1. Vorwort – zwei brisante gesellschaftliche Themen und die Probleme der Gewaltdefinition und der Ethik
Ach nein - noch ein Fachbuch über häusliche Gewalt? Muss das sein? Besteht nicht mittlerweile auch in Deutschland eine wahre Flut wissenschaftlicher Texte zu diesem Thema (Täter- und Opferbefragungen, offizielle Kriminalstatistiken, fachtheoretische Erklärungsansätze der einzelnen Disziplinen)? Ist dieses Sonderforschungsgebiet nicht allmählich „abgegrast“ und ausgeschöpft?
Für die LeserInnen (kaum überraschend?) lautet die klare Antwort hier „Jein“. So kommt es stets darauf an, mit welcher wissenschaftlichen Intention und Blickrichtung die Muster familiärer Gewalt untersucht werden. Wie so oft besteht auch hier kein Königsweg, der alle Tatvarianten, sozialen Kontexte und Präventionsziele mit gleich guter Erklärungskraft ethisch, pädagogisch, soziologisch, psychologisch und (straf-)rechtlich abdeckt.
a) So führen Lamnek u. a. in ihrer umfassenden, informativen Studie (der hier weitgehend gefolgt wird) zum Beispiel mit Blick auf den früheren Tabubereich „Gewalt gegen Kinder“ aus:
„Nicht nur in quantitativer Hinsicht, was die Anzahl an Publikationen zu diesem Thema betrifft, sondern auch qualitativ, was die theoretische Durchdringung anbelangt, ist dieser Bereich aus dem Themenkomplex ‚Gewalt in der Familie’ relativ gut erschlossen (was man in Bezug auf andere Ausrichtungen häuslicher Gewalt nicht unbedingt feststellen kann).“
(Lamnek, Siegfried; Luedtke, Jens; Ottermann, Ralf; Vogl, Susanne: „Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext“; 3., erweiterte u. überarbeitete Auflg., 2013, Springer, Wiesbaden, 2012, S. 133)
b) Die „anderen Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ betreffen zum Beispiel die wissenschaftlich bestätigte Opferrolle auch von Männern. So schreibt Gemünden in seiner Arbeit zur Gewalt in Partnerschaften im Hell- und Dunkelfeld:
„In der häuslichen Sphäre stehen Frauen den Männern bezüglich (körperlicher) Gewalt in nichts nach, im Gegensatz zu ihrem außerhäuslichen Verhalten.“
(Gemünden, J.: „Gewalt in Partnerschaften im Hell- und Dunkelfeld. Zur empirischen Relevanz der Gewalt gegen Männer“; in: Lamnek, S., und Boatcă, M. [Hrsg.]: „Geschlecht – Gewalt - Gesellschaft“, S. 342 und S. 351, Opladen, 2003)
Tatsächlich hat sich bisher gezeigt, dass die weitgehend verbreitete Meinung, familiäre Gewalt sei fast ausschließlich männliche Gewalt schlicht nicht auf die vorgefundene Realität zutrifft. Bei der Meinungsbildung kommen hier nach Lamnek u. a. Alltagstheorien in das Spiel, die zum einen auf Geschlechterstereotypen beruhen, also soziokulturell tradierten Bildern zu Unterschieden zwischen Mann und Frau, die etwa der Frau – genetisch oder hormonell bedingt – einen geringeren Aggressionstrieb zuschreiben und damit die größere Wahrscheinlichkeit der „Opferrolle“ (Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.).
Zum anderen wirken auf die Meinungsbildung Geschlechtsrollenstereotypen ein, die über (sub-)kulturell vermittelte Erwartungen dem Mann und der Frau spezielle gewaltrelevante Verhaltensweisen unterstellen: Der Mann hat eher aktiv und aggressiv zu handeln, die Frau verstärkt passiv und defensiv. Man denke nur an die Alltagsweisheiten „richtige Jungen dürfen nicht weinen“ und „ein artiges Mädchen prügelt sich nicht“ (siehe dazu die ausführlichen Darlegungen bei Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.). Dass vorgenannte Meinungsbilder sich auch auf das strafrechtliche Anzeigeverhalten der Betroffenen und der Personen ihres Umfeldes auswirken, ist eine logische Folge: Die Kriminalisierung der Gewalt geschieht geschlechtstypisch (Lamnek u. a., 2012, S. 66). Wir werden später sehen, dass diese Problematik bei der Erfassung intrafamiliärer Gewaltkriminalität ein bedeutendes Hemmnis bildet und Kriminalstatistiken stark verfälscht.
c) Entsprechende Hürden und Forschungsdefizite finden sich ebenfalls bezüglich sozialer Phänomene wie der Gewalt unter Geschwistern. So betonen Steck und Cizek noch 2001, dass dazu nur wenige Studien verfügbar sind und zum Beispiel die psychische Gewalt unter Geschwistern bis heute praktisch unerforscht blieb (Steck, M., und Cizek, B.: „Exkurs: Geschwisterliche Gewalt“; In: Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen [Hrsg.]: „Gewalt in der Familie. Gewaltbericht 2001. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung“; S. 184 ff., Wien, 2001. Ebenfalls in: Lamnek u. a., 2012,
S. 166).
Diesen dürftigen Erkenntnisstand sehen Lamnek u. a. auch mit Blick auf die sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern oder die Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern: Im letzteren Fall konstatiert die Forschungsgruppe, dass ein öffentlicher oder wissenschaftlicher Diskurs kaum stattfindet. Hierbei läge ein Themenbereich vor, der in der Gewaltdiskussion nur wenig Beachtung fände (Lamnek u. a., 2012, S. 166 sowie S. 169).
Es ist fast unnötig, zu sagen: Alle diese Mängel tragen dazu bei, dass ein angemessenes Bild über die Realität der Gewalt in Familien auch heute nicht erstellbar ist. Die ungenügende Erforschung „anderer Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ verweist nicht zuletzt auf wissenschaftliche Defizite genereller Art. Ein entscheidendes Handikap der Forschungsarbeit ist, wie erwähnt, die begrenzte, besser gesagt: völlig unzureichende Datenlage. Bereits im Jahre 1995 konstatierte Schneider, es stehe …:
„… kein geeignetes Datenmaterial zur Verfügung, auf dessen Grundlage Aussagen über die Entwicklung von Gewalt in der Familie gemacht werden können.“ (Schneider, U.: „Gewalt in der Familie“. In: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 26 [1], S. 45)
Diese Aussage wird von der Forschungsgruppe um Lamnek gut fünfzehn Jahre später weiterhin bestätigt (Lamnek u. a., 2012). Ihre Bewertung der Situation in der Bundesrepublik im Gegensatz etwa zur US-amerikanischen Forschung:
„In Deutschland hingegen gab es bislang nur wenig Forschung über Ausmaß und Wahrnehmung häuslicher Gewalt in der allgemeinen Bevölkerung und damit Versuche, auch jene Personen zu erreichen, die nicht durch offizielle Kriminalstatistiken oder das Aufsuchen familien- oder frauenpolitischer Hilfseinrichtungen bzw. staatlich geförderte Begleitforschung erfasst wurden.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 51)
Gerade im Bereich der dringend benötigten Langzeitstudien bestünden fatale Forschungs- und Datendefizite: Lamnek u. a. führen in diesem Kontext aus, dass im deutschsprachigen Raum offensichtlich keine Arbeiten zur Gewalt in den Familien durchgeführt wurden – mit wenigen Ausnahmen im Forschungsbereich Gewalt in der Erziehung (Lamnek u. a., 2012, S. 54). Als Fazit lässt sich festhalten:
Bereits diese knappe Situationsbeschreibung zum Forschungsstand „häusliche Gewalt“ zeigt, dass ein allgemein befriedigendes Erkenntnisniveau in weiter Ferne liegt. Damit ist zugleich aber auch die gesellschaftlich hochrelevante Zielsetzung der Reduzierung von Gewaltbelastung in den Familien nur stark eingeschränkt erfüllbar. Diese Zielsetzung wäre effektiver zu erreichen durch kluge Nutzung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“, der nachstehend kurz skizziert werden soll und neben „häuslicher Gewalt“ das zweite brisante Thema abd eckt.
Die vorliegende Arbeit bietet keine umfassende neue Datenquelle und ebenfalls kein elaboriertes fachtheoretisches Erklärungsmodell und könnte dennoch zu einem weiteren (zugegeben: recht kleinen) Schritt auf dem Wege der Gewaltreduzierung in unserer Gesellschaft beitragen. Die Arbeitsziele lassen sich durch drei Hauptelemente definieren:
Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere"
Diese drei Kernthemen sind im nachfolgenden Text in knapper Form vorzustellen
1. 1 Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Zunächst einmal gilt: Die Darlegungen zum Stand der aktuellen Gewaltforschung richten sich nicht ausschließlich an den engen Kreis damit befasster Fachwissenschaftler. Vielmehr wird in besonderem Maße auch der öffentliche Diskurs angesprochen. „Häusliche Gewalt“ determiniert unsere angeblich so aufgeklärt-friedfertige deutsche Gesellschaft in unterschiedlichsten negativen Facetten, die nicht nur unserem ethischen Anspruch entgegenstehen. Damit wird das Gewalt-Thema - schlicht gesagt - viel zu wichtig, um es auf den universitären Elfenbeinturm zu begrenzen. Es ist somit ein wesentliches Arbeitsziel, interessierte Laien und Fachleute jeder Coleur aus behördlichen Praxis-Bereichen und Initiativen der Sozialhilfe oder Pädagogik kritisch über wesentliche Fragen und markante Inhalte im Erkenntnisstand zu informieren. Die Arbeit steht damit in einer Linie mit dem bereits veröffentlichten Beitrag zur „Spirale der Gewaltkriminalität“ (Mariak, V.: „Die Spirale der Gewaltkriminalität – Tierquälerei und Tiertötung als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen“, 2., erweiterte Auflg., Verlag tredition. Hamburg, 2019). Sie ist, wenn man so will, also ein „Fortsetzungsroman" auf kriminologischer Basis.
1. 2 Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in angeblich ethisch hochentwickelten Demokratien wie der Bundesrepublik oft genug nur hauchdünnn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Oftmals sind Frauen und Kinder als physisch schwächere Kontrahenten die Opfer häuslicher Gewalt, wenngleich sich auch eine Vielzahl von Fällen nachweisen lässt, in denen Männer in die Opferrolle gelangen - jedoch der Exekutive nur geringfügig bekannt und somit weitgehend ohne Sanktion.
Neben dem Hellfeld der polizeilich erfassten häuslichen Gewaltdelikte besteht ein immenses Dunkelfeld von familiären Gewalthandlungen, die - aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Anzeige gebracht werden und in den Familien bzw. den Privathaushalten für Außenstehende „nicht existent" sind. Wahrgenommen wird allein die heile, bürgerlich-normale Fassade. Schaut man also nur auf das Zahlenwerk der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), dann sollte jedem Interessierten bewusst sein, dass damit keinesfalls die „Kriminalitätswirklichkeit“ erfasst wird, sondern einzig und allein ein winziger Ausschnitt daraus. Wie sich die Relationen von Hellfeld und Dunkelfeld zueinander positionieren, veranschaulicht das nachstehende Schema:
(Quellen: Eigene Darstellung nach Abbildungen des Dunkelfeld-Hellfeld-Zusammenhangs in der kriminologischen Forschung. Siehe dazu zum Beispiel: Balschmiter, Peter, u. a.: „Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern“, der Abschlussbericht vom 25. 07. 2017, Dunkelfeldbefragung Mecklenburg-Vorpommern, Befragung zu Sicherheit und Kriminalität 2015 in Mecklenburg-Vorpommern, Projektleitung: Peter Balschmiter, Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, S. 15, Abb. 1: Verhältnis von absolutem und relativem Dunkelfeld; zitiert nach: Bundeskriminalamt 2015, S. 2)
Schema der Dunkelfeld – Hellfeld - Datenrelationen
Die vorstehende Übersicht zeigt das Datengefüge zum Kriminalitätsgeschehen im Hellfeld- und Dunkelfeldbereich. Auszugehen ist von einem absoluten Dunkelfeld, für das keine umfassenden Kenntnisse bestehen (1). Aus diesem Bereich entnimmt die Dunkelfeldforschung ihre Daten und deckt somit einen Bruchteil der Kriminalitätswirklichkeit auf (2). Zudem erfassen die Ermittlungsbehörden (primär die Polizei in der PKS) einen weiteren, wesentlich geringeren Teil der Kriminalität durch vorgelegte (Straf-)anzeigen. Dieser Ausschnitt „firmiert“ in der offiziellen Statistik unter dem Begriff Hellfeld (3). In wenigen Fällen besteht eine Deckungsgleichheit der Daten aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik. Diese Vermengung wird oft als gemeinsame Schnittmenge dargestellt (4). In beiden Datenerhebungen (Forschung und Polizei) finden jedoch auch Fälle ihren Platz, die strafrechtlich nicht relevant bzw. nicht zutreffend sind. „Fehlinterpretationen“ von Ereignissen entstehen sowohl bei Befragten als auch bei privaten Anzeigenden und Polizeikräften durch ihre individuell gefärbte Sicht auf soziale Konfliktsituationen (5 und 6). Nur am Rande: Verzerrungen resultieren auch durch Kriminalität, die nicht als solche gewertet und berichtet wird – etwa weil man sich nicht mehr genau erinnert oder Ereignisse als „alltagsnormal“ und „Familiensache" interpretiert. In diesen Fällen findet sich oftmals die Bezeichnung „doppeltes Dunkelfeld“, und natürlich sind sie ebenfalls Bestandteil des absoluten Dunkelfeldes. Letztendlich ergeben sich auch im Bereich der „Fehlinterpretationen“ Datenüberschneidungen aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik (7). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass in der einschlägigen kriminologischen Literatur eine weitere Differenzierung genannt wird, welche die sogenannte „Grauzone" der Kriminalität umfasst (Balschmiter, Peter, u. a., 2017, S. 16):
„Darüber hinaus zählt Schneider 35 Delikte, bei denen der Täter nicht abgeurteilt (Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) oder nicht verurteilt wird (Freispruch mangels Beweises) zum relativen Dunkelfeld. Er bezeichnet Delikte bei denen der Täter nicht ergriffen bzw. überführt wurde auch als ‚Graufeld der Kriminalität’ […] Für die Kriminalitätsmessung im Hell- und Dunkelfeld ist dies von Bedeutung, weil bei diesen Sachverhalten nicht aufgeklärt werden kann, ob es sich tatsächlich um Kriminalität (oder z.B. um eine zivilrechtliche Angelegenheit und damit um eine falsche Sachverhaltseinschätzung) handelt oder ob auch tatsächlich angezeigte Straftat vorliegt (z. B. Vortäuschung eines Sexualdelikts).“
Im Fazit ist die Feststellung wichtig, dass weder Dunkelfeld-Daten noch Hellfeld-Statistiken das deutsche Kriminalitätsgeschehen abbilden können und auch in der Ergänzung dazu nicht dazu in der Lage sind.
1. 3 Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere“
Wie bereits in der oben erwähnten Arbeit (Mariak, 2019) wird Gewalt gegen Menschen mit voraufgehender oder parallel stattfindender Gewalt gegen Tiere verknüpft. Wie sich in einer Vielzahl US-amerikanischer Studien bestätigte, gehen Tierquälerei und Tiertötung oftmals einher mit Gewalthandlungen gegen Menschen. Leider hat sich diese Erkenntnis zunächst nur in wenigen deutschen Fo...