1. Das Lügen, der Lügner
1.1 Lügen als menschliche Verhaltensweise
Der Mensch ist ein biologisches Wesen und er nimmt in der Gemeinschaft mehrerer Menschen bestimmte Verhaltensweisen an, die sich im Evolutionsprozess von anfänglich primitiven, instinktiven zu komplizierteren weiterentwickeln. Erst im Laufe der Herausbildung einer Kultur macht er immer mehr Gebrauch vom Verstand und einer Vernunft. Er fragt sich dabei, welchen Sinn er seinem Dasein geben soll. Kant zieht schlicht die Konsequenz aus der unabweisbaren Einsicht, dass der Mensch nicht schon von Natur aus ein vernünftiges und moralisches Wesen ist. Der Mensch ist 'animal rationabile’, also ein vernunftfähiges Wesen. Wenn das Natur- und Gattungswesen Mensch zur Vernunft und Moralität nur befähigt ist, bedeutet dies, dass der Mensch sich vernünftig und moralisch orientieren kann.7
Die Sprache als Kommunikationsmittel wurde in der Frühzeit des Menschen zunächst wohl lediglich für das Aufmerksammachen anderer auf Vorgänge, auf Wahrgenommenes genutzt, oft wohl in Verbindung mit einem Zweck, z.B. der Jagd. Zwangläufig wechselte das Mitteilen über in das Erlernen von zweckgemäßen Verhalten. In der Mythologie der Urgermanen kam dann schon die Lüge vor, besonders deutlich am Gott Loki, dem listenreichen Redner. Sie gehörte nicht in das Reich des Guten. Es ist allerdings offen, ob sich z.B. bereits in der Antike die menschliche Gruppe auf Grund ihrer Erkenntnisse selbst bestimmte Mindest-Forderungen an ihr Verhalten in der Gesellschaft stellte oder ob nur Philosophen sich mit dem „sittlichen“ Fehlverhalten eines Menschen befassten. So unterschied Platon8 (428 – 348 v.Zr.) das Gute und das Böse. Er meint, es sei ungerecht, einem anderen zu schaden. Aber es ist ungewiss, wieweit solche Lehre das gewöhnliche Volk erreichte und sich dort das Streben nach „Ethik“ verfestigte. Ob und in wieweit die Philosophen sich bewusst waren, dass gerade der Mensch mit den Möglichkeiten des Verstandes sich des Mittels wie des Lügens, Betrügens und Tricksens/Täuschens bedienen konnte, und dass jeder sich aus Gründen eines vernünftigen Miteinander dessen normativ zu enthalten habe, aber eben nicht unbedingt muss, ist unbekannt.
Es wird sich ein Empfinden von Recht allein schon deswegen herausgebildet haben, weil die Lüge als Folge einen Schaden hervorrufen konnte – und vorteilhaft, wenn man dies konkret am Lügner festmachen konnte. Ahasverus Fritsch (1629-1701) zählte den bewusst Lügenden zu den Betrügern und Gaunern.9 Aber im Allgemeinen wurde ethisch korrektes Verhaltens als eine Vorschrift nach dem Sinn des Daseins, so im Mittelalter zumeist entsprechend einem göttlichen Willen gesehen. Der Mensch steht da z.B. zwischen Gut und Böse, wobei das vielfach jeweils von einem Interpreten speziell gedeutet wurde. Der wichtigste Grundsatz der Aufklärung war dann, die Vernunft ist imstande, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Wer also sein Denken und sein Handeln nicht selbstbestimmt verantwortet, ermöglicht es anderen, es für dessen eigene Interessen auszunutzen, Man sollte sich deshalb seines eigenen Verstandes bedienen. Aber hier bestehen enge (natürliche) Grenzen. Die erzielten Ergebnisse der Wissenschaft sind dem Bürger entweder durch eine entsprechende restriktive Informationspolitik und/oder sein eigenes mangelhaftes Wissen nicht zugänglich bzw. nicht mehr verständlich. Deshalb bleibt er in Unmündigkeit und Gläubigkeit, wobei er häufig nur seinem Gefühl nachgeht.10
Ob es real dem menschlichen Wesen zuzumuten ist, immer die Gebote der Sittlichkeit aus sich heraus zu befolgen, dürfte zweifelhaft sein. Warum sollte er nicht alles praktizieren, was für ihn Erfolg verspricht?11 Oder genügt vielleicht die Einsicht in die Richtigkeit seines Handelns aus praktischen Gründen? Eine ehrliche Lüge ist etwas anderes als Unwahrhaftigkeit, die eine (charakterliche) Haltung ist. Gibt uns die Überlegung, welche Folgen die Haltung hat, das Recht zu lügen oder nicht zu lügen?12 Das bewusste Lügen gilt heute zwar als verwerflich, aber es wird in vielen Fällen keineswegs geahndet oder ein Politiker gar gebrandmarkt. Nicht geahndet wird im Bundestag, wenn einem Abgeordneten unterstellt wird, er habe die Unwahrheit gesagt, weil dies die Möglichkeit impliziert, er habe sich nur geirrt. Auch der Vorwurf, jemand habe „wissentlich die Unwahrheit“ gesagt, zieht gemeinhin keine Ordnungsmaßnahme nach sich.13
Das Lügen hat sich einerseits als nützlich und brauchbar erwiesen, andererseits jedoch wird derjenige, der im geeigneten Augenblick nicht lügt, als nicht zeitgemäß, als doof bezeichnet. Wir fordern unsere Mitmenschen auf, bei der Wahrheit zu bleiben, sagen jedermann, wie sehr es heute ‹ums Authentische› gehe, und wenn irgendwer diese Aufforderung dann für eine Wahrheit nimmt, finden wir ihn nicht mehr gesellschaftstauglich. Natürlich kann jeder, der die Wahrheit über das sagen möchte, was er denkt und fühlt, genau das auch immer und überall tun, sobald er spricht. Die Frage ist allein, welche Konsequenzen das nach sich zieht und wie lang sich noch Menschen in seine Nähe wagen. Wahrheit gefährdet nicht nur die Herrschaft der Diktatoren, weshalb sie in ihr auch sofort den Feind erkennen. Lügen ist nur als Ausnahme von der Regel erfolgreich, und wenn wirklich einmal jemand auf die Idee käme, eine Gemeinschaft auf der Pflicht zum Lügen zu begründen, wäre das Resultat allenfalls Dichtung.14
Auf Grund des menschlichen Lebens vor dem auferlegten Zwang zu moralischem Handeln unterlag der Mensch seinen Triebkräften.15 Sich fern von Verleumdern zu verhalten, ist also ein Zeichen des kulturellen Niveaus, aber zugleich ein Indiz für die Selbstbeherrschung einer Person. Wer also Unwahres über ein Individuum behauptet oder verbreitet gilt in unserer Gesellschaft und Rechtsordnung als Verleumder, insbesondere dann, wenn er bewusst und gezielt eine Person in seinem Ansehen oder in seiner Ehre herabsetzt. In der Rechtsordnung gilt § 186 StGB als üble Nachrede, insbesondere bei Personen des politischen Lebens § 188 StGB.16 Das Strafgesetzbuch kennt kein allgemeines Lügeverbot, also logischeerweised auch nicht im Zivilprozess.17 Der Anwalt selbst hat als Berufspflicht die der Wahrheit. Aber er muss seinen Mandaten als glaubhaft erscheinen lassen; was eine Gewissens-Diskrepanz ist.
In der Sprache kennen wir eine ganze Reihe von Synonymen für diesen Tatbestand wie verunglimpfen, diffamieren, entwürdigen, denunzieren, verdächtigen, schmähen usw. Man könnte das ein Familie von ähnlichem Verhalten bei einem Individuum in der Gesamtheit betrachten. Wesentlich ist das Motiv und das Ziel sowie das Tun wider besseres Wissen oder sogar gerade deshalb, weil man es nicht weiß, dass es anders ist, aber die Vermutung hat, es könnte
so sein oder es passe ins eigene Konzept. Die Gesellschaft hat also ein ganzes Sortiment dafür bereit gestellt, um seine eigene Ordnung ins öffentliche Leben hineinzubringen oder das Vertrauen untereinander zu erschüttern, meist zu eigenem Nutzen oder dem einer Gruppe. Im Arbeitsleben muss der Arbeitgeber einer Anschuldigung nachgehen und sie aus der Welt schaffen, im politischen Leben ist man da nicht so streng, obwohl klar ist, dass „immer etwas hängen bleibt“. In den Medien ist die Tatsachenverdrehung nicht selten und man tut das ungestraft oder ohne Rügen, Abmahnungen etc., weil es für die Mehrheit der Bevölkerung nicht nachprüf- oder erkennbar ist.18 Im Internet verbirgt man sich zuweilen hinter einem Pseudonym19, man scheut die Identifizierung. Es gibt keinen Abwehrmechanismus, der einen solchen Verstoß gegen die guten Sitten, regulär und automatisch in Gang setzt. An manchen Herabsetzungen ist man schon gewöhnt, weil es Standard geworden ist. Was man nicht unterschätzen darf, ist der Gruppendruck. Aus welchem Grund auch immer ist Russland die Inkarnation des Bösen. Dagegen etwas zu sagen, damit sind Sie von vornherein out. Also müssen Sie sich dagegen wehren. Dazu braucht man Informationen, dazu braucht man Zeit.20 In der Russophobie scheint keine bloße Abneigung durch, sondern eine regelrechte Ideologie, die sich in der Beschreibung alles Russischen äußert – von Geschichte über Politik und Kultur bis hin zum Alltag und Benehmen jedes einzelnen russischen Bürgers. Hier fällt einem nur eine Parallele ein – die zum Antisemitismus. Sie ist nur ein negativer Abdruck der westlichen Bedenken: Alles, was der Westen in sich mag, projiziert er in umgekehrter Weise auf Russland.21 Man kann sich dann die Fernsehsendungen (Nachrichten) ansehen und kritisch darauf achten, ob man das bestätigt findet. Manchmal werden Worte eingeflickt wie vermutlich, offenbar, wie man leicht sehen kann usw., aber eine Quelle wird nicht genannt, schon gar nicht eine seriöse, manchmal gibt es gar keine.22 Man kann so eine Rang-Liste für sich selbst aufstellen, welchen Angaben oder Sendern man trauen darf.23
Es scheint zur Gewohnheit geworden zu sein, im Sprach- und Bildgebrauch Assoziationen herzustellen, beispielsweise. dass man eine Nachricht mit Rechtspopulismus neben eine mit Rechtsextremismus zu stellen24, um psychisch einen (unwillkürlichen) Aha-Effekt auszulösen: also sind sie doch so etwas wie Extremisten, die sich u.a. rechtsbrecherisch benehmen.25 Die Moralität und dazu gehören das „Nichtlügen“ und „Nichtverleumden“ ist bei anderen kulturellen Umgebungen zwar nicht gleich, aber gleichartig.. Lügen ist im Wesentlichen eine sprachliche Äußerung, und die verbale ebenso wie die nonverbale Kommunikation werden entscheidend von der Kultur geprägt. So lügen zum Beispiel Europäer mit ihrer eher individu-alistischen Sozialisation anders als etwa Afrikaner oder Asiaten, deren Kulturen stärker auf das Kollektiv ausgerichtet sind. 26 Weil die indiv...