Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl
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Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl

Im weiten Land der Seele, Band 1

  1. 380 Seiten
  2. German
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Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl

Im weiten Land der Seele, Band 1

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Über dieses Buch

Die Scham ist ein ganz wichtiges Gefühl. Sie regelt unseren Selbstwert und unser Sozialverhalten. Sie ist auch eine der unangenehmsten Emotionen, und wir können uns schwer von ihr befreien.In diesem Buch werden die vielfältigen Formen der Scham und der Schamabwehr erläutert und verständlich gemacht. Gezeigt wird auch, wie die Scham entsteht, von sehr früh an, und wie sie in unser Leben hineinwirkt, bis ins hohe Alter. Ein Schwerpunkt ist die pränatale Geschichte der Scham. Aktuelle und gesellschaftspolitische Einblicke vervollständigen das Bild dieses geheimnisvollen und vieldeutigen Gefühls. Viele Wege werden angeboten, wie wir uns aus den Fängen von krankmachenden und belastenden Formen der Scham befreien können.Wo die Scham wacht, achten wir auf die Würde unserer Mitmenschen. Wo die Scham weicht, tritt unsere eigene Würde in ihr Recht und bringt uns zurück zu unserer Kraft und Lebensfreude.

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Information

1. Die Scham – das geheimnisvolle Gefühl
Zur Einführung
Die Scham existiert überall, wo es ein ‚Mysterium‘ gibt. (Friedrich Nietzsche)
Die Scham ist ein komplexes Gefühl, das sich durch unsere Seele wie ein feines Netz zieht, mit sensiblen Sensoren, die beständig unsere Umgebung nach möglichen Anlässen für eine Verunsicherung abtasten und jedes Ungleichgewicht nach innen melden. Meistens schleicht sie sich unbemerkt in unser Erleben, und sie irritiert und verwirrt uns. Für viele ist sie eine ständige Begleiterin, für andere kaum wahrnehmbar oder wirksam verdrängt. Immer, wenn sie aktiv wird, leiden wir unter ihr und wissen oft nicht, wie wir mit ihr umgehen sollten oder wie wir uns von ihr befreien könnten.
Wir werden uns deshalb auf den folgenden Kapiteln näher mit den verschiedenen Aspekten dieses rätselhaften und vieldeutigen Gefühls beschäftigen. Was wir in uns selber erforschen, hilft uns, im Alltag herauszufinden, wann uns die Scham als Hindernis in die Quere kommt. Wir werden schließlich auch Wege kennenlernen, auf denen wir uns aus den Fängen der übermäßigen Scham befreien können.
Wenn wir von Grundgefühlen reden, fallen uns zumeist eine Handvoll von ihnen ein: Freude, Angst, Zorn, Traurigkeit, Ekel. Die Scham kommt auf dieser Liste in der Regel nicht vor. In einer vergleichenden Studie zur Wichtigkeit von Gefühlen landete sie bei kalifornischen Befragungsteilnehmern auf der abgeschlagenen 32. Stelle. Für viele ist die Scham das unangenehmste Gefühl, eben weil es beschämend ist, sich zu schämen. Deshalb wird sie auch so gerne übersehen, geleugnet, ignoriert und verdrängt. Wir wissen, dass der Ärger verraucht, dass die Traurigkeit irgendwann abebbt, dass wir Ängste überwinden können und dass der Ekel mit dem verschwindet, was ihn auslöst. Aber wir wissen nicht wirklich, wie wir die Scham wieder loswerden, wenn sie uns einmal im Griff hat.
Das Erleben der Scham ist unangenehm, weil wir uns kleiner, schwächer und verletzbarer fühlen. Die Scham ist mit der Befürchtung von Schmerz verbunden, der uns zugefügt werden könnte. Deshalb steckt im Deutschen im Wort „Peinlichkeit“ die Pein, die Qual, die wir erleiden.
Und wenn die Scham stärker und mächtiger wird, kann sie uns ordentlich durcheinanderbringen und uns sogar in den Grundfesten erschüttern. Wir erleben, dass wir vor Scham im Erdboden versinken wollen oder den Boden unter den Füßen verlieren. Die Scham kann uns mit einem übermächtigen und zerstörerischen Grauen konfrontieren. Wir können vor Scham erstarren, in Lähmung verfallen und handlungsunfähig werden. Schließlich hat massive und andauernde Scham schon viele Menschen krankt gemacht und sogar in den Selbstmord getrieben.
Beispiele:
Ein Kind hört von seiner Mama: „Du singst aber falsch.“ Das Kind schämt sich und beschließt, nie wieder zu singen. Selbst als viel später der Erwachsenen Komplimente wegen ihrer schönen Stimme gemacht werden, scheut sie sich davor, vor anderen zu singen. Die beschämenden Worte der Mutter hindern sie noch immer, ihr kreatives Talent zu entfalten.
Bei einer Übungsgruppe wird gefragt, wer am meisten Themen mit der vorher erklärten Methode bearbeiten konnte. Es meldet sich ein Mann, der offensichtlich den Rekord erzielt hat. Erst später stellt sich heraus, dass eine Frau noch besser war, aber ein Schamgefühl hatte es ihr verboten, Männer zu übertrumpfen. Sie hatte das von ihren Eltern und der Kultur, in der sie aufgewachsen ist, übernommen, und diese Prägung stellt sich in den Weg, als es darum geht, zu ihrer eigenen Leistung zu stehen.
Georg hat Eltern, die beide ganz durchschnittliche Leben führen. Keiner von ihnen hat studiert, die Mutter ist als Hausfrau und der Vater in einer einfachen Angestelltenposition tätig. Georg fragt sich, warum er mit seinen Begabungen nicht an die Öffentlichkeit treten konnte, um Anerkennung und Erfolg zu ernten. Es stellt sich heraus, dass ihn die Scham darin blockiert, mehr zu erreichen als seine Eltern.
Lukas ist ein kommunikativer und kontaktfreudiger Mensch. Doch wenn er mit alten Freunden Wandern geht, fühlt er sich unwohl und redet wenig. Er fühlt sich den anderen gegenüber unterlegen, weil er eine Arbeit hat, bei der er wenig verdient und die nicht sehr angesehen ist, während seine Freunde besser bezahlte und prestigeträchtigere Jobs haben. Er überlegt, bei den gemeinsamen Wanderungen nicht mehr mitzugehen, fürchtet aber, dass er darunter leiden würde und sich noch zusätzlich für seine Feigheit schämen würde.
Sabina ist Opernsängerin mit einer wunderbaren Stimme und hoher Musikalität. Sie bemüht sich bei verschiedenen Opernhäusern um ein Engagement. Sie reist dort an, und bekommt ein paar Minuten zum Vorsingen. Immer wieder erlebt sie, dass sie auf der Bühne steht und ihr Bestes gibt, während die maßgeblichen Leute unten sitzen, sich unterhalten, rein- und rausgehen und ihre Telefone bedienen. Sie weiß, ihre berufliche Laufbahn ist von diesen Menschen abhängig, und sie merkt, wie wenig sie und ihr Einsatz ihnen bedeutet. Sie fühlt sich unterschätzt, frustriert und beschämt.
Katharina ist eine fleißige Schülerin und geht gerne zur Schule. Nur der erste Schultag fällt ihr jedes Jahr schwer: Die Mitschülerinnen erzählen von ihren Ferienerlebnissen und sie muss schweigen, weil sich ihre Mutter keinen Urlaub leisten kann.
Franz ist intelligent und umfassend gebildet. Er weiß vieles, was andere nicht wissen. Und doch redet er in Gesellschaft kaum mit, gilt als schüchtern und wird häufig unterschätzt. Er hat den Eindruck, dass ihn niemand interessant findet. Als Kind hat er oft gehört, dass er nicht so blöde Fragen stellen solle und dass er den Mund halten solle, wenn die Erwachsenen reden. Bis heute hat er deshalb die Angst, als dumm dazustehen, wenn er etwas sagt. Er geriet immer wieder ins Stottern, wenn er etwas erzählte, während er die Angst hatte, missverstanden oder für dumm gehalten zu werden. Das Stottern war ihm umso mehr peinlich, und die Angst davor machte ihn noch schweigsamer. Es ist die Beschränkung unserer kognitiven und emotionalen Leistungsfähigkeit durch die Scham, die zu solchen Hemmnissen führt.
Das ist einer der typischen Teufelskreise bei der Scham, die uns immer wieder begegnen werden: Das Gefühl behindert sinnvolle und notwendige Handlungen, und die Unterlassung dieser Aktionen führt zu Selbstvorwürfen und verstärkt wiederum die Scham. Sie schränkt unsere Fähigkeiten ein, und die Einschränkung ist ein weiterer Anlass zum Schämen. Deshalb erleben viele Menschen die Scham wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, bei dem jeder Versuch, auszubrechen, die Gefangenschaft nur noch weiter verschlimmert.
Die Scham
und ihr emotionaler Umkreis
In der Umgebung der Scham finden wir eine Reihe verwandter und ähnlicher Gefühle, Gefühlsbezeichnungen und innerer Zustände: Peinlichkeit, Schüchternheit, Schmach, Schande, Verlegenheit, Kränkung, Minderwertigkeit, Bloßstellung und Gedemütigtsein.
Die Verlegenheit gilt als eine Vorstufe zur Scham und zur Peinlichkeit. Sie ist der Ausdruck einer inneren Unsicherheit in einer sozialen Situation. Wir wissen nicht, ob die Art unserer Handlung oder Wortmeldung beim Gegenüber gut ankommt und befinden uns in einer Warteposition. Erst wenn wir sehen, dass die andere Person neutral oder positiv reagiert, können wir entspannen. Häufig tritt die Verlegenheit gegenüber hierarchisch höher gestellten Personen auf. Auch Menschen, denen wir mehr Macht, Einfluss und Bildung zubilligen als uns selbst, können Verlegenheitsgefühle auslösen. Natürlich hat jede Verlegenheit auch eine biografische Wurzel, in der eine Verunsicherung stattgefunden hat, die in der aktuellen Situation wiederbelebt wird.
Wir alle kennen die Pein der Peinlichkeit: Kleinere oder größere Fehlleistungen (Übersehen, Vergessen, Versprecher, Hoppalas…), die uns mit einem stark unangenehmen Gefühl zu Bewusstsein kommen, sobald sie jemandem auffallen – vom offenen Hosenzipp auf der Straße bis zum Patzer beim Eröffnungswalzer des Opernballs. Wir kommen auf eine Party und sind zu früh oder zu spät, over- oder underdressed, das Gastgeschenk ist zu teuer oder zu billig, wir reden zu viel, zu wenig oder etwas Unwillkommenes – die Möglichkeiten für Peinlichkeiten sind unbegrenzt. Jeder Fehler, jedes Aus-der-Rolle-Fallen kann Anlass dafür bieten, je nachdem wie die Erwartungen unseres sozialen Umfeldes gerade beschaffen sind.
Die Peinlichkeiten, die uns unterlaufen, zeigen uns, wie sehr wir unsere Identität an Rollenbilder anhängen, für die wir die Bestätigung und Anerkennung von unseren Mitmenschen brauchen. Wenn wir diesem Bild einer ordentlichen, rechtschaffenen, freundlichen und umsichtigen Person nicht entsprechen, befürchten wir, die Anerkennung zu verlieren, und das Gefühl der Peinlichkeit erinnert uns daran, unser Verhalten zu korrigieren, damit wir wieder entsprechen.
Die Grenze zwischen Peinlichkeit und Scham ist fließend und durchlässig. Peinlichkeiten können sich zur Scham steigern, abhängig von der Reaktion der Umgebung. Sieht jemand großzügig oder humorvoll über unseren Schnitzer hinweg, vergessen wir schnell, was passiert ist. Macht sich hingegen jemand lustig über uns oder kritisiert uns unfreundlich in dieser Angelegenheit, dann meldet sich die Scham mit der Frage, ob unsere Zugehörigkeit zur sozialen Umgebung nun auf dem Spiel steht. Sobald die Peinlichkeit im Bund mit Selbstzweifeln zum Kern unserer Identität vordringt, wird sie dort zur Scham.
Ein wertvolles soziales Gefühl
Die Scham ist ihrem Wesen nach ein soziales Gefühl. (Serge Tisseron)
So unangenehm wir das Beschämtsein erleben, so notwendig und wichtig ist dieses Gefühl. Die Scham tritt auf, wenn es zu Störungen in Beziehungen kommt und signalisiert eine Verletzung im Gefüge des sozialen Netzes. Die innere Reaktion besteht darin, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden – das drückt auch die reflexive sprachliche Form aus: „Ich schäme mich“: Ich tue mir selbst dieses Gefühl an. Deshalb fühlen wir uns in der Scham alleine, im Stich gelassen und verloren. Es kann so weit gehen, dass wir uns fühlen, als ob uns die Existenzberechtigung abhandengekommen wäre und wir nicht mehr wissen, wo wir sie finden. Wir wünschen uns, im Erdboden zu versinken, und mit uns soll verschwinden, was gerade passiert ist. Wir erleben in solchen Momenten einen äußerst bedrohlichen Zustand und sind ganz auf uns selber und unsere fundamentale Unsicherheit zurückgeworfen.
Da wir uns im Umgang mit der Scham so schwertun, wollen wir sie am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen und irgendwo in den hintersten Winkel unserer Seele verbannen. Allerdings gehen uns dann auch die konstruktiven und förderlichen Aspekte dieses Gefühls verloren, denn das Gefühl zeigt uns, dass wir uns aus einem sozialen Ordnungsgefüge herausbewegt haben, dass eine Normverletzung passiert ist und dass es Schritte braucht, um diesen Schaden zu reparieren.
Die Scham ist ein paradoxes Gefühl. Trotz des Eindrucks, von den anderen abgeschnitten, verlassen und isoliert zu sein, wenn wir uns schämen, ist die Scham ein Gefühl, das gerade aus der Verbundenheit mit anderen entsteht. Obwohl wir den Eindruck haben, in der Scham den Selbstbezug zu verlieren, hilft sie uns dabei, unsere Würde zu wahren: unsere eigene und die unserer Mitmenschen. Sie sorgt dafür, dass die Regeln eingehalten werden, die dafür notwendig sind.
Mit unseren eigenen Schamgrenzen markieren wir die Grenzen unserer Integrität, und das Schamgefühl macht uns darauf aufmerksam, dass diese Grenzen nicht geachtet wurden – von uns selber oder von anderen: Wir haben unsere Grenzen zu weit ausgedehnt oder jemand anderer hat sie zu sehr eingeengt.
Die Scham hält uns zur Disziplin an, zur Zügelung und Kontrolle unserer triebhaften Impulse und Affekte und zur Abstimmung und Rücksichtnahme in Hinblick auf die Erwartungen und Bedürfnisse unserer Mitmenschen. Sie macht verlässlich auf jede asoziale oder egoistische Regung aufmerksam. Sie mäßigt unsere Aggressionen und schränkt unsere Gier und unseren Geiz ein.
Die Scham agiert als Wächterin für das soziale Zusammenleben. Für dessen Aufrechterhaltung muss sich jedes Mitglied in Rücksichtnahme und Abstimmung üben, was auch beinhaltet, Abstriche an den eigenen Interessen und Bestrebungen vorzunehmen. Die maßvolle Scham achtet sorgsam darauf, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichermaßen geachtet und respektiert werden. Sie hält die fragilen Grenzziehungen zwischen den Menschen aufrecht und sorgt für deren Schutz. Sie ist also auch die Wächterin für die Integrität und Würde der Individuen.
Die Scham wirkt wie ein eingebautes Korrektiv, das dann aktiv wird, wenn wir die Grenzen anderer überschreiten oder wenn uns jemand anderer zu nahe tritt. Sie meldet sich, wenn Regeln missachtet oder übersehen werden, z.B. wenn wir in einer Personengruppe ein Thema ansprechen, das in dieser Gruppe tabu ist, ohne dass wir davon wissen. „Plötzlich herrscht ein betretenes Schweigen“, und an dem Schamgefühl, das aufsteigt, merken wir, dass wir einen Regelverstoß begangen haben. Die anderen erkennen an unserem Beschämtsein, dass wir verstanden haben, was geschehen ist, und dass wir jetzt die Regel akzeptieren, und die Konversation kann weitergehen. Unsere Scham gibt also den anderen das Signal: Wir haben die Standards der Gruppe zur Kenntnis genommen und möchten sie befolgen. Damit zeigen wir, dass wir uns einordnen und mit der Gruppe konform gehen. Die Ängste in der Gruppe schwinden, das Vertrauen wächst.
Würde uns das Schamgefühl fehlen, würden wir nichts dabei empfinden, wenn wir andere verletzen oder missbrauchen. Wir würden skrupellos über die Grenzen anderer Menschen gehen und uns ohne Wimpernzucken nehmen, was wir haben wollen. Es ist klar, dass eine menschliche Gemeinschaft schnell zerfallen würde, wenn sich die meisten ihrer Mitglieder so verhielten. Die Scham wirkt also wie eine Art Schmiermittel im sozialen Getriebe, indem sie die verschiedenen Zugkräfte, die aus den individuellen Bestrebungen stammen, ausgleicht. Sie springt dort ein, wo sich ein individueller Raum auf Kosten anderer zu weit ausdehnt, aber auch dort, wo ein Raum zugunsten anderer zu sehr schrumpft.
Wann immer unser Blick auf einen schamvollen Blick trifft, schämen wir uns selber, als hätten wir etwas Verbotenes enthüllt. Das lässt sich schon bei den unzählig vielen Blickkontakten beobachten, die tagtäglich in der Öffentlichkeit passieren: Wir schauen auf, wenn jemand ein Abteil im Zug betritt und senken sofort den Blick wieder, um ja nicht zu signalisieren, dass wir ein weitergehendes Interesse an der Person hätten. Die Neugier darf nur ganz kurz sein und muss dann sofort woandershin wandern, um nicht auf die Scham der beobachteten Person zu stoßen. Denn wenn wir selber als Neue in das Abteil kommen, sind uns die Blicke, die uns treffen, für einen Moment peinlich. In diesen flüchtigen und harmlosen Kontakten spielt sich ein Minidrama der Scham und der Schamvermeidung ab.
Im Verlauf unseres Aufwachsens hat uns die Scham geholfen, unseren natürlich gewachsenen Egoismus, das, was in der Psychologie der kindliche Narzissmus heißt, einzuschränken, indem sie uns darauf aufmerksam gemacht hat, dass auch noch andere da sind und Bedürfnisse haben: Es gibt das eigene Selbst und es gibt andere, die auch über ein Selbst verfügen.
Deshalb fördert die Scham, wenn wir sie in der richtigen Dosierung erfahren, sowohl die Entwicklung unserer Individualität wie auch den sozialen Respekt für die Menschen um uns herum. Die Scham sorgt also für ein Gleichgewicht zwischen unserem fundamentalen Bedürfnis nach Selbstentfaltung und unserem ebenso wichtigen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Bindung. Im Erleben der Scham lernen wir, uns mit den Augen der anderen zu sehen, und erkennen, dass nicht nur wir selbst der Mittelpunkt unserer Welt sind, sondern die anderen ebenso in und aus ihrer Welt leben und erleben. Wir lernen Grenzen zu achten und wir lernen, sie achtungsvoll zu verändern, mit Hilfe der leichten Form der Scham, die uns nicht in unseren Grundfesten erschüttert, also traumatisiert, sondern die uns rasch wieder ins soziale Feld zurücklässt. Fallen wir mal kurzzeitig aus dem Feld heraus, können unsere Mitspieler unsere Scham bemerken und sofort wieder unsere Zugehörigkeit bestätigen.
Es ist ein Wechselspiel zwischen Schamerleben und Schamlösung, das für unser soziales Lernen und für die sozialen Abläufe unerlässlich ist. Die gelungene Kommunikation mit der Scham beruht auf Fähigkeiten, die mit der interaktiven Affektregulation in der frühen Kindheit erworben werden. Dieses Modell wird weiter unten in Kapitel 11 beschrieben. Die schamgeleitete Gefühlsregulation findet in einem Raum des Mitfühlens und Mitgefühls statt, in dem die Erwachsenen dem Kind, wenn notwendig, sinnvolle Grenzen setzen, seine Beschämung bemerken und durch Verständnis und Zuwendung wieder aufheben. Auf diesem Weg kann das Kind das Fundament für ein g...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrechte
  4. Inhalt
  5. Einleitende Worte
  6. Vorwort
  7. Anthropologische und psychologische Grundannahmen
  8. 1. Die Scham – das geheimnisvolle Gefühl
  9. 2. Scham und Gesellschaft
  10. 3. Die Physiologie der Scham
  11. 4. Häufige Scham-Themen
  12. 5. Ursprünge und Gestalten der Scham
  13. 6. Die zyklische Scham
  14. 7. Die vielen Geschwister der Scham
  15. 8. Abwehrformen gegen die Scham
  16. 9. Die Innenseite der Scham
  17. 10. Die Schamresilienz
  18. 11. Wie Schamprägungen entstehen
  19. 12. Die frühen Wurzeln der Scham
  20. 13. Scham in der Kindheit
  21. 14. Mit unserer Scham in Frieden kommen
  22. 15. Die Kur der Abwehrformen und Schamgeschwister
  23. 16. Die Wiedergewinnung des Selbst
  24. 17. Die Scham in der Psychotherapie
  25. Literarischer Exkurs: Fräulein Else
  26. 18. Von der Scham zur Würde Zum Ausklang
  27. Literaturverzeichnis