Taschkent, 9. November 2019
Eine meiner größten Reisemacken ist der jedes Mal bei der allerersten Ankunft notwendige Zimmerwechsel. Es gelingt mir einfach nicht, das Vorgefundene zu akzeptieren und ich ruckele es mir mit Umzügen vom ersten ins zweite - und in besonders schweren Fällen - vom zweiten ins dritte Zimmer einer Unterkunft zurecht. Das liegt nicht an den Unterkünften. Es ist vielmehr meine Art, mich von der heimischen Komfortzone in die Lebensumstände des Unterwegsseins hineinzufinden und solange ich noch mit einer häuslich bebilderten Grundhaltung irgendwo ankomme, gibt es in diesem Stadium unweigerlich Stress. ‚Übers meckern sich anpassen‘ könnte man den Prozess eventuell formelhaft zusammenfassen.
Letzte Nacht bei der Ankunft um drei Uhr morgens habe ich also wieder mal lamentiert, auf einen Umzug angesichts der Uhrzeit allerdings dann großzügig verzichtet. Am nächsten Morgen bin ich schon viel friedlicher, denn eigentlich ist das Zimmer vollkommen in Ordnung. Mein nächtlicher Zwergenaufstand hat sich jedoch bereits herumgesprochen und ich werde zum Frühstück mit dem Versprechen begrüßt, dass nicht heute, aber morgen ein schöneres, größeres und komfortableres Zimmer für mich bereitstehe. Keine Beteuerung meinerseits, das jetzige Zimmer sei vollkommen ausreichend und ein Umzug nicht nötig, wird akzeptiert und offenbar kann ich meine eigene erste Reaktion durch nichts mehr ungeschehen machen oder zurückholen. -
Das kleine Gästehaus liegt in der Altstadt und fünf Minuten fußläufig zum Chorsu, dem größten und ältesten Markt Taschkents. Auf wundersame Weise hat dieses Viertel das schwere Erdbeben 1966 überstanden und besteht immer noch in nennenswertem Maße aus ein- bis zweigeschossigen Lehmbauten ohne Fenster zur Straßenseite, dafür aber ausgestattet mit reich geschnitzten Eingangstüren und dahinterliegenden großzügigen Innenhöfen.
Auf dem Marktareal hat auch die Nationalbank von Usbekistan eine Filiale, in der man Euro gegen Som tauschen kann. Die Bank ist sieben Tage in der Woche und zehn Stunden täglich geöffnet, mittags unterbrochen von einem ausgeschilderten ‚technical break‘, während dem die Kunden zwar ins Gebäude gelassen werden, die Schalter selbst jedoch verwaist sind und man hinter den dünnen Stellwänden die Stimmen der Bankangestellten und das Klappern von Geschirr und Besteck hören kann.
Samstags wird am Ende dieser technischen Mittagspause lediglich der Valuta-Schalter wieder geöffnet. Zwei Frauen arbeiten hier. Die eine nimmt das Geld entgegen und druckt Wechselkursquittungen. Die zweite prüft die hier ausnahmslos vorgelegten Dollarnoten auf ihre Echtheit und rechnet die Auszahlungssumme in Som aus. Ihre diesbezügliche Routine wird diesmal unterbrochen durch meine eingereichten Hunderteuroscheine. Diese bedürfen einer umfangreicheren Überprüfung, für die Maschinen eingeschaltet werden, die offenbar sonst im Alltag keine Verwendung finden und vor deren Einsatz erst einmal eine Stromversorgung organisiert werden muss.
Sehr genau werden dann Wasserzeichen, eingelegte Silberfäden und aller sonstiger Sicherheitsschnickschnack untersucht, und erst nachdem die offenbare Echtheit der Scheine nachgewiesen ist, wird der Gegenwert in einem dicken Packen druckfrischer Fünfzigtausend-Som-Scheine unter der Schalterglasscheibe durchgeschoben. Für einen Euro oder einen Dollar werden zurzeit etwas mehr beziehungsweise etwas weniger als zehntausend Som bezahlt. Selbst bei einer Fünfzigtausend-Som-Stückelung ist das ausgegebene Geldscheinbündel also groß und Usbeken haben, ob der zuweilen gigantischen Papiergeldmengen, eine fabelhaft blitzschnelle Technik entwickelt, mit Daumen und Zeigefinger die Scheine zu zählen. Ich bin diesbezüglich eher unbeholfen und sitze minutenlang, von scharfen, amüsierten Einheimischenaugen beobachtet, in der Bank und versuche mir einen Überblick über die gerade erhaltene millionenschwere Auszahlung zu verschaffen.
Ebenso ungewohnt sind die astronomisch hohen Preise, die auf dem Markt selbst an den geringwertigsten Alltagsgegenständen kleben. Sie erinnern an die weiland italienischen oder türkischen Lirapreise, bevor die jeweilige Regierung drei oder vier Nullen vor dem Koma streichen ließ, und man erschrickt jedes Mal für einen Moment, bevor das Bewusstsein die riesigen Zahlen wieder heruntergebrochen hat auf umgerechnet wenige Cent und Euro.
Nicht nur deswegen brauche ich ein paar Stunden, um Lebensmittel für die nächsten Tage einzukaufen. Zum einen will das eher fremde Angebot an Obst, Gemüse, frischen Salaten, Fleisch und Backwaren genau studiert werden. Zum anderen beginnt nach den ersten Überlegungen für einen vorläufigen
Ernährungsplan die sorgfältige Auswahl der Händler. In meiner Gedankenwelt sieht man den Gesichtern der Menschen viel von ihrer Einstellung zum Leben an und entsprechend suche ich mir nach Möglichkeit VerkäuferInnen aus, deren Augen und Mienen mir vertrauensvoll und sympathisch erscheinen. Das dauert beim ersten Mal ziemlich lange, hält dann aber meistens bis zum Ende des Aufenthaltes, weil diese Lebensmittellieferanten - einmal ins Herz geschlossen - bis zur Weiterreise immer wieder aufgesucht werden.
Eine Besonderheit dieses Marktes sind neben allerlei Ungewohntem, wie zum Beispiel nie zuvor gesehene Melonen- und Kürbissorten, vor allem blickdicht verhangene, weit oben unter den Wellblechdächern aufgehängte winzige Vogelkäfige. Von der Größe her handelt es sich offenbar um Einzelzellen, und laut Auskunft eines Gemüseverkäufers hält man die Tiere ohne Sichtkontakt zur Außenwelt, um so ihren Gesang zu animieren und zu genießen. Das zu glauben fällt schwer, denn die - zumindest aktuell - hörbaren Geräusche sind von betörendem Gezwitscher meilenweit entfernt und klingen in meinen Ohren eher wie kurze, schrille Verzweiflungsschreie. Aber in dererlei fremde Lebensgewohnheiten und Geschmacksfragen mischt man sich am besten nicht ein. -
Der Markt ist nicht nur Zentrum eines traditionellen Handels mit Ursprung in den Zeiten der großen Seidenstraßenkarawanen, sondern offenbar auch ein bewegter Treffpunkt des informellen Arbeitsmarkts. Die offizielle Arbeitslosenstatistik des Landes weist rund fünf Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung als ohne Job aus. Gut unterrichtete Quellen im Internet nennen hierzu sogar eine Zahl von über zwanzig Prozent.
Diesem Umstand Rechnung tragend, fahren Anbieter von kurzfristigen Beschäftigungen mit ihren Mittelklassewagen hier vor und werden beim Aussteigen sofort von den ersten Tagelöhnern umringt. Die Nachricht, dass es irgendwo irgendetwas zu tun gibt, läuft schneller um den Platz, als Feuer es jemals könnte, und innerhalb von wenigen Minuten ist ein Wagen und sein Fahrer dicht belagert von jungen, mittelalten und älteren Männern, deren hervorstechendstes gemeinsames Merkmal eine körperliche Hagerkeit ist, die oft genug auch von überschaubarer Nahrungsaufnahme stammt. Es ist dieser Typus dünner, kleiner, zäher Mensch, wie man ihn überall dort auf der Welt - beispielsweise auf Baustellen - antreffen kann, wo niedrige Arbeiten an Gastarbeiter aus wirtschaftlich unterentwickelten Regionen vergeben werden. (In Usbekistan richtet sich diese Form ausländischer Arbeitsmigration vor allem nach Russland, wo geschätzt zwei bis drei Millionen Männer den Lebensunterhalt für ihre Familien zu Hause verdienen.)
Ein gerade beobachteter Kampf um ein paar Handlangerdienste (wenn ich es richtig verstanden habe, sucht der Anbieter vier bis fünf Hilfskräfte, um ihn herum stehen rund dreißig Männer) nimmt nach einigen Minuten absurde Formen an, als mehrere Männer wild entschlossen das Fahrzeug kapern und sich zu siebt auf den Rück- und Beifahrersitz drücken, in der Hoffnung, mit dieser Abwandlung der Reise nach Jerusalem ihre Chancen auf einen Tagesjob zu vergrößern. Es dauert ziemlich lange, bis der Fahrer die Besetzer wieder aus dem Wagen katapultiert hat, und es hat etwas tragisches, dass ausgerechnet diese Männer nun nicht mehr in seine engere Wahl kommen. Sie müssen sichtbar wütend und verzweifelt dabei zuschauen, wie schließlich fünf andere Männer ausgewählt und mitgenommen werden, während sich die übrig gebliebenen langsam wieder über den Platz verstreuen.
Arbeitssuchende Männer am Chorsu, Taschkent
Arbeitssuchende Frauen am Chorsu, Taschkent
Für Frauen gelten anscheinend die gleichen Bedingungen. Auch hier hält, während ich gerade zuschaue, ein Wagen an, offeriert Arbeit für ein paar Stunden und lädt schließlich drei mittelalte, Kopftuch tragende Frauen ins Auto und fährt mit ihnen davon.
Am Abend, auf dem Weg zurück zu meiner Unterkunft, stelle ich fest, dass dieser ambulante Arbeitsmarkt nicht auf die Vormittagsstunden beschränkt ist, sondern auch jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, noch auf Hochtouren läuft. Gerade lässt ein Fleischhändler zwei Jungs seinen PKW ausladen. Kofferraum und Rückbank sind vollgestopft mit weißem Rinderpansen, der umstandslos auf metallene Karren geladen und in den Basar gefahren wird. Ein Stückchen weiter hat sich der Fahrer eines Lieferwagens eben vier zusätzliche Hände ausgesucht, die ihm wohl irgendwo in der Stadt beim Entladen der Fracht helfen sollen. Rund zehn Männer bleiben frustriert am Straßenrand zurück und verleihen ihrer Enttäuschung mit flachen Handschlägen auf die Transportertür Ausdruck.
Später werde ich zu dem Thema von einem einheimischen Gesprächspartner erfahren, dass dieses ambulante Jobcenter vierundzwanzig Stunden täglich geöffnet ist und sich hier rund um die Uhr Arbeitsanbieter und -suchende treffen. Er vermutet, dass die Männer um die hundert- bis hundertfünfzigtausend Som - also ca. zehn bis fünfzehn Euro - am Tag verdienen. Frauen werden zumeist für Reinigungsarbeiten engagiert und bekommen schätzungsweise hunderttausend Som – also zehn Euro - am Tag. (Zur Einordnung: Ein Fladenbrot kostet zweitausend Som = zwanzig Cent). -
Weil montags auch in Usbekistan die Museen geschlossen sind, fahre ich sonntags mit der Metro zum Museum für usbekisches Kunsthandwerk. Es basiert auf der umfangreichen Sammlung eines früheren zaristischen Botschafters und wurde 1937 in dessen im späten neunzehnten Jahrhundert erbauten Stadtvilla eingerichtet.
Ganz klar ist der Fußweg zwischen Metrostation und Museum vorbei an diplomatischen Residenzen und Konsulaten nicht, denn die Hinweisschilder sind oft verrutscht und deuten wage auf zwei Abbiegemöglichkeiten. Das hiesige Büro von Interpol (?), zufällig (?) gelegen neben dem usbekischen Innenministerium, hat eine geöffnete Eingangstür. Dort weiß zwar der Sicherheitsbeamte an der Durchgangskontrolle auch nicht, welchen Weg ich einschlagen muss, er ruft aber sofort einen Kollegen irgendwo im Gebäude an, der mich mit makellosem Englisch in die richtige Richtung schickt. -
Handwerkliche Kunstfertigkeit hat in vielen früheren Sowjetrepubliken im Alltag immer noch einen hohen Stellenwert. Dies wird hier zum einen in dem bereits erwähnten Museum unterstrichen, findet sich aber auch wieder auf den zahlreichen Baustellen, die am Wegesrand dorthin liegen. Händisch und mit wenigen modernen Werkzeugen werden Ziersteine für Wände und Bodenbeläge zugeschnitten, handgeschnitzte Treppenläufe verbaut und Aufsehen erregend schöne schmiedeeiserne Gitter und Geländer in Fassaden, Aufgänge und Balkone integriert. -
In diesem Viertel sollen sich, laut Reiseführer, auch zwei Synagogen befinden. Nach einer mehrstündigen Suche mit immer neuen, durch Fragen an Passanten eingesammelten, vermuteten Hinweisen auf mögliche Standorte, neige ich zu der Annahme, dass dies ein Irrtum ist und es tatsächlich nur eine gibt. Diese wiederum entpuppt sich als eine enge Verwandte der Synagogen in Westeuropa: schwer bewacht und mit Eisentoren, Bewegungsmeldern und Stacheldraht gesichert, lässt sie den Verdacht aufkommen, dass das jüdische Leben in Usbekistan ähnlich massiven Sicherheitsvorkehrungen unterworfen ist, wie man es aus Paris oder Berlin kennt. Nichts erinnert hier an das gelassene, offenherzige Miteinander, wie ich es vor einem Jahr in Russland zum Beispiel in der Irkutsker Synagoge erlebt habe, wo eine offene Tür und zahlreiche anwesende Menschen zum Besuch und unkontrollierten Umherschweifen im gesamten Gebäude einluden. -
Wie in vielen anderen Städten und Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wurde auch in Taschkent in den Sechzigerjahren eine U-Bahn gebaut, die das russische Zugsystem mit einer Spurbreite von tausendfünfhundertzwanzig Millimeter zugrunde legt und deren hundert Meter langen Bahnsteige für jeweils fünf Waggons dieses Zugtyps ausgelegt sind. Die Grundsteinlegung der hiesigen Metro steht im direkten Zusammenhang mit dem Erdbeben von 1966 und wurde – so die Legende – vom damaligen Taschkenter Bürgermeister dem ebenfalls damaligen Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew bei dessen Krisenbesuch vor Ort abverhandelt. Von den einschlägigen Internetseiten wird vor diesem Hintergrund immer wieder darauf hingewiesen, dass man die Konstruktion der Schächte ganz besonders mit Blick auf ihre Belastbarkeit im Falle eines neuerlichen schweren Bebens ausgelegt habe.
Weniger Beachtung findet momentan im Gegensatz dazu die Instandhaltung aktueller technischer Ausstattungen. Mit der vor Fahrtantritt für umgerechnet dreizehn Cent gekauften Plastikmünze entsperrt man im Eingangsbereich ein Zugangsdrehkreuz. Diese Drehkreuze sind – nach bisheriger Beobachtung - an fast allen Haltestellen defekt, weswegen jeweils eine Mitarbeiterin der Metrogesellschaft daneben sitzt, jedem Fahrgast einen Durchgang zuweist und im Übrigen darauf achtet, dass die Plastikmünzen trotz fehlender Drehkreuzmechanik ordnungsgemäß eingeworfen werden.
Jenseits dieser Kleinigkeit ist es ein großes Vergnügen, auf den Plattformen zu stehen und auf den Zug zu warten, denn die gesamte Bahnanlage profitiert ob ihrer Entstehungszeit bis heute ästhetisch stark von der sowjetischen Tradition der besonders schönen und mit Liebe zum Detail gestalteten Haltestellen. Mit immensem handwerklichen Aufwand gearbeitete Wandillustrationen lassen die Augen jubeln und immer neue und andere elegante Lüster und Lampen hängen von den verschiedenen Stationsdecken. Die insgesamt vier Bahnlinien sind an mehreren Umsteigebahnhöfen durch lange unterirdische, marmorverkleidete Fußgängertunnel miteinander verbunden, sodass die Fahrgäste das Metroareal erst wieder verlassen müssen, wenn sie an ihrem Ziel angekommen sind. Theoretisch kann man für die besagten dreizehn Cent also den ganzen Tag U-Bahn fahren und jede einzelne der prachtvollen Stationen in aller Ruhe besichtigen. Vielleicht mache ich das während meines Aufenthaltes mal. -
Nicht wegen der Schönheit, sondern aus einem überkommenen Sicherheits- und Kontrollsystem werden die Treppen und Eingänge zu den Bahnsteigen streng bewacht und stichprobenartig Taschenkontrollen durchgeführt....