Geheimnis Leben
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Geheimnis Leben

Forscher, Experimente, Abenteuer

  1. 464 Seiten
  2. German
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Geheimnis Leben

Forscher, Experimente, Abenteuer

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Über dieses Buch

Auf einem Streifzug durch die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erleben wir das faszinierende Bestreben von Forschern, das Phänomen Leben zu verstehen. Wir erfahren dabei nicht nur einiges über Arbeit und Leben historischer Personen, sondern auch unter welchen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sie wirkten. Zu Beginn treffen wir den Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso in einer Sturmnacht auf hoher See. Er nimmt an einer gefährlichen Expedition teil, um durch Beobachten, Sammeln und Vergleichen die Vielfalt des Lebens den Naturwissenschaften zugänglich zu machen. Es folgt ein anderer Weltumsegler, Charles Darwin. Ihn treffen wir 1838 in London, wo er um eine Erklärung für den Ursprung dieser Vielfalt ringt. Im Reigen der Forscher folgen Naturforscher, Chemiker, Genetiker und Biochemiker. Beim der Beschreibung ihrer Entdeckungen werden wir nahe an das Geschehen herangeführt. Wir blicken den Forschern gewissermaßen über die Schulter, wenn Friedrich Miescher aus Kernen von Eiterzellen erstmals DAN extrahiert oder wenn Walther Flemming staunend den Tanz der Chromosomen verfolgt. So erfahren wir unterhaltsam, wie aus überkommenem Wissen, aus Spekulationen und widersprüchlichen Meinungen Fragen an die Natur entstehen und wie daraus Antworten, neues Wissen und neue Fragen erwachsen.

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Information

Verlag
tredition
Jahr
2020
ISBN
9783749733224
Der Dichter und die Ordnung in der Vielfalt der Natur
Auf hoher See
Chamisso erwachte. Eine heftige Bewegung des Schiffes hatte den Naturforscher unsanft an die Wand seiner Koje geworfen. Es war schon der zweite Tag, der ihn mit Sturm, Hagel und Schnee tatenlos in die Kajüte, in die Koje verbannte. Es war kalt, feucht und dunkel. Er zog die Decken dichter an den Körper und versuchte wieder einzuschlafen. Hatte ihn doch der Schlaf zuvor auf eine sonnige Wiese voller gelber Blumen entführt. Mit leuchtend gelben Blumen, Adonisröschen, hatte ihn auch das Oderbruch empfangen. Doch damals waren sie für ihn nicht Symbol für Wärme, Aufbruch und Neubeginn gewesen. In diesem bitteren Mai 1813 hatten sie ihn daran erinnert, dass diese Blumen in der griechischen Mythologie den Tränen der Aphrodite entsprossen seien sollten, den Tränen, die die Liebesgöttin um den vom Kriegsgott ermordeten Geliebten vergossen hatte. Und damals nach den ersten blutigen Schlachten des Befreiungskrieges waren Tausende junger Männer zu beweinen.
Der Schlaf kam nicht zurück, aber vor dem, was man geistiges Auge nennt, tauchte wieder der schöne von Wasserläufen durchzogene Park auf. Das Schloss, das sich im Teich spiegelte. Hierher nach Kunersdorf ins Oderbruch war er aus Berlin geflohen, geflohen vor einer Welle patriotischer Begeisterung, die Bürger und Studenten in Berlin erfasst hatte. Seit Reste der in Russland untergegangen „Grande Armee“ die Stadt erreicht hatten, war Berlin nicht mehr zur Ruhe gekommen. Und geradezu ein Taumel hatte die Bevölkerung erfasst, als im März die französische Besatzung fast fluchtartig die Stadt verlassen hatte. Auf Plätzen, in Hörsälen und Wirtshäusern waren patriotische Flugschriften und Spottgedichte über Napoleon verlesen worden und bekannte Leute, darunter Professoren, waren bis an die Zähne bewaffnet durch die Straßen gezogen.
„Das Volk steht auf, der Sturm bricht los;/ Wer legt noch die Hände feig in den Schoß?“(1) - Für Freiheit, und Recht gegen Tyrannei und Knechtschaft hatten Prediger, Dichter und Fürsten in den Kampf, in den Krieg gegen Napoleon gerufen. Doch ihnen hatte er nicht folgen können. Hatte es doch für diese Patrioten keinen Unterschied zwischen dem diktatorischen Regime Napoleons und dem französischen Volk gegeben. Wie hätte er, dessen Wiege in Frankreich gestanden hatte, Seite an Seite mit jenen fechten können, die jedem „Franzmann“ feind waren und darauf brannten ihre blanken Eisen mit Franzosenblut zu röten? Und er hatte schon damals geargwöhnt, den Führern der neuen Koalition gegen Napoleon, dem russischen Zaren und dem preußischen König, ginge es nicht um die Befreiung der Völker, sondern um die Wiederherstellung der Ordnung, die vor der französischen Revolution geherrscht hatte.
Sein Abseitsstehen hatte ihn nicht nur einsam gemacht, er hatte sich auch zunehmender Anfeindungen erwehren müssen. Und er war allein gewesen damals in Berlin. Die Eltern tot und die Geschwister in Frankreich. Inmitten der allgemeinen Begeisterung der Berliner für den Befreiungskrieg gegen Napoleon hatte er sich wie jemand gefühlt, dem etwas fehlt, etwas, das alle anderen haben - wie ein Mann ohne Schatten.
Anfangs hatte er sich vor dem allgemeinen Aufruhr noch in die Stille des Seziersaales zurückziehen können. Als aber die Berliner Universität ihre Pforten geschlossen hatte und viele Studenten freiwillig ins Feld gezogen waren, hatte ihn der Freund und Lehrer, Professor Lichtenstein, nach Kunersdorf vermittelt. Hier auf dem Gut der gegenüber Wissenschaft und Kunst aufgeschlossenen Familie von Itzenplitz hatte er bei freier Kost und Unterkunft die Pflanzenwelt des Oderbruchs studiert, ein Herbarium angelegt, die Söhne der Gutsherrschaft in Botanik und Französisch unterrichtet und den Landsturm exerziert.
Die Bewegungen des Schiffes hatten zugenommen. Chamisso versuchte darin eine Ordnung zu erkennen, um den Magen rechtzeitig auf den Sturz ins nächste Wellental vorzubereiten. Doch was da draußen vor sich ging, entzog sich jeglicher Voraussicht. Sich überschlagende Wellen, Brecher, schlugen auf das Deck, während durch Wind und Überlagerungen zerklüftete Wellenberge das Schiff aufforderten, allen Bewegungsarten der Seemannssprache, rollen, stampfen, tauchen und schlingern, möglichst gleichzeitig zu folgen. Und das kleine Schiff, die „Rurik“, befand sich weitab von allen Handelswegen, tausende Kilometer von jeder Küste entfernt inmitten des größten Ozeans der Erde. Um der aufkommenden Angst zu entgehen, flüchtete sich Chamisso wieder in die Vergangenheit zurück nach Kunersdorf. Er sah sich wieder am Schreibtisch am offenen Fenster der Bibliothek. Nach einer langen Wanderung mit dem Obergärtner des Gutes hatte er hier an einem der ersten warmen Sommerabende begonnen, die Geschichte des Mannes ohne Schatten niederzuschreiben.
Ein junger Mann, Peter Schlemihl, auf der Suche nach Gold und Glück verkauft leichtfertig seinen Schatten an den Teufel. Schnell muss er erkennen, dass zum Fortkommen in der Gesellschaft neben Geld auch ein Schatten notwendig ist. Einsam von allen, die das Geld an ihn gebunden hatte, verlassen, versucht er, den Tausch rückgängig zu machen. Doch der Teufel verlangt für die Herausgabe des Schattens Schlemihls Seele. Die aber will Schlemihl nicht verlieren und verliert so seine Existenz in der Gesellschaft und die geliebte Braut. Bis hierher war er flott vorangekommen. Hatte er doch als Franzose in Deutschland, als Deutscher in Frankreich das Gefühl des nicht Dazugehörens gekannt und gewusst, wie die Gesellschaft auf einen Außenseiter reagiert.
Doch dann war es darum gegangen, wie Schlemihl noch Glück finden könnte. Dazu hatte Chamisso sein eigenes Leben und seinen Anspruch an die Zukunft überdacht und dann Schlemihl als Naturforscher mit Siebenmeilenstiefeln in die Welt hinaus geschickt. Denn das war es, was er damals selbst gern getan hätte, beobachtend, sammelnd und messend die Welt der Tiere und Pflanzen erforschen. Und dieser Traum war wahr geworden! Er, Adelbert von Chamisso, war als Naturforscher einer russischen Expedition unterwegs, war auf dem Wege seinen Platz in der Gemeinschaft der Wissenschaftler zu finden.
Das war nicht an seiner Wiege gesungen worden. Als Sohn eines Grafen im Januar 1781 auf Schloss Boncourt in der Campagne geboren, wäre für ihn nur eine repräsentative Aufgabe bei Hofe, ein Dienst in der Ministralverwaltung oder als Offizier in Frage gekommen. Und so waren es weder Eltern noch Hauslehrer gewesen, die in dem heranwachsenden Knaben das Interesse an den Naturwissenschaften erweckt hatten. Die Natur selbst hatte mit Blumen und Pflanzen, mit Vögeln, Eidechsen und Käfern im Park, mit Blitzen am nächtlichen Himmel über Türmen und Zinnen des väterlichen Schlosses seine Wissbegierde auf ihre Geheimnisse gerichtet.
Doch er war gerade neun Jahre alt, da hatte der Sturm der französischen Revolution die Familie aus Frankreich vertrieben. Als Fremde waren sie sechs Jahre lang in Europa umhergeirrt. Oft war der Erlös aus dem Verkauf von Miniaturbildern, die seine älteren Brüder herstellten, die einzige Einnahme gewesen. Schließlich hatte man in Berlin Asyl gefunden.
Dort hatte er als herausgeputzter Page bei der preußischen Königin dienen müssen, hatte aber daneben das Französische Gymnasium in Berlin besuchen können. An dieser den Ideen der Aufklärung verpflichteten Schule waren nicht nur seine naturkundlichen Interessen bestärkt worden, sondern aus seinem Sinn für Schönheit und Ordnung war auch seine Leidenschaft für die Dichtung erwachsen. Interessen und Leidenschaften, die auch die folgende Zeit seines Dienstes als preußischer Offizier überdauert hatten.
Erste dichterische Versuche hatten ihn Freunde finden lassen. Eine Gruppe empfindsamer kluger junger Männer der „Nordsternbund“. Doch auch hier keine völlige Zugehörigkeit. Der neuen romantischen Geistesströmung angehörig, hatten sie im Fortschreiten der Wissenschaft, in ihrem Ordnen und Zergliedern eine zunehmende Entfernung von der Welt der Gefühle und Wunder erblickt. Für sie waren die Natur als Ganzes und das Geheimnis ihrer Schönheit die Quellen aus der dem Menschen eine Ahnung von der höheren Bedeutung aller Dinge erwuchs. Verführerische Gedanken, die Zugehörigkeit und Wärme im süßen Weh der Sehnsucht nach der Einheit von Mensch und Natur versprochen hatten.
Doch hatten nicht Fragen an die Natur, der Gebrauch der Vernunft die Menschheit voran gebracht? In der Lektüre der Denker der Aufklärung Voltaire, Diderot und Kant in den Schriften der Wissenschaftler Linné, Haller und Alexander von Humboldt hatte er eine andere, klarere Weltsicht gefunden, die Sicht von einer durch das fortschreitende Wissen, durch neue Sichten schöner, klarer und verständlicher werdenden Natur.
Und dann 1810 in Paris die Begegnung, die Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt. Dieser rastlos tätige Mann; musste man ihn nicht bewundern und verehren! In allen Naturwissenschaften kundig hatte er mit dem Chemiker Gay-Lussac Luftproben aus großer Höhe analysiert und war er mit dem Botaniker Aime Bonpland durch Urwälder und Steppen Amerikas gereist. Dort hatten sie den Gefahren und Strapazen einer viermonatigen Flussfahrt auf einem Einbaum umgeben von Krokodilen, Boas und Jaguaren getrotzt und waren am Vulkan Chimborazo fast 5900 m hinaufgestiegen, so hoch wie kein Mensch zuvor. Alexander von Humboldt war für Chamisso zu einer Leitgestalt geworden, der zu folgen, die aber nicht zu erreichen war.
Durch dieses Vorbild gefestigt hatte sein Interesse an den Naturwissenschaften die Zeit der vergeblichen Suche nach einer Existenz in Frankreich und die Zeit im Zauberkreis der Madame de Staël überdauert.
In den Kreis um diese ungewöhnliche Frau war er durch den Literaten und Wegbereiter der deutschen Romantik August Wilhelm Schlegel geraten. Schlegel, mit fürstlichem Gehalt zur Entourange der reichen Schriftstellerin gehörend, hatte ihm zu einem Zeitpunkt höchster Not Arbeit angeboten, die Mitarbeit bei der Übersetzung von Vorlesungen Schlegels ins Französische. Gearbeitet hatten sie zunächst auf Schloss Chaumont an der Loire. Doch bald hatte man umziehen müssen; Napoleon hatte der Staël, einer scharfen Kritikerin seiner Politik, den Aufenthalt in Frankreich verboten. Zum neuen Arbeitsort war Schloss Coppet in der Schweiz geworden. Hier am Genfer See in der Heimat des großen Gelehrten und Dichters Albrecht von Haller war dann eine ernsthafte Beschäftigung mit der Botanik möglich geworden. Die Bekanntschaft mit dem Genfer Professor Nicolas Theodore de Saussure hatte sein Interesse auch auf die Lebensprozesse der Pflanzen gelenkt und im Botaniker Auguste de Staël, dem Sohn der Schriftstellerin, hatte er einen der Schönheit der Pflanzenwelt ergebenen Freund gefunden. Unter beider Anleitung hatte er mit wachsender Begeisterung begonnen, Pflanzen zu sammeln und zu bestimmen. Bei seinen Bergwanderungen, auf einsamen Pfaden mit wunderbaren, grandiosen Ausblicken, hatte er sich auf Wegen gewusst, die vor ihm schon Albrecht von Haller gegangen war und erstmals die Pflanzenwelt der Schweiz erforscht hatte. Wie der große Mann der Aufklärung hatte auch er sich dabei als Schüler der Natur empfunden, einer Natur, die sich dem forschenden Geiste offenbart. Auf einsamen Wegen, allein der Natur gegenüber war ihm Suters „Flora Helvetica“ die einzige Verbindung zur Welt der Wissenschaft gewesen. In diesem Buch war die Vielfalt der zuerst von Haller erforschten Pflanzenwelt der Schweiz beschrieben und nach dem System Linnés geordnet worden. Albrecht von Haller hatte dieses Ordnungssystem lange kritisch angegriffen und mit Linné heftig darüber gestritten. Doch nur zwei Jahrzehnte nach dem Tod beider waren von der Nachwelt die Entdeckungen des Einen nach dem System des Anderen geordnet worden.
Schon seit fast achtzig Jahren half Linnés System, Ordnung in die Vielfalt der Organismen zu bringen. Linnés Festlegungen bei der Beschreibung der Blüten, die Einteilung der Blütenpflanzen nach Verteilung, Zahl und Verwachsung der Staub- und Fruchtblätter machten es möglich, Pflanzen eindeutig für alle Forscher gleich zu beschreiben. Mit der Benennung jeder Art durch je einen lateinischen Namen für die Gattung und die Art hatte Linné eine internationale Sprache für die Naturkunde geschaffen und die angesichts des gewaltigen Artenreichtums zu erwartende Verwirrung von vornherein beseitigt.
Auch dieses Werk war nur dank der Vorarbeit anderer Forscher entstanden und hatte sich gegen die Kritik großer Geister wie Haller und Buffon durchsetzen müssen. Bei allen Erfolgen und Ehrungen war Linné gegenüber Natur und Wissenschaft bescheiden geblieben. Er hatte nicht geglaubt, dass seine Gliederung der Welt des Lebenden, seine Idee die Blütenpflanzen nach Form und Aussehen ihrer Geschlechtsorgane zu ordnen, einem göttlichen Schöpfungsplan entsprach. Zeit seines Lebens war Linné davon überzeugt, dass eine in der Natur verborgene Ordnung und Harmonie, ein natürlicher Schöpfungsplan, einmal seine „Systema naturae „ ablösen werde.
Und an dieser Aufgabe wollte Chamisso damals und auch heute mitarbeiten. Er wollte ein anerkannter Arbeiter am ständig wachsenden Bau der Wissenschaft werden. Für dieses Ziel war er damals aus der Schweiz über den St. Gotthard zu Fuß nach Berlin gelaufen, um sich am 17. Oktober 1812 als Student der Medizin und Naturkunde einschreiben zu lassen.
Und von dieser selbst gestellten Aufgabe mochte er sich auch nicht durch das aufgepeitschte Meer da draußen abhalten lassen. Er war jetzt sechsunddreißig Jahre alt, hatte vor zwei Jahren die Studien abgeschlossen und könnte nicht wie sein Schlemihl frei in Wäldern, Steppen und Wüsten umherschweifen. Wollte er als Naturforscher leben, müsste er eine möglichst gut dotierte Stelle im Betrieb der gelehrten Welt anstreben. Und dazu musste er erst seine Sammlungen und Aufzeichnungen sicher und trocken nach Hause bringen.
Und zusammen mit dem Schiffsarzt Johann Friedrich Eschscholtz, der jetzt in der Nachbarkoje schnarchte, hatte er schon einiges zusammen getragen. Und das trotz den für den Forscher und Sammler schlechten Arbeitsmöglichkeiten auf der „Rurik“. Nicht allein, dass auf dem nur 180 Tonnen großen Segler der Platz für eine naturkundliche Sammlung recht begrenzt war, sondern auch der Kapitän zeigte wenig Verständnis dafür, dass unter der russischen Kriegsflagge Kräuter zum Trocknen aufgehängt und ausgebreitet wurden. Wozu dieses Heu? Reichten nicht Zeichnungen, um die Funde zu belegen? Hatte man zu diesem Zweck nicht einen Künstler an Bord? Dass dieses „Heu“ besser als die kunstvollste Zeichnung für den Botaniker ein Gedächtnis darstellt, ein Gedächtnis, indem ihm die Natur zu jeder Zeit zur Ansicht, zum Vergleich und zur Untersuchung vorliegt, war dem jungen Kapitän bis heute nicht wirklich zu vermitteln gewesen. Dennoch hatten sie zwischen Südsee und Beringmeer an Küsten und auf Inseln unverdrossen die Pflanzen der jeweiligen Weltgegend gesammelt. Wenn es nötig war, hatten sie die Sammelstücke unter oder in ihrer Koje so lange gespeichert, bis der Kapitän eine seefeste Verpackung in Kisten erlaubte. Mehrmals hatten sie jedoch erleben müssen, dass Teile ihrer Sammlung von den Matrosen teils mutwillig teils durch Unachtsamkeit beschädigt oder zerstört worden waren.
Auch der Expeditionsplan war für Forschung und Erkundung nicht gerade zuträglich. Er war strickt der Hauptaufgabe der Forschungsreise, der Suche nach einer Nordwestpassage zwischen Pazifik und Atlantik, untergeordnet. Ein solcher Seeweg nördlich des amerikanischen Kontinents hätte der russischen Kolonie Alaska und auch den sibirischen russischen Besitzungen eine schnelle Verbindung zu den Haupthandelswegen eröffnet. Da die Suche nach diesem Seeweg nur während des in den hohen Breiten nur kurzen Nordsommers erfolgen konnte, waren die Aufenthalte an vielen Orten nur kurz gewesen oder hatten für die Naturforscher zur falschen Zeit stattgefunden.
Auf der Insel St. Catharina vor der brasilianischen Küste hatten Regengüsse einen Teil der bereits gesammelten Pflanzen unbrauchbar gemacht und in Chile, dessen Küste sie im Februar 1816 erreicht hatten, war die Vegetation von der Sommerhitze verbrannt.
Trotz aller dieser Widrigkeiten hatten sie ein beachtliches Herbarium zusammen getragen. Angetrieben zu diesen Mühen wurden sie weniger von der durchaus vorhandenen Sammelleidenschaft, als viel mehr von der Überzeugung, dass das Sammeln, das Anhäufen von Tatsachen eine Voraussetzung für das Fortschreiten der Wissenschaft wäre. Wie anders, als aus der Überschau der ungeheuren Vielfalt der Natur, könnten neue Zusammenhänge erkennbar werden, könnten alte Fragen beantwortet werden? Und es gab viele Fragen die einer Antwort harrten. Da waren Fragen nach dem natürlichen System. Gab es ein solches System überhaupt? Waren Linnès Arten, Gattungen, Ordnungen und Klassen nicht nur künstliche Hilfsmittel, um sich in der gewaltigen Menge der Lebewesen zurechtzufinden? Hatte doch der große Gelehrte und Widersacher Linnés, Georges Buffon, erklärt, die Natur ordne ihre Wesen nicht in Haufen und Gattungen, in Wirklichkeit existierten nur Individuen.
Dann die alten Fragen zur Verbreitung der Lebewesen auf der Erde. Zu ihrer Klärung hatte schon im Sommer 1700 der Botaniker Joseph Pitton Tournefort in Kleinasien den Berg Ararat bis zur Schneegrenze bestiegen. Hier sollte nach der Sintflut die Arche Noah gelandet sein und der Reisende hatte gehofft, von dort aus Spuren der Wiederbesiedlung der Erde verfolgen zu können. Gefunden aber hatte er, dass sich die Vegetation mit der Höhe in der gleichen Weise wie bei einer Reise von Kleinasien nach Lappland ändert.
Hundert Jahre nach Tournefort hatte Alexander von Humboldt versucht, die Verteilung der Gewächse mit dem Klima, dem Boden, den Mineralien der jeweiligen Weltgegend in Verbindung zu bringen.
Chamisso überlegte, ob seine Beobachtung, dass die am Beringmeer beheimate Pflanzenwelt derjenigen auf den Alpenmatten der Schweiz überraschen ähnlich war, zur Klärung der Frage beitragen könne. Doch was war mit den großen Unterschieden in den Tier– und Pflanzenwelten Südafrikas, Südamerikas und Australiens trotz ähnlicher klimatischer Verhältnisse?
Wenn er zur Klärung dieser Fragen beitrage...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrechte
  4. Inhalt
  5. Der Dichter und die Ordnung in der Vielfalt
  6. I think
  7. Zellen
  8. Chemie und Leben
  9. Studenten 1866
  10. Gregor Mendel
  11. Nuclein, der Stoff aus dem Zellkern
  12. Der Tanz der Chromosomen
  13. Gene
  14. Zucker und Proteine, Moleküle des Lebens
  15. Atmung und Energie
  16. Tod am Schneeberg
  17. Gene und Strahlen
  18. Forschung in dunkler Zeit
  19. Die Phagengruppe
  20. Was ist Leben?
  21. Die ersten sieben Jahre
  22. Der Code
  23. Der Weg zur Gentechnik
  24. Studenten 2016
  25. Anhang