es gibt objektive Kriterien in unserer Welt, wie Tag und Nacht, Sauerstoff und Wasser, oder die Schwerkraft, wenn das teure Kristallglas im Zeitlupentempo auf den Boden fällt. Diese Dinge sind von allen gleich beobachtbar, und wenige werden behaupten, das Wasser fließe bergauf. Aber angenommen Sie werden Zeugin eines Verkehrsunfalls. Sie haben es ganz genau gesehen, der Mercedes hat dem anderen die Vorfahrt genommen, und dann war da noch diese Frau … Neben Ihnen stehen vier weitere Zeugen. Jeder und jede hat den Verkehrsunfall gesehen, aber einen anderen.
Oder ein anderes Beispiel: Sie haben den Auftrag, etwas zu organisieren. Zu diesem Zweck versenden Sie an sieben Beteiligte eine Mail, in der Sie glasklar festhalten, wer was, wann, wo zu tun hat. Kaum haben Sie die Mail verschickt, ruft schon der Erste an. Wie das denn jetzt genau mit der Aufteilung der Arbeit sei … Sie sind genervt. Ignorant. Zu faul, eine Mail genau durchzulesen! Stimmt vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn da ist noch etwas anderes.
Warum haben vier Menschen vier verschiedene Verkehrsunfälle gesehen, wenn doch einfach der eine in den anderen reingefahren ist? Und warum lesen trotz gleichen Inhalts sieben Menschen eine unterschiedliche Mail? Vielleicht kennen Sie den Film „Matrix“. Maschinen haben die Oberhand über die Menschen gewonnen und halten diese in einer computergesteuerten Scheinwelt, der Matrix, gefangen. Neo, ein junger Hacker, erfährt, dass die Welt, in der er zu leben glaubt, gar nicht besteht, sondern eine durch Computer simulierte Fiktion ist.
Wir leben zwar (hoffentlich) nicht in einer Science-Fiction-Welt. Aber wir leben, wie Neo, in unserer eigenen realen Welt. Die Betonung liegt hier auf unserer. Unsere Welt, so wie wir sie wahrnehmen, ist keine objektive Tatsache, sondern zu weiten Teilen ein persönliches Konstrukt, geprägt durch Erfahrungen, Persönlichkeit sowie verinnerlichte und ureigene Werte und Ziele. In dieser konstruktivistischen Sicht gibt es kein Richtig und kein Falsch, sondern nur ein „Anders“. So wie Menschen die Welt sehen und danach handeln, macht es in diesem Moment für sie Sinn. In einem Konflikt stoßen daher gewissermaßen „zwei Wirklichkeiten“ aufeinander. Und jeder und jede meint in der eigenen Wirklichkeit die Sache richtig zu sehen und somit „im Recht“ zu sein:
Kollege A denkt: „Ich setze mich sehr für das Team ein und arbeite dafür gerne mal die Mittagspause durch“. Kollege B. sieht das anders und sagt zu einem Freund: „Die Fertiggerichte, die A. immer anschleppt, verpesten das ganze Büro. Warum kann er nicht wie die anderen in die Kantine gehen, der Streber.“
Kollegin C. ist sehr darauf bedacht, die anderen nicht zu stören und geht für ihre Telefonate immer nach draußen. Kollege D. bekommt langsam die Krise: „Sie rennt für alles und jedes nach draußen. Das ständige Hin und Her macht mich noch verrückt“.
Kollege E. beklagt sich bei einem Bier über seinen Vorgesetzten: „Mein Chef hat einfach zu unklare Vorgaben. Ich muss ständig nachfragen.“
Der Vorgesetzte sieht die Sache anders: „Der E. sollte mehr nachdenken und nicht wegen jeder Kleinigkeit zu mir kommen“.
Die Interpretation der Dinge prägt unsere Wirklichkeit
Wir nehmen die Welt also nicht nur unterschiedlich wahr, sondern interpretieren erlebte Situationen auch unterschiedlich. Die Beschreibungen, die wir den Dingen geben, halten wir für real. Ein weiteres Beispiel:
Es ist Montagmorgen, die Woche hat noch nicht richtig angefangen, und schon geht es los. Ihre Kollegin Susi kommt außer sich zu Ihnen und muss sich erst einmal Luft verschaffen. Frau Merz, die Chefin, hat eine vage Bemerkung über den Fortschritt des Projektes gemacht, in das Sie beide involviert sind: „Wie hat sie das wohl gemeint?“, hyperventiliert Susi. „Ist sie mit meiner Leistung unzufrieden, mache ich zu wenig, hält sie mich für unzuverlässig? Mike stand übrigens daneben und hat es auch gehört.“ Oh je, denken Sie sich, das geht ja gut los. Sie beschließen, der Sache nachzugehen und fangen Mike am Kopierer ab: „Mike, wir haben ein Problem. Frau Merz kritisiert unser Projekt. Sie hat heute so eine Bemerkung gemacht. Du standst ja daneben…“. Mike schaut Sie leicht begriffsstutzig an. „Bemerkung? Was für eine Bemerkung? Ach so. Na ja, die Merz hatte wohl einen schlechten Start. Ärger mit ihrem neuen Freund (blinzelt verschwörerisch), wenn du weißt, was ich meine. Wenn sie was stört, wird sie es uns schon sagen.“
Probleme entstehen somit durch problemhafte Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen. Wenn ein Mitarbeiter sich den Besuch des Chefs als Kontrolle der eigenen Leistung erklärt, wird er damit ein Problem haben. Wenn der gleiche Mitarbeiter sich den Besuch damit erklärt, dass der Chef den Gedankenaustausch mit ihm schätzt, wird ihn das in seiner Arbeit motivieren. Es ist noch nicht geklärt, weshalb der Chef ins Büro kommt. Aber die Interpretation der Situation wird bereits bestimmen, wie sich der Mitarbeitende seinem Chef gegenüber verhalten wird.4
Vielleicht können Sie sich auch an eine Situation erinnern, in der Sie sich in etwas hineingesteigert haben. Wir sind subjektive Wesen mit individuellen Genen und Erfahrungen, daher ist es nur logisch, dass auch die Wirklichkeit, die wir erfahren, eine weitgehend subjektive ist. Dabei basiert unsere Wirklichkeit auf einer Abfolge von Ereignissen, wobei wir auf bestimmte Ereignisse besonderen Wert legen und diese als Ursache und Anlass für weitere Ereignisse betrachten. Die Dinge beeinflussen sich gegenseitig, und jeder steigt an einer anderen Stelle ein.
Lisa K. hat das Gespräch mit Thomas M., in dem es um seine Leistung im letzten Projekt geht, immer wieder hinausgezögert. M. gibt in ihren Augen zu schnell nach, wenn Probleme auftauchen, und kann keine klaren analytischen Entscheidungen treffen. Sie weiß, dass das Treffen schwierig und langwierig werden wird und sieht diesem mit Unbehagen entgegen.
Genauso geht es Thomas M. Er empfindet Lisa K. als ungeduldig und schwierig. Sie schneidet ihm das Wort ab, bevor er etwas ausführlicher erklären kann. Er fühlt sich in ihrer Gegenwart herabgesetzt und unbehaglich. Thomas M. wünscht sich, Lisa K. würde ihm genau erklären, was sie möchte und was nicht.
Das Gespräch verläuft nicht gut. Thomas M. fängt nach Meinung von Lisa K. bei Adam und Eva an, erzählt irgendwas vom Team und kommt nicht auf den Punkt. Je frustrierter K. wird, desto schneller und lauter redet sie und unterbricht M. Je gestresster M. dadurch wird, desto leiser wird er und verschließt sich. Lisa K. findet Thomas M. schwach und argumentiert noch mehr. Dies schüchtert Thomas M. zusätzlich ein, und er zieht sich immer mehr zurück.
Beide sehen die Ursache für das Problem im Verhalten des andern. Dabei beeinflussen sie sich gegenseitig, weshalb jede Seite ihren Anteil an dem Problem hat.
Wir sehen nicht das Offensichtliche
Schließlich interpretieren wir die Dinge nicht nur unterschiedlich, sondern es entgehen uns wesentliche Informationen rundherum, wenn wir uns stark auf eine Sache konzentrieren bzw. auf diese fokussiert sind. Wir bekommen den berühmten Tunnelblick und sehen nichts mehr links und rechts5, da unser Gehirn nur eine begrenzte Menge an Informationen verarbeiten kann. Was passiert, wenn wir uns stark auf eine Sache fokussieren, zeigt das sogenannte „Gorillaexperiment“. Eine Gruppe sah in einem Video ein Team von sechs Spielern, drei im weißen und drei im schwarzen T-Shirt, die mit einem orangen Ball spielten. Die Aufgabe bestand darin, die Anzahl Ballwechsel zu zählen oder, in der schwierigeren Version, die Anzahl geworfener und gedribbelter Bälle separat. Mitten im Film läuft eine Frau in einem Gorillakostüm von links nach rechts durch die Gruppe, welche ihre Aktivität unbeirrbar fortsetzt.6
Hätten Sie den Gorilla gesehen? Ja natürlich, werden Sie wahrscheinlich sagen, ein Gorilla ist ja kaum zu übersehen. Nun, ungefähr der Hälfte der Teilnehmenden war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Im Übrigen habe ich den Gorilla ebenfalls nicht bemerkt, als ich den Film das erste Mal sah. So wie im Gorillaexperiment ergeht es uns auch in Konflikten. Wir sind so auf jene Aspekte des Konflikts fokussiert, die uns selber betreffen oder berühren, dass uns wichtige Informationen links und rechts entgehen können.
Ein Konflikt ist somit subjektiv
Die Tatsache, dass wir nur begrenzt Informationen verarbeiten können und diese Informationen individuell bewerten, hat für die Entstehung und Lösung von Konflikten zwei Konsequenzen: Was Sie als Problem und seine Ursachen erkennen und insbesondere, welche Möglichkeiten Sie zur Lösung des Konflikts sehen, muss nicht das ganze Bild sein. Speziell unter Stress neigen Menschen dazu, nur noch einen Ausschnitt zu sehen. Und dieser Ausschnitt wird aufgrund der individuellen Veranlagungen und Erfahrungen unterschiedlich interpretiert. Vielleicht deckt sich diese Interpretation mit der Version Ihres Gegenübers, wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um zwei verschiedene Geschichten handelt. Keine dieser Versionen ist objektiv richtig oder falsch, sondern anders. Deshalb fängt die Lösung eines Konfliktes damit an, die eigene Version des Konflikts als eine Version von mehreren zu erkennen, und zu akzeptieren, dass es auch noch andere Versionen gibt. Die Lösung liegt nicht darin, an der eigenen Version als der einzig richtigen festzuhalten, sondern beide Versionen zu verstehen und daraus Gemeinsamkeiten herauszuschälen, mit denen beide in ihrer eigenen Version leben können.
Reflexion
Wenn Sie das nächste Mal eine Bemerkung ärgert, versuchen Sie das Gesagte erst wertfrei zu sehen. Wenn Ihr Gegenüber z. B. sagt: „Ja glaubst du wirklich, dass das so funktioniert?“, interpretieren Sie nicht gleich einen Vorwurf hinein, sondern überlegen Sie sich, ob Sie wirklich 100-prozentig von der Sache überzeugt sind. Dann fragen Sie nach, wie die Frage gemeint war.
2. Wenn verschiedene Persönlichkeiten aufeinandertreffen
Das Wichtigste in Kürze:
• Menschen nehmen die Welt unterschiedlich wahr und bewerten Dinge verschieden, sie gewinnen ihre Energie durch unterschiedliche Aktivitäten und organisieren ihre Arbeit und ihr Leben unterschiedlich. Wie sie dies tun, ist weitgehend vorgegeben.
• Die meisten Konflikte entstehen dadurch, dass Menschen Dinge verschieden wahrnehmen und das Wahrgenommene verschieden bewerten.
• Jeder Mensch hat eine sogenannte dominante und eine inferiore Ausprägung in seiner Persönlichkeit, also eine starke und eine schwache Seite. Wenn die dominante Seite eines Menschen auf die inferiore eines anderen Mensche...