1 Vorbemerkungen
Ein großer Traum der Menschheit, in einer Gesellschaft zu leben, in der Freiheit und soziale Gerechtigkeit für alle Mitglieder eines Gemeinwesens zum Alltag gehören, ist wahrscheinlich so alt wie die menschliche Zivilisation selbst. Alle Bestrebungen in der Vergangenheit bis in die Neuzeit sind bisher an einer Verwirklichung dieser Sehnsucht gescheitert. Es steht außer Zweifel, dass die Menschheit die größten Fortschritte in Wissenschaft und Technik, im Gesundheitswesen und in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unter kapitalistischen Bedingungen erzielt hat. Was unter diesen Bedingungen jedoch bisher nicht erreicht wurde ist die Herstellung von Chancengleichheit und sozialer Sicherheit für alle Mitglieder eines Gemeinwesens, wobei ich unter Chancengleichheit die uneingeschränkte Möglichkeit der individuellen Teilhabe aller Mitglieder des Gemeinwesens am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben verstehe, ohne der Gleichmacherei das Wort zu reden.
In vielen Veröffentlichungen, Talkshows und Sendungen zum Zeitgeschehen werden die sozio-ökonomische Missstände in den Mitgliedsländern der Europäischen Union und der Welt häufig angesprochen. Es geht u.a. um soziale Gerechtigkeit, um wachsende Ungleichheit bei den Einkommen, um Langzeitarbeitslosigkeit und Bildungschancen, um Kinder- und Altersarmut, um den Umgang mit Flüchtlingen, um die Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern der EU, um nur einige zu nennen.
Bekanntlich gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, wie Fehlentwicklungen im sozio-ökonomischen Bereich behoben werden können. Manche sind der Auffassung, dass sich die zu beobachtenden Defizite durch die Förderung eines volkswirtschaftlichen Wachstums und das Zusammenspiel der Marktkräfte automatisch von selbst beheben. Andere setzen darauf, dass durch die Umverteilung der Einkommen von Oben nach Unten soziale Sicherheit und Gerechtigkeit erreicht werden können. Teilweise macht man die Gier der Manager für ökonomische Entgleisungen in der Volkswirtschaft, wie z.B. bei der Bankenkrise, verantwortlich und hofft durch Regulierung der Prozessorganisation im Finanzsektor derartige Entwicklungen auszuschließen. In Wahlversprechungen und Parteiprogrammen wurden immer wieder auf die eine oder andere Weise Vorhaben und Maßnahmen zur Behebung sozio-ökonomischer Missstände verkündet, und das über Jahrzehnte. Die erhofften Veränderungen sind nicht eingetreten und die Gesellschaft ist tiefer gespalten als je zuvor. Das gegenwärtige Denken vieler Menschen scheint zunehmend durch überkommene, traditionell bedingte Denkmuster, die ein kreatives Infragestellen von Sachverhalten ausschließen, überlagert zu sein. Ich denke, dass auch hier zum Teil die Ursachen für eine europaweite Zunahme rechtsradikaler und nationalistischer Strömungen zu suchen sind.
Wie könnte eine in sich schlüssige Vision für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten aussehen? Welche vorausschauenden Strategien benötigen wir zur Lösung der anstehenden sozio-ökonomischen Probleme in Deutschland, Europa und der Welt, wenn wir dramatische, wenn nicht sogar katastrophale Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft vermeiden wollen?
Wie ist der erforderliche Paradigmenwechsel zu gestalten, wenn er gesamtgesellschaftliche Akzeptanz finden soll und die Gesellschaft eint anstelle sie zu spalten?
Wir brauchen eine Vision für ein zu schaffendes Gemeinwesen, in dem umfassende Freiheit des Einzelnen und soziale Gerechtigkeit für alle im Sinne von Chancengleichheit und sozialer Sicherheit als Allgemeingut dauerhaft gewährleistet sind, Gleichmacherei und Langzeitarbeitslosigkeit vermieden werden, die Dynamik und Effektivität profitorientierter Marktwirtschaften bei der Entwicklung und Einführung von Sachgütern und Dienstleistungen erhalten bleiben und die Gesellschaft ihre gesamten Tätigkeiten so ausrichtet, dass diese im Einklang mit den Anforderungen an die Erhaltung der Umwelt stehen.
Insbesondere müssen wir Antworten auf folgende Fragestellungen finden, wenn wir uns auf den Weg begeben wollen, eine solche Vision Wirklichkeit werden zu lassen:
• Können bei kompletter Beibehaltung der aktuellen Systemorganisation Chancengleichheit und soziale Sicherheit als Allgemeingut nachhaltig gewährleistet werden, oder mit anderen Worten, können die eingangs aufgeführten sozio-ökonomischen Missständen in einer rein profitorientierten Marktwirtschaft dauerhaft behoben werden?
• Worin liegen die tieferen Ursachen für sozio-ökonomische Fehlentwicklungen?
• Weshalb verschärfen sich die sozio-ökonomischen Widersprüche zwischen den führenden Volkswirtschaften der Welt?
In den nachfolgenden Ausführungen habe mir in keiner Weise das Ziel gestellt die zu beobachtenden sozio-ökonomischen Missstände und Fehlentwicklungen in den kapitalistischen Volkswirtschaften detailliert aufzulisten und einer kritischen Analyse zu unterziehen, sondern unternehme aus system-theoretischer Sicht den Versuch die Entwicklungstendenz profitorientierter Marktwirtschaften anhand definierter System-Modelle für geschlossene bzw. offene Volkswirtschaften vorherzusagen. Dabei bin ich stets bemüht volkswirtschaftliche Zusammenhänge, soweit wie möglich, mathematisch abzubilden und zu überprüfen, ob die Ergebnisse einer letztlich theoretischen Analyse in der objektiven Realität ihre Widerspieglung finden. Die Systemgleichungen für geschlossene bzw. offene Volkswirtschaften habe ich aus meiner Veröffentlichung „Ratio versus Profit“1 übernommen, weil sonst die nachfolgenden Ausführungen nicht schlüssig nachvollziehbar sind. Im Zusammenhang damit zeige ich gleichzeitig, wie sich diese Gleichungen aus allgemeinen systemtheoretischen Überlegungen ableiten lassen.
1 Walter Ponner, „Ratio versus Profit“, 2016, Verlag: tredition GmbH, Hamburg
2 Allgemeine Systemdefinition
Ein System ist die Gesamtheit von Elementen, d.h. systemrelevanten Grundbausteinen, die miteinander in Wechselwirkung stehen und die Systemeigenschaften bestimmen. Man unterscheidet geschlossene und offene sowie dynamische und statische Systeme. Offene Systeme stehen in Wechselwirkung mit der Umgebung. Der Zustand dynamischer Systeme ist im Unterschied zu statischen Systemen zeitabhängig.
Die Systemeigenschaften hängen ab von
- der Art und Weise der Wechselwirkungen zwischen den Elementen
- der Systemstruktur
- den systemrelevanten Prozessabläufen
- den Wechselwirkungen mit dem Umfeld bei offenen Systemen.
Subsysteme sind integraler Bestandteil übergeordneter Systeme.
3 Allgemeine Definition der Volkswirtschaft als sozio-ökonomisches System
Zu den Elementen einer Volkswirtschaft zählen
- alle Produktions- und Dienstleistungsunternehmen
- alle staatlichen Verwaltungsorgane
- alle Personen in den Privathaushalten des Gemeinwesens
Die Art und Weise der Wechselwirkungen zwischen den Elementen der Volkswirtschaft wird über gesetzliche Regelungen und Vorschriften gewährleistet.
Die Systemstruktur ist durch die Aufbauorganisation aller Bereiche des Gemeinwesens einschließlich der Volkswirtschaft gegeben.
Zu den systemrelevanten Prozessabläufen gehören
- der Austausch von Informationen zwischen den Wirtschaftseinheiten
- der Austausch von Produkten und Dienstleistungen auf monetärer Basis über Angebot und Nachfrage
- die Regulierung der Finanzströme zwischen den Wirtschaftseinheiten
- die Export- Import-Beziehungen zwischen Volkswirtschaften.
Die Wechselwirkungen mit dem Umfeld erfolgen bei offenen Volkswirtschaften über die Außenwirtschaftsbeziehungen. Dabei ist ein Austausch von Gütern, Finanzen, Kapital und Arbeitskräften möglich.
Offene Volkswirtschaften sind vergleichbar mit geschlossenen Volkswirtschaften, die durch Außenwirtschaftsbeziehungen überlagert werden. Reale Volkswirtschaften sind offene Volkswirtschaften, während die Weltwirtschaft als geschlossene Volkswirtschaft anzusehen ist.
Unter diesem Aspekt sind reale Volkswirtschaften Subsysteme der Weltwirtschaft.
4 Definition der Systemmodelle für eine geschlossene bzw. offene Volkswirtschaft
Die reale Volkswirtschaft besteht aus einer Vielzahl von Produktions- und Dienstleistungsunternehmen der unterschiedlichsten Art sowie aus Verwaltungsorganen, die die Rahmenbedingungen für die volkswirtschaftlichen Prozessabläufe und das Zusammenleben der Menschen festlegen und überwachen. Die Produktions- und Dienstleistungsunternehmen, die Verwaltungsorgane und die der Volkswirtschaft zuzurechnende Bevölkerung sind für mich die Elemente der Volkswirtschaft, die ich im Weiteren als Wirtschaftseinheiten bezeichne. Es ist offensichtlich, dass die konkreten Sachverhalte der einzelnen Wirtschaftseinheiten in einem volkswirtschaftlichen Modell keine Berücksichtigung finden können. Deshalb habe ich gleichartige Wirtschaftseinheiten zu Wirtschafts...