Krise ohne Grenzen
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Krise ohne Grenzen

Hintergründe und Kollateralschäden deutscher Flüchtlingspolitik

  1. 180 Seiten
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Krise ohne Grenzen

Hintergründe und Kollateralschäden deutscher Flüchtlingspolitik

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Über dieses Buch

Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht. Weltweit sind es über 60 Millionen. Deutschland ist eines der Hauptziele für Flüchtlinge und Migranten aus Afrika und Nahost. Durch die neue Völkerwanderung entstehen große Probleme für die Herkunfts-, Transit- und Zielländer. Doch anstatt Fluchtursachen nachhaltig zu bekämpfen, verstärkt die Bundesregierung das Problem: Ihre Willkommenspolitik sendet den Migranten falsche Versprechen und ermuntert sie zum Aufbrechen. Ihre Fluchtursachenbekämpfung ist nicht effektiv. Mit ihren Quoten spaltet sie Europa. Und ihren Einfluss in der Welt nutzt sie auf eine Weise, die destabilisierende und destruktive Kräfte stärkt. Am Ende werden so immer neue Fluchtursachen geschaffen.Ist diese Politik wirklich alternativlos?

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Information

Zielland Deutschland

Bevor der Krieg in Syrien sie zur Flucht zwang, war die 19jährige Doaa eine ehrgeizige Schülerin. Dann floh sie mit ihrer Familie nach Ägypten, wo sie – ohne offizielle Arbeitserlaubnis – in prekären Verhältnissen lebte. Dennoch war sie hoffnungsvoll, denn gemeinsam mit ihrem Verlobten Bassem wollte sie in Europa ein neues Leben beginnen. Schließlich fassten sie den Entschluss, die Überfahrt zu wagen. Bassem zahlte den Schleppern 5000 Dollar und sie zwängten sich auf ein überfülltes Fischerboot. Am vierten Tag auf See begannen die Menschen an Bord an einer sicheren Ankunft zu zweifeln. Die Zweifel schlugen in blanke Angst um, als die Schmuggler sie zwangen, in ein verrostetes, seeuntaugliches Boot umzusteigen. Die Passagiere weigerten sich und schnell entstand ein lautstarker Streit mit den Schleppern. Letztere rammten daraufhin in ihrer Wut das Fischerboot, das innerhalb von Minuten kenterte und sank. Doaa hörte, wie Menschen schrien und weinten und sie sah, wie ein Kind vom Schiffspropeller in Stücke gerissen wurde. Um sie herum schwammen Leichen. Die Überlebenden kamen in Gruppen zusammen und beteten. In der folgenden Nacht verloren viele die Kräfte und ertranken. Einer von ihnen übergab Doaa kurz vor seinem Tod seine 9 Monate alte Enkelin Melek. Auch Bassem verließen bald die Kräfte und Doaa musste mit ansehen, wie er ertrank. Überwältigt von Trauer und Todesangst nahm Doaa an diesem Tag ein weiteres Kind auf. Die Mutter der 18 Monate alten Masa gab ihr das Mädchen in der Gewissheit, dass sie selbst nicht überleben würde. Nun war Doaa für zwei völlig erschöpfte Kinder zuständig. So trieben sie zusammen im Wasser und um sie herum war niemand mehr, nur noch Doaa und die Babies. Doaa sang für die Mädchen und erzählte ihnen Geschichten. Ein langer Tag verging, dann noch einer. Am vierten Tag im Wasser sah Doaa ein Handelsschiff. Zwei Stunden schrie sie um Hilfe, bis die Suchscheinwerfer des Schiffes sie fanden. Das zweite Baby, die 8 Monate alte Melek, starb noch an Bord des Handelsschiffes. Nur Doaa und Masa überlebten.
Die Geschichte von Doaa wurde später von der UN-Flüchtlingshilfe als eine von zahlreichen Berichten der gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer veröffentlicht. Sie steht stellvertretend für das unermessliche Leid, die Angst und die Traumata, die tausende Flüchtlinge und Migranten täglich auf ihren Reisen mit ungewissem Ausgang durchleben müssen. Diese Geschichten werfen Fragen auf nach dem „Warum“ und danach, wie es dazu kommen konnte. Wieso riskieren so viele Menschen die gefährliche Reise? Um eine Antwort zu finden, muss man den Blick richten auf die Herkunftsländer und die dortigen Zustände, aber auch und insbesondere auf das Ziel der meisten Flüchtlinge, auf Deutschland. Denn es waren und sind häufig Anreize und Hoffnungen, die aus Deutschland zu den Flüchtlingen gesendet werden und sie so zu dem endgültigen Schritt, die Überfahrt gerade jetzt zu wagen, ermutigen.
Es ist unbekannt, wie viele Flüchtlinge 2015/16 nach Deutschland einreisten. Für diejenigen Migranten, deren Ziel etwa Großbritannien, Dänemark oder Schweden ist, war auch Deutschland nur ein Transitland. Im EASY-Verfahren erfasst wurden allein 2015 1,1 Millionen. Registriert wurden schließlich etwa 480.000 Asylsuchende in 2015 und 725.000 in 2016. Somit war Deutschland das Hauptzielland in Europa. Unter den Flüchtlingen bilden junge Männer die Mehrheit. 2015 waren nur 31 Prozent der in Deutschland Asylsuchenden Frauen. 71 Prozent der Flüchtlinge waren unter 30 Jahren alt. 2015 kamen 70.000 Menschen als Ehepartner oder Kinder anerkannter Flüchtlinge im Rahmen des Familiennachzugs. In 2016 waren es 105.000. Im Jahr 2015 waren noch viele Migranten aus den Balkanländern unter den Ankommenden gewesen. Nachdem diese zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden und die Migranten somit keine Aussicht mehr auf einen Aufenthaltstitel haben konnten, sanken Zahlen der asylsuchenden Bosnier, Serben, Albaner und Mazedonier drastisch. 2016 waren fast die Hälfte der Menschen syrische, gefolgt von afghanischen, irakischen, iranischen, und eritreischen Staatsbürgern. Auch 14.000 Staatenlose und etwa je 15.000 Pakistaner und Nigerianer waren dabei. Etwa 70 Prozent aller nach Europa Geflüchteten waren (meist junge) Männer. Signifikant höher war dieser Männerüberschuss bei Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea, während die Familien oft in der Hoffnung zurückblieben, später im Rahmen des Familiennachzugs ohne Risiko nachreisen zu können.
Unabhängig von der Herkunft wählten die meisten Migranten die Westbalkanroute. Sie erreichten die EU zunächst in Griechenland, dessen Außengrenze mit seinen zahlreichen Inseln schwer kontrollierbar ist. Nachdem sie von den Inseln auf das griechische Festland gebracht wurden, ließ das von der Staatsschuldenkrise stark lädierte Griechenland die Migranten ohne Registrierung weiter nach Norden reisen. In Mazedonien und Serbien verließen sie dann wieder das Gebiet der EU und erreichten in Kroatien erneut die EU und in Ungarn oder Slowenien den Schengen-Raum. Insbesondere Ungarn nahm die mit dem Dublin-Abkommen verbundene Pflicht zur Registrierung der Migranten sehr ernst, was dazu führte, dass es zu dem EU-Land wurde, welches im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl die meisten Asylanträge verzeichnete. Allerdings waren die Schutzquoten, also die Anzahl der anerkannten Asylanträge und der damit verbundenen Aufenthaltstitel, in Ungarn extrem niedrig. Zu der niedrigen Zahl trug jedoch auch der Umstand bei, dass viele Flüchtlinge noch während der laufenden Verfahren Ungarn wieder verließen und weiter nach Norden zogen. Von Ungarn und Slowenien reisten sie dann über Österreich nach Deutschland. In den Transitländern bewegten sich die Flüchtlinge meist mit Bussen, Zügen oder Taxis. Die jeweiligen Staatsgrenzen wurden zu Fuß überschritten.
Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, darf und soll sich nicht wiederholen.“ Nach ihren Beteuerungen, wir dürften unsere Werte nicht über Bord werfen und ihrem Credo: „Wir schaffen das“ schlug die Bundeskanzlerin auf ihrer Nominierungsrede zum CDU-Vorsitz und zur Kanzlerkandidatur im Winter 2016 neue Töne an. Ungewiss bleibt vor allem mit Rückblick auf ihr langes und vehementes Werben für eine Willkommenspolitik während des Höhepunktes der Flüchtlingskrise, ob dieser Sinneswandel wirklich das Ergebnis einer tieferen Erkenntnis war. Oder war es, so kurz nachdem die Wähler in den USA das Unglaubliche getan und mit der Trump-Wahl dem Establishment eine Absage erteilt hatten, nur die Sorge darum, selbst nicht wiedergewählt zu werden? Wieso wurde die Flüchtlingskrise der Bevölkerung zunächst als Riesenchance verkauft und nun als etwas, das sich niemals wiederholen darf, dargestellt? Hat die Kanzlerin ihren Fehler erkannt und eingestanden? Oder reitet sie nur immer noch auf derselben Gefühlswelle wie 2015, nur dass die Welle mittlerweile zurückgeschwappt ist? Viel bedeutender als die persönlichen Motive der Kanzlerin ist allerdings die Frage danach, wie diese Situation eigentlich entstanden ist.
Diese Wanderungsbewegungen quer durch Europa waren möglich geworden, da mit der im Herbst 2015 getroffenen Entscheidung der Bundeskanzlerin die deutschen Grenzen geöffnet und syrischen Flüchtlingen ein genereller Anspruch auf Asyl angedeutet worden waren. Eigentlich ist nach der EU-Verordnung 343/2003, dem sogenannten Dublin-II-Abkommen, derjenige EU-Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig, in dem der Flüchtling als erstes den Boden der EU betreten hat. Diese Regelung wurde vereinbart, um Wirtschaftsmigration und Asylmissbrauch zu begrenzen. Gleichzeitig soll die EU Asylsuchenden aber Schutz bieten. Nur sollen die Flüchtlinge eben nicht das Recht haben, sich ihr Wunschland auszusuchen. Mit ihrer Entscheidung, die Flüchtlinge, die am Budapester Bahnhof „festsaßen“, über Österreich einreisen zu lassen, hatte Angela Merkel das Dublin-Verfahren für gescheitert erklärt, was zu Verfassungsbeschwerden von Juristen und zu dem Vorwurf führte, Merkel begehe Rechtsbruch. Die Bundeskanzlerin berief sich als Antwort auf diese Beschwerden wiederholt auf die in Artikel 1des Grundgesetzes garantierte Würde des Menschen und auf die oberste staatliche Verpflichtung, diese zu schützen. Auf jeden Fall verbreitete sich die Nachricht, dass Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hatte, rasend schnell in den Flüchtlingslagern im Libanon, Jordanien und der Türkei, wo sich hunderttausende Flüchtlinge, die sich die teure Reise und die Dienste der Schlepper leisten konnten, auf den Weg machten. Der Flüchtlingsstrom schwoll innerhalb weniger Tage stark an und Deutschland wurde fast zum einzigen Zielland, nachdem Schweden rasch reagiert und seine Flüchtlingspolitik radikal geändert hatte. Die Situation verschlimmerte sich durch zahlreiche Äußerungen deutscher Regierungspolitiker, die als Einladung verstanden wurden und die Flucht beziehungsweise Migration zahlreicher Menschen im Nahen und Mittleren Osten und in den Mahgreb-Staaten endgültig auslöste. Aussagen wie die, dass Deutschland Fachkräftemangel habe und motivierte Arbeitskräfte benötige, dass das Asylrecht keine Obergrenze kenne oder dass syrische Flüchtlinge ohne weitere Prüfung den Asylstatus erhielten, motivierten Abertausende perspektivlose Afghanen, Syrer, Iraker, Iraner, Nigerianer, Eritreer, Tunesier, Marokkaner und Pakistaner sich auf den Weg in das gelobte Deutschland zu machen. Dazu muss man wissen, dass Deutschland in diesen Ländern generell einen sehr guten Ruf genießt. Die sprichwörtliche deutsche Ordnung und Sicherheit sind Tugenden, um die wir in den konfessionell und sozial zerrütteten Staaten in Nahost und Nordafrika sehnsuchtsvoll beneidet werden. Hinzu kommt ein funktionierendes Sozialsystem, das den Asylsuchenden selbst im unsicheren Zustand der laufenden Antragstellung eine soziale Sicherheit bietet, die in der Heimat nicht existiert. Dabei kann vom Flüchtling natürlich nicht verlangt werden, dass er über die Finanzierung der deutschen Sozialsysteme informiert ist. Der Vorwurf an die Flüchtlinge, sie seien Schmarotzer, ist überzogen und nicht gerechtfertigt. In der Selbstwahrnehmung vieler Migranten ist das Angekommen-Sein in Deutschland zunächst ein persönlicher Aufstieg. Dass das Geld, wovon sie gezwungenermaßen nach ihrer Ankunft jahrelang abhängig sind, von der Solidargemeinschaft der Steuerzahler erwirtschaftet wurde, verstehen die meisten nicht. Neben der inneren und sozialen Sicherheit spielen die vergleichsweise guten Bleibeperspektiven und Berufschancen, Bildungsangebote, solidarisch finanzierte, für Bedürftige kostenlose Gesundheitsversorgung sowie die neuerdings auch mit Hilfe zahlreicher Ehrenamtlicher gegründeten Integrationskurse eine Rolle als sogenannte Pull-Faktoren.
Niemand verlässt seine Heimat leichtfertig.“ Falls Merkel damit meinte, dass die Flüchtlinge alle in akuter Not sind, kann man diesen Satz ganz klar als falsch bezeichnen. Fakt ist, dass Nord- und Mitteleuropa und insbesondere Deutschland für eine Masse von mehreren hundert Millionen wanderungsbereiten Menschen ein Sehnsuchtsziel ist. Auf diese Zahl hat der rennommierte Oxford-Professor, Ökonom und Migrationsforscher Paul Collier hingewiesen. Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Gallup haben ergeben, dass in den Ländern südlich der Sahara rund ein Viertel aller Befragten gerne auswandern würden. Der Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn geht sogar von 600 Millionen Wanderungswilligen aus. Bleibt also die Frage, ob Merkel es nicht wusste oder aufgrund ihres Fehlers der Grenzöffnung die Wahrheit nur nicht eingestehen wollte. Fakt ist, dass ein ganzes Bündel von Gründen die Menschen zu uns führt. Es ist nicht immer Flucht und Vertreibung. Es sind wirtschaftliche Not, Perspektivlosigkeit und Umweltverschmutzung. Es sind der gute Ruf Deutschlands und die Aussicht auf soziale Unterstützung oder vermeintlich kostenlose medizinische Behandlung. Es sind die Konsumtempel und die Vielfalt billiger Waren. Es sind die Selfies derjenigen, die hier bereits angekommen und Bilder aus den Glitzer- und Konsumtempeln nach Hause schicken. Es sind die Aussichten auf eine deutsche Aufenthaltsgenehmigung oder gar Staatsbürgerschaft, die mit ungeahnten Reisemöglichkeiten verbunden sind und in der Heimat als unglaublich begehrte Statussymbole gelten. Es sind die Ehefrauen und Mütter und Schwestern, die beim Blick auf die schönen Bilder aus der neuen Heimat zu ihren Männern, Söhnen und Brüdern sagen: „Was machst du noch hier, dein Cousin hat es auch geschafft!“ Es sind die Verwandten, die bereits hier sind und den Neuankommlingen Starthilfe für ein neues Leben geben können. Es sind die Mythen über ein Deutschland, das nach jungen, arbeitswilligen Menschen hungert und diesen sehr bald nach ihrer Ankunft ein Haus und ein Auto gibt. Es ist das Bewusstsein, mit dem man groß geworden ist, nämlich dass alle Waren und Produkte aus Europa - insbesondere aus Deutschland - stets eine viel bessere Qualität haben als die Waren und Produkte aus dem eigenen Land. Es ist der tägliche Verkehrsstau in der unkontrolliert gewachsenen Metropole. Es ist die Korruption in einem Staat, der mit den Folgen einer jahrzehntelangen Bevölkerungsexplosion zu kämpfen hat und Mühe hat, die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet aufrecht zu erhalten. Es ist der Frust über ein Gesellschaftsmodell, in dem viele junge Menschen sich gefangen fühlen und in dem Wertvorstellungen nicht an die Moderne angepasst wurden. Und es sind all diese Faktoren zusammen, die die Menschen tagtäglich mit dem Gedanken spielen lassen, alles zurück zu lassen und in Europa, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.
Im Herbst 2015 war es dann zusätzlich die Aussicht darauf, dass man es als Syrer besonders leicht haben wird, da Asyl und Aufenthaltstitel für syrische Staatsbürger garantiert seien. In den Armenvierteln der Großstädte von Tunesien und Marokko lernten junge Männer nun den syrischen Dialekt des Arabischen. Afghanen, Iraker und Nordafrikaner kauften sich in der Türkei syrische Pässe. Der IS hatte zuvor die Druckmaschinen und tausende Rohlinge der Pässe erbeutet und druckte diese nun gegen Geld. Selbst der niederländische Premier Mark Rutte wurde Syrer, nachdem ein holländischer Journalist auf ebendiesem Wege einen Pass auf Rutte ausstellen lies – in nur 2 Tagen und für 750 Euro. Das Vortäuschen der syrischen Nationalität – mit oder ohne gefälschten Pass – wurde zu einem Massenphänomen. Etwa 40 Prozent aller über Griechenland eingereisten Marokkaner gaben sich 2015 als Syrer aus. Innenminister de Maizière gab zwar zu, dass die Bundesregierung keine belastbaren Zahlen über Täuschungen bei Staatsbürgerschaften habe, schätzte die Zahl der „falschen Syrer“ aber auf etwa 30 Prozent all derer, die während der Einreise oder des Asylantrags angaben, Syrer zu sein. An dieser Zahl hielt er auch auf Nachfragen fest.
Merkels Willkommenspolitik selbst war zu einer Fluchtursache geworden. In einer globalen Gemengelage, in der keines der großen Schlüsselprobleme der Gegenwart auch nur annähernd gelöst war, hatte die Bundesregierung mit einem Handstreich die Grenzen für alle Leidenden geöffnet. Erschreckend mit anzusehen und anzuhören war die Ursachenanalyse zahlreicher deutscher Spitzenpolitiker, die das Problem auf vermeintliche Tyrannen und Despoten reduzierten und bis heute nicht begriffen haben, dass die Destabilisierung vieler Länder in Nahost und Afrika auch und vor allem die Folge einer Bevölkerungsexplosion ist. Genauer gesagt: In 30 oder 35 Jahren haben die Herkunftsländer der Flüchtlinge eine Verdreifachung oder gar Vervierfachung der Bevölkerungszahlen erlebt. Durch das rasante Bevölkerungswachstum ist in allen massiv von Abwanderung betroffenen Ländern ein Youth Bulge, eine riesige Blase an jungen Menschen entstanden, für die es keine Partizipationsmöglichkeiten im Arbeitsmarkt gibt. Bessere Bildung und globalisierte Medien haben in dieser Jugend Erwartungen geweckt, die aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und staatlicher Gängelung enttäuscht wurden. Die Probleme sind aber nicht nur dem Unwillen oder dem Demokratiedefizit der jeweiligen Regierungen geschuldet. Wenn bei jahrzehntelang sehr hohen Geburtenraten gleichzeitig die Kindersterblichkeit sinkt, dabei aber im gesamten Zeitraum kein nennenswertes Wirtschaftswachstum stattfindet, das den Nachgeborenen später eine Integration in den Arbeitsmarkt und in das Wirtschaftsleben ermöglichen könnte, entsteht irgendwann automatisch ein Problem. Die Bevölkerung Syriens beispielsweise ist von 3,4 Millionen 1950 auf 8,9 Millionen 1980 und auf über 20 Millionen im Jahr 2014 gewachsen. Irak hatte 1950 nur 5,7 Millionen Einwohner. 1980 waren es 13 Millionen, heute sind es 36 Millionen. Im Falle Afghanistans sind die Zahlen ähnlich, trotz Abwanderung und jahrelangen, verlustreichen kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch heute verzeichnen viele der Herkunftsländer trotz bereits stattfindender Destabilisierung und verlustreichen Kriegen hohe Bevölkerungswachstumsraten. In Nigeria, einem der Hauptherkunftsländer, werden jedes Jahr 6 Millionen Kinder geboren. Das ist so viel wie in der gesamten Europäischen Union. Ende des Jahrhunderts wird jeder dritte Mensch in Afrika leben. Die Gesamtfruchtbarkeitsrate, also die mittlere endgültige Kinderzahl liegt im Irak und auch in Eritrea bei 4,2 Kindern pro Frau. In Afghanistan beträgt die Zahl 5,3. Zieht man zum Vergleich Deutschland heran, so lag die Zahl hier nach dem Zweiten Weltkrieg nur von 1955 bis 1965 auf einem Niveau von über 2,1. Dieser Wert beschreibt die Nettoreproduktionsrate von 1, was wiederum bedeutet, dass die Bevölkerungszahl bei diesem Wert konstant bleibt. Sowohl vorher als auch nachher lag der Wert deutlich darunter. Heute liegt die Zahl bei 1,5, was bei uns für abnehmende Bevölkerungszahlen sorgt, wenn man die Zuwächse durch Migration heraus rechnet. Die Menschen, die heute in den arabischen Ländern aufbegehren und ihrer Heimat den Rücken kehren, sind die Baby-Boomer der Achtziger und Neunziger. Da die Fertilitätsraten in vielen Ländern des Vorderen Orients seitdem kaum gefallen sind, wächst die zweite Generation der Perspektivlosen längst heran. Noch drängt sie nicht auf den Arbeitsmarkt, aber zahlenmäßig übertrifft sie die Generation ihrer Eltern bereits um das Zweifache.
So ist die Flüchtlingskrise von 2015/16 nicht etwa – wie von Merkel, Oppermann oder Altmaier so oft behauptet – ein unvorhergesehenes, plötzliches Ereignis. Es stimmt auch nicht, dass es vergleichbar wäre mit den Fluchtbewegungen des Zweiten Weltkriegs, in denen Deutsche aus den vom damaligen Feind eroberten Ostgebieten mit nichts als ihren Kleidern am Leib unter härtesten Umständen und unter dauerhafter, akuter Bedrohung von Leib und Leben in das Kerngebiet Deutschlands flohen. Auch die Behauptung, die Wirtschaftsflüchtlinge flöhen vor absoluter Armut, ist eine Vereinfachung. Manche derer, die 2015/16 gekommen sind, besaßen die neuesten Smartphones und hatten erstaunlich stabile Internetverbindungen in die vermeintlich zerstörten Kriegsgebiete der Heimat. Es sind ja häufig gerade die gekommen, die sich die teuren Schlepper und Schleuser leisten konnten. Die Ärmsten blieben in den Flüchtlingslagern nahe der Heimat zurück. Der Innenminister selbst brachte sein Erstaunen zum Ausdruck, als er bemerkte, viele Flüchtlinge zögen das Taxi den öffentlichen Verkehrsmitteln vor und bewegten sich teils hunderte Kilometer via Taxi zur gewünschten Destination. Viele Wirtschaftsmigranten kommen eben nicht aus absoluter Armut, sondern um ihre Situation weiter zu verbessern, ihren Kindern bessere und kostenlose Bildung zu ermöglichen und für sich persönlich Chancen zu ergreifen. Auch das ist kein Verbrechen und nur allzu verständlich. Wer versucht nicht, für sich und seine Kinder Chancen zu ergreifen und die Zukunft zu sichern? Wie wir als Staat und Solidargemeinschaft aber auf diesen Wunsch hunderter Millionen Menschen reagieren, ist eine ganz andere Frage.
Fakt ist, dass die Flüchtlingskrise das Ergebnis eines ganzen Kaleidoskops von Problemen ist, die sich über Jahrzehnte angestaut und lange Zeit unter Oberfläche geschwelt haben und dies auch heute noch unvermindert tun. Die Menschen kommen aus den verschiedensten Gründen zu uns, und die Zahl derer, die den drängenden Wunsch verspüren, noch zu kommen, ist gewaltig und übersteigt unsere Möglichkeiten bei Weitem. Krieg und Vertreibung waren bei den Flüchtlingsströmen von 2015/2016 in keinem einzigen Fall die direkte Fluchtursache, denn die Menschen kamen alle aus sicheren Drittstaaten, was uns nach Artikel 16 GG auch rechtlich die Möglichkeit gegeben hätte, sie an den Grenzen abzuweisen. Dies geschieht mittlerweile auch wieder vermehrt. Natürlich sind oft Krieg und Vertreibung die ursprüngliche Fluchtursache, mit der die Heimatlosigkeit vieler vor Jahren begonnen hat. Aber nach Deutschland sind die allermeisten gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben und nicht auf der Flucht vor As...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Versagen in der Flüchtlingskrise
  7. Zielland Deutschland
  8. Deutsche Sonderwege
  9. Chaos im Nahen Osten
  10. Irak
  11. Afghanistan
  12. Syrien
  13. Sunniten, Schiiten, Alawiten
  14. Interessen der Akteure im Syrienkrieg
  15. Die Rolle der Medien
  16. Modebegriff Fake News
  17. Was sagt Assad zum Syrienkrieg?
  18. Die Stimme der Opposition
  19. Der Euro und die Arabellion
  20. Konkrete Bekämpfung von Fluchtursachen
  21. Offene Grenzen als Sicherheitsrisiko?
  22. Die Gründe für eine Politik ohne roten Faden
  23. Flüchtlinge und Asyl: Die eigene Mitte finden
  24. Neuausrichtung der Entwicklungshilfe
  25. Diversifizierung statt Zensur der Medien
  26. Den Euro abschaffen
  27. Literaturhinweise