Kapitel 1
Der Diener atmete schwer, als er mich erreichte.
„Ihr sollt sofort zu den Anführern ins Haus kommen. Vermeidet jede Verzögerung – sie erwarten Euch!“
Er drehte sich um und kletterte zurück. Der Hund sah fordernd herüber und warf mir erneut das Stück Holz vor die Füße, mit dem wir spielten.
Ich saß auf einem unbewachsenen Stück des Talrandes und beobachtete das Treiben unter uns. Wie Ameisen liefen die Bewohner Matlahats durcheinander. In den letzten drei Tagen hatten sie fast ununterbrochen gearbeitet.
Mittlerweile machte sich blanke Sorge breit.
Nicht nur unterschwellig bewegte uns die Überlegung, die Feinde könnten längst ebenfalls Erfolge bei der Entwicklung des schwarzen Pulvers erreicht haben. Hinzu kam die allgemeine Befürchtung, die Sarazenen seien bereits auf dem Weg hierher. In beiden Fällen würden jegliche bisherigen Fortschritte, die uns einen entscheidenden Vorteil verschaffen sollten, nutzlos sein!
An allen Fronten Matlahats schufteten zahlreiche Trupps. Die Verteidigungsanlagen wurden abermals ausgebaut, so gut sie auch bislang sein mochten. Zudem verstärkten Arbeiter die Mauern der Festung an den wichtigsten Punkten mit weiteren Quaderreihen. Gleichzeitig saßen die Anführer abgeschirmt und bewacht in der Bibliothek. Schier endlose Zeit befassten sie sich bereits mit den zusammengefügten Dokumenten. Ich war noch nicht Teil dieses Zirkels, also brüteten allein mein Vater, Arnaud, Ludolf und auch Nurim über den Pergamenten. Ihn hatte man hinzugeholt, obwohl weder Christ noch bisher dem engsten Kreis zugehörig. Die Teilnahme stand ihm aber wohl längst zu. Stillschweigend hatte der Fatimidenführer Derartiges wohl auch erwartet, denn er nahm das Angebot, in die Geheimnisse eingeweiht zu werden, ohne Zögern an. Nach der ersten Zusammenkunft wegen der Dokumente war mein Großvater kreidebleich und wortlos zum großen Brunnen im Hof getaumelt. Dort trank er wie die einfachen Bewohner der Festung aus einem gewöhnlichen Eimer, anstatt, wie für seine Stellung passend, einen Diener mit Wasser aus einem Krug kommen zu lassen. Den Sultan schien völlige Verwirrung ergriffen zu haben, die jedes klare Wort verhinderte. Erst einige Zeit später wirkte er wieder klaren Kopfes und ansprechbar.
Ich beobachtete die Entwicklung mit Sorge.
Nurim hatte maßgeblich dazu beigetragen, dem großen Ziel näher zu kommen. Welche Geheimnisse waren ihm offenbart worden, die den Sultan dermaßen jeglicher Fassung beraubten?
Was immer in der Bibliothek passierte – es brachte einen gestandenen Mann dazu, den Verstand zu verlieren!
Je öfter mein Großvater an diesen Zusammenkünften teilnahm, desto mehr kehrte seine Fassung zurück. Trotzdem blieben Leichtigkeit und Lächeln verloren. Irgendetwas schien ihn nachhaltig in den Grundfesten erschüttert zu haben. Die gleichen Gesichtszüge trugen auch Raimund und Arnaud, aber sie kannte ich nicht anders.
Nurim verlor seit dem ersten Treffen mir gegenüber kein Wort mehr über die Dokumente.
Ich kehrte zurück in die Wirklichkeit.
Der Hund stieß mich mit der Schnauze an, weil er weiterspielen wollte, aber es blieb keine Zeit mehr. Das Holz flog ein letztes Mal durch die Luft, und dann stiegen wir hinab ins Tal.
Eilig kehrte ich zum Haus zurück, nahm die Treppen und prallte fast mit Broderik zusammen. Der bog gerade aus der anderen Richtung des Flures um die Ecke und wollte ebenfalls zum ersten Ring der Wachen. Er hatte sich in den vergangenen Wochen prächtig erholt und lief auch längere Strecken ohne Hilfe. Sämtliche Wunden waren verheilt. Allein das Reiten verboten die Ärzte weiterhin.
„Was macht Ihr hier, mein Junge? Will man Euch dabei haben? Überlegt gut – das Ende jeglicher Unschuld steht bevor! Nichts wird danach so sein wie bisher in diesem Leben!“
Mein Kopfschütteln folgte umgehend.
„Es gibt keine andere Möglichkeit! Wir sind nur noch wenige. Wer soll nach Arabicus´ und Rogérs Fehlen die Lücken schließen? Ich gehe hinein!“
Der Ritter zog zweifelnd die Schultern hoch, nickte kurz und folgte mir an den Wachen vorbei zu dem Raum, in dem die anderen bereits verharrten. Vor der Tür, auf sämtlichen Gängen, an jedem zweiten Fenster und um das Haus herum hatten sie Doppelwachen aufstellen lassen. Selbst auf den Dächern lauerten Bewaffnete.
Entweder war das Geheimnis einen derartigen Aufwand wert, oder aber die Männer im Haus hatten endgültig den letzten Anflug von Vertrauen in die eigene Gefolgschaft verloren. Vielleicht hatte ich auch einfach den Ernst der Lage nicht erkannt …
Die anderen warteten bereits ungeduldig.
Sobald die Tür zufiel, wurde sie von innen verriegelt. Arnaud wies uns wortlos Plätze an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes zu. Atemlos sah ich auf das, was sich dort türmte.
Die gesamte Platte war bedeckt von Codizes und Pergamenten. Dazwischen lagen Karten und dicke Einschläge, deren Inhalt man nicht erahnen konnte. Alles schien uralt zu sein. An einer Wand hatte man ein großes Lederstück aufgehängt, auf dem mit Kohle der Grundriss einer Stadt aufgezeichnet war. Ich verstand den Zusammenhang nicht. Raimund eröffnete fast feierlich das Gespräch. „Schön, Euch wieder unter uns zu sehen, Broderik! Die Gesundheit erlaubt es scheinbar, endlich den angestammten Platz einzunehmen. Und auch Eure Anwesenheit ist äußerst wichtig, Falko! Ihr werdet endlich in das eingeweiht, was zu den größten Geheimnissen der Geschichte gehört. Der Grund ist naheliegend. Irgendwann gehen wir hier Anwesenden endgültig. Als Jüngster in diesem Raum seid Ihr dann einziger und letzter Bewahrer des Geheimnisses. Die Last ist groß!
Zunächst weihen wir Euch ein. Danach wird unser weiteres Vorgehen geplant!“
Enttäuscht wanderten meine Blicke erneut über die Stapel auf dem Tisch. Zu gerne hätte ich in den Codizes geblättert. Die Klostererziehung und der Drang nach Wissen stiegen ungehemmt hoch.
Wozu die langen Worte? Die Zeit und meine Neugierde drängten! Nur mühsam ließ sich die Beherrschung aufrechterhalten. Bevor jemand etwas einwerfen konnte, sprach Arnaud weiter.
„Alles, was in den letzten Jahrzehnten auf der Suche nach den Geheimnissen von Raimund und mir zusammengetragen werden konnte, liegt vor Euch. Außerdem seht Ihr die Sammlung meines Vaters und Großvaters, die auf ihre Art fast noch bedeutsamer ist, weil sie große Zwischenräume verschiedener anderer Funde schließt. Ihr habt damals in der Bibliothek nicht sämtliche Dokumente gefunden, Falko!"
Den Seitenhieb ignorierte ich völlig.
„Jeder in den beiden Testamenten verborgene Hinweis wurde in den letzten Tagen so gut wie möglich entschlüsselt. Hinzu kommen noch Ludolfs und Gregors Unterlagen sowie viel Anderes aus meiner Bibliothek. Darunter sind auch die von den Templern geborgenen Mitbringsel, die mit Bertrands und Gregors Hilfe nie den Weg in die Archive des Ordens fanden. Mehr Unterlagen hat kein Christ je zusammen gesehen!“
Er warf mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
„In den letzten 100 Jahren ging es immer um die Bundeslade, Falko! Das war selbstverständlich und wurde nie von einem Eingeweihten in Frage gestellt. Die genaue Durchsicht der hier zusammengefügten Dokumente hat allerdings eine unerwartete Änderung gebracht. Nach den unzähligen Jahren der Anstrengung sind wir viel weiter als erhofft. Das Ziel scheint direkt vor uns zu liegen. Möglicherweise ist jedoch mit einer Überraschung zu rechnen. Kürzlich noch war die Rede davon. Vielleicht werden wir nicht auf die Lade stoßen!“
Ich sah ihn fast verstört an.
„Wollt Ihr einen Spaß mit mir treiben?“
„Mitnichten! Die vorliegenden Dokumente offenbaren in ihrer Gesamtheit weit mehr Hinweise auf das Testament Mohammeds als auf die Bundeslade!
Keinem von uns war diese Tatsache bisher bewusst. Vielleicht liegt es daran, dass niemand jemals die hier vorliegenden Unterlagen zusammenhängend sichten konnte. Sie stammen aus unterschiedlichen Ländern, kommen aus verschiedenen Zeiten und wurden von Menschen zusammengetragen, die niemandem außer sich selbst vertrauten. Wer also sollte mit einer solchen Entwicklung rechnen?
Die gewagteste Vermutung ließ bisher den Schluss zu, beide Kostbarkeiten in einem Versteck zu finden. Mittlerweile sieht es danach aus, dass wir wohl allein das Testament Mohammeds bergen! Ein Irrtum scheint unmöglich!“
Verdutzt hörte ich zu. Eine erschütterte Reaktion wie die Nurims lag mir in diesem Moment fern. Aber zumindest erklärten Arnauds Ausführungen dessen Verhalten vor einigen Tagen.
Vielleicht ließ sich die Neuigkeit nüchtern besser betrachten.
Gut, es gab eine Änderung all unserer Vorstellungen. In diesen Zeiten jedoch, kurz vor dem bevorstehenden Überlebenskampf, konnten die Niederschriften des Propheten doch auch helfen! Also bestand Grund genug zur Freude, wenn auch anders als erhofft!
Arnaud fuhr fort.
„Der Fund wird auf seine Art für genauso unglaubliche Veränderungen sorgen!
Trotzdem sind wir auch hier noch nicht am Ziel!
Eigentlich war davon auszugehen, dass die Kammerpläne uns die Bundeslade bringen würden. Die Zusammenfügung sämtlicher Dokumente zeigt, dass die Suche der Templer in den letzten Jahrzehnten eindeutig darauf abzielte, sie zu finden. Allerdings liefern die Unterlagen von Arnauds Urgroßvater eindeutige Beweise dafür, dass der Orden und seine Gründer mit größtmöglicher Kraft versuchten, auch das Testament Mohammeds zu bergen.
Die Spuren beider Geheimnisse kreuzen sich ständig; teilweise waren die Hinweise sogar identisch! Scheinbar sind sie an einem einzigen Ort oder zumindest nahe beieinander versteckt – im oder sogar unter dem Tempelberg!“
Allmählich begriff ich die Tragweite seiner Worte. Trotzdem blieb die Skepsis.
„Welcher Sinn sollte darin bestehen, beides an ein und derselben Stelle zu verbergen? Wer konnte daran Interesse haben?“
„Die Antworten kennt niemand. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch Absicht!
Zu viele Fragen ergeben sich.
Wahrscheinlich wussten die Suchenden damals mehr als jeder Mensch heute. Warum hatten sie andere Pläne, als verlautbart wurden? Vielleicht existieren auch Dokumente, die sämtliche Rätsel lösen, doch keine davon liegen vor. Genauso schlecht ist abschätzbar, was man vorfinden wird. Alle in diesem Raum Anwesenden wissen gerade so viel, wie den Hinweisen hier auf dem Tisch zu entnehmen ist!
Unser Schicksal hängt davon ab, wenigstens eines der Geheimnisse vor den Feinden zu bergen. Möge es das Richtige sein!“
Ich ignorierte diesen Ansatz.
„Wie geht es nun weiter?“
„Nur Gott weiß es. Möglicherweise endet alles in einer heillosen Suche. In unseren Händen befinden sich nach wie vor die Pläne des Weges zur Kammer mit dem Geheimnis. Trotz unzähliger Hinweise wissen wir jedoch nicht, wo er beginnt. Der Einstieg kann sich überall befinden. Jerusalem ist auf Felsen gebaut und voller unterirdischer Gänge, also existieren schier unendliche Möglichkeiten. Seit Jahrhunderten lässt jeder Machthaber hier eigene Tunnel graben. Der Fallenplan des Weges ist verloren, seit man ihn Raimund damals bei dem Überfall auf das Anwesen stahl. Folglich müssen bei der kommenden ungenauen Suche Opfer eingerechnet werden!
Sind die vorgesetzten Hindernisse überwunden, stößt man am Ende des Weges auf die verschlossene Kammer. Wo oder wie tief sie liegt, ist ebenfalls unbekannt. Eine Aufzeichnung zu ihrer Öffnung fehlt in unseren Dokumenten. Genau hier setzen die Pläne der Sarazenen an. Sie können die Kammer öffnen und wissen sicherlich genau um den Inhalt. Aber ihr größtes Problem besteht weiterhin: Sie gelangen nicht dorthin, denn der Weg ist ihnen unbekannt.“
Enttäuscht atmete ich hörbar aus.
„Wozu dann die ganze Aufregung? Vergessen wir die bisherigen Mühen und wenden uns wieder der Gegenwart zu. Die wird noch schwer genug!“
„Nein. Genau hier ruhen alle Augen auf Euch, Falko! Ihr gehört ab sofort endgültig zu unserem verschworenen Kreis! Seht die Beschreibungen durch und versucht etwas zu finden, das übersehen wurde. Vielleicht ist Raimunds Sohn unbedarfter als wir in unseren Betrachtungen und entdeckt den entscheidenden Schlüssel. Nehmt die neue Aufgabe so, wie Euer Vater bereits sagte. Ihr werdet später ohnehin der Träger des Geheimnisses sein! Macht Euch also bereits jetzt damit vertraut!“
Erst langsam sackten die wie selbstverständlich gefallenen Worte. Bislang hatten wir Gespräche geführt und Gedankenspiele betrieben. Nun aber, lediglich wenige Schritte von den gesammelten Unterlagen entfernt, bekam alles eine andere Dimension. Nichts mehr blieb Träumerei, so weit entfernt wie Sonne oder Mond. Einige Schritte nur noch, und der Beweis lag vor mir, dass sämtliche alten Geschichten, Erzählungen und Gerüchte die Wahrheit beschrieben!
Dann existierten die Bundeslade und das Testament wirklich!
Während aber die Christen draußen in der Welt die scheinbaren Märchen abtaten und sich dem eigenen Leben widmeten, stand ich inmitten der nach dem Geheimnis Suchenden.
Welch eine Wirkung hätte dies alles, wenn es den einfachen Menschen bekannt gemacht würde!
Schlimmer noch – was passierte, wenn man einen Schatz oder gar beide aufspürte?
Die ganze Welt würde auf den Kopf gestellt werden!
Nichts bliebe, wie es war! Die Ordnung der Länder, das Verhältnis der Religionen, die Menschen selbst – alles würde sich ändern! Und heute schon unterlag Vieles einem dauernden Wandel!
Niemand wüsste mehr, was am kommenden Tag Sicherheit brächte …
Es war kaum zu begreifen, welche Entwicklungen sich ergeben konnten. Und mich warf man hier einfach in diesen Strom; mich machten die Geheimnisträger zu einem der Ihren!
Oder fehlte bisher allein noch der letzte Schritt? Eigentlich gehörte ich doch längst dazu …
Binnen weniger Herzschläge wurden die Zusammenhänge deutlich. War nicht mein ganzes Leben durch seltsame Ungereimtheiten geprägt gewesen? Ausschließlich die Geheimnisse und sämtliche damit verbundenen Menschen hatten es dauerhaft beeinflusst. Die ständige Flucht, das Leben im Kloster, Broderik, der Wille des unbekannten Vaters …
Dazu die Attentate und vielen offenen Fragen!
Ich zögerte. Mit der Ansicht der Dokumente stand unwiderruflich die Aufnahme in den engsten Kreis bevor! Doch jetzt blieb keine Wahl mehr!
Meine Blicke ruhten auf Arnaud, während er auf einige Karten und Folianten deutete. Energisch trat ich an den Tisch heran und nahm die ersten Unterlagen in die Hand. Nichts erschloss sich mir sofort oder von selbst. Insbesondere die mit Hilfe einer speziellen Tinktur in den Lebenserinnerungen und Testamenten versteckten Abschriften verstand wohl allein ein Eingeweihter. Abgesehen davon konnte man die über einer Flamme sichtbar gemachten Geheimnisse teilweise kaum entziffern.
Es dauerte einige Zeit, bis sämtliche Hinweise gesichtet waren.
Oft fehlte jedwede Beschriftung der vorhandenen Karten und Skizzen. Nur mühsam ließ sich alles neu einordnen, um dadurch weitere Hinweise zu finden. Ich zerbrach mir den Kopf und achtete gleichzeitig auf jedes noch so kleine Detail. Tr...