Zeitstromende

Ausgewählte Gedichte

Henning Heske

• Verlag: tredition
• Jahr: 2018
• ISBN:
  9783746947747
• Thema: Literatur
• Thema: Poesie

Der Band versammelt die besten Gedichte von Henning Heske aus den letzten zwanzig Jahren. Sie erweisen sich als klug komponiert und nähern sich immer wieder dem Grenzbereich von Natur und Kultur, Wissenschaft und Kunst.

Raumzeitpunkte

Salzausblühung

Unter der Glutsonne der Salzwüste Kavir

zieht eine Karawane. Kamelmist

und gebleichte Gebeine weisen den Weg.

In den Hügeln eingegrabene Räuber,

in den Sandfeldern Schlangen, Skorpione.

Aus Lehm erbaute Karawansereien

erscheinen als süße Quellen. Tagesmärsche

geben die Entfernung an. Wanderdünen

verführen. Flugsand, pfadlose Steinebenen,

in Fünfecken aufgebrochener Boden.

Durchschnittene Telegraphenleitungen markieren

diese militärgeographische Expedition.

Der letzte deutsche Ritter reitet

bei Monddunkelheit durch porphyrisches Gebirge.

Windfänge leiten kühlende Luft

durch kunstvoll geführte Schächte.

Ein politisches Unterfangen mit Grabfeldern,

flirrend wie ein fliegender Teppich.

Grauzonenzeit

Eine Villa im noblen Moskauer Arbatviertel.

Hier organisiert er die geheime Zusammenarbeit:

die Fliegerschule nahe dem Badeort Lipezk,

die Gastestgelände, die Panzerschule an der Wolga.

Die Zwanzigerjahre blecken nur kurz ihr Gold,

Grau ist die Grundfarbe dieses Chamäleons.

Vor seinen Augen entsteht ein ambivalentes Bild.

Weite Inspektionsreisen in russischen Salonwagen

präsentieren Gelbkreuz und Grünkreuz, Teile

einer ehrgeizigen Arbeit am Fleischwolf der Moderne.

Die Jahre danach beginnen Blut zu spucken...

Staubspur

Ein Stern für die Wehrkraftzersetzer,

unsymmetrisch und sechszackig: Fort Zinna.

Der Tod „Made in Germany“ kommt per Akte.

Wüste, Moskau, West- und Ostfront überlebt,

nun packt ihn die Heimat – falsch kalkuliert.

Ist er zu lange in der Welt gewesen?

Der Brückenkopf im Hinterland: ein Gerichtshof.

Blut in den Zellen, an der Mauer, am Schloss.

Ein zunehmendes Grollen im Diesseits – und jenseits.

Tagelied

Der Letzte seiner Art

bindet meine Zeitmitschriften.

Deine Stimme höre ich

nur über das Handy, lese

verstümmelte Nachrichten. Irgendwo

treiben Inseln in gleißendem Licht,

nichts ahnend, wartend auf den Tsunami.

Der Nilbarsch frisst den Viktoriasee,

die Evolution ihre Kinder.

Die Kerze verbrennt die Nacht

mit den Hieroglyphen auf deiner Haut.

Schneckenspuren

Wehrhafter Weichling im Meer:

nackt, unbehaust und farbenfroh

mit scheinbar virtuellem Muster.

Die Schmetterlinge der See

mit einem feucht glitzerndem Körper:

Spanische Tänzerin und Prachtsternschnecke.

Ihre Larven segeln im Wasser.

Nachtaktive Flankenkiemer mit Rückenfransen.

Algengefräßige Zwitter, lebende Giftdeponien,

die übers Korallenriff kriechen.

Sitzen Signalstoffe in den Schleimspuren?

Die leuchtende Flamingozunge schweigt.

Einzigartig der Trick der Sackzüngler:

sie fressen Chloroplasten und genießen

den Stoffwechsel durch Fotosynthese.

Seepferde

Scheinbar mühelos schweben diese Taggestalten

über Seegraswiesen. Lebendige Schmuckstücke,

Chamäleons der Unterwasserwelt,

zum Trocknen aufgehängt – zerrieben.

Allmorgendlich vollführen sie einen Reigen

zwischen Korallenwäldern. Meeresschlüssel

zu den Schatztruhen der Ozeane,

in Rosenöl ertränkt – gekocht.

Zielsicher saugen sie winzige Schwebgarnelen

durch ihre pipettenförmige Schnauze. Wasserritter,

wehrlos im farbigen Tarnmantel,

von Sammlern abgerupft – geröstet.

Sekundenlang leuchten diese Fischkörper

mit maskuliner Bruttasche. Fabelwesen,

maritime Nachfahren von Poseidons Rössern,

zu Asche verbrannt – verpulvert.

Kein Bärenkult

Im Licht von Fettfunzeln entstehen

prähistorische Panoramen – Schein.

Trotz Flöten aus Schwanenknochen

und Venusfiguren: der Auftritt, ein Genozid.

Non Omen – eher eine biblische Story.

Der Exitus des Neandertalers als Kriegsverbrechen.

Elfenbeinperlen für den Sieger, Asche

für den ersten und letzten Innerirdischen.

Leopardenkammer

Bewegte Partitur im privaten U-Bahnhof

aus Kalkstein: ein Aulosbläser spielt

zum Totentanz, unterstützt von einer Lyra.

Ein unterirdisches Festgelage auf Klinen.

Lorbeer für den Untoten, ein Sarkophag

für das rohe Ei Leben. Flora und Fauna

begleiten den Transit. Zwei Leoparden

überwachen den fensterlosen Raum,

ausgeschmückt mit geometrischen Figuren:

Kreis und Quadrat. Pars pro Toto –

ein kosmisch orientiertes Abbild.

Im Kreuzpunkt der Richtungen die Weltachse,

kultischer Schacht ins Totenreich,

ins Elysium, wo Etrusker uns erwarten.

Urbild

Auf dem Fischmarkt im indonesischen Manado

erstaunt ein seltsames Exemplar die Meeresbiologen:

Latimeria chalumnae, ein Quastenflosser, geboren im Devon

nahe dem Kontinent Gondwana. Geologische Zeiten.

Seit über 350 Millionen Jahren fast unverändert,

groß und schwer wie ein Mensch, dieser Vorfahre.

Ein lebendes Fossil mit seiner unerzählten Geschichte

der Wellen als letzter evolutionärer Vorbote.

Auf dem internationalen Schwarzmarkt

wird er ausverkauft. Historische Zeiten.

Kultfiguren

Raben wiesen den Weg ihrer Drachenboote.

Ohne Kompass und Sternenkarte

navigierten sie auf schlanken Plankengerüsten,

getrieben vom Fieber nach reicheren Küsten,

bis nach Neufundland, Kiew und Bagdad.

Rahsegel am Horizont – auf vier Kontinenten.

Totsch...

Inhaltsverzeichnis

• Cover
• Titel
• Impressum
• Landmarken
• Nekropolis
• Leuchtspuren
• Raumzeitpunkte
• Ikonographien
• Determinanten
• Anmerkungen
• Inhalt