Feindbild werden
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Ein Bericht

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Über dieses Buch

Wieder stellt sich Wolfgang Ullrich einem hochaktuellen Thema: Ist der viel beschriebene und diskutierte Rechtsdrall in den ostdeutschen Ländern auch in der zeitgenössischen Kunst sichtbar?Wie politisch ist Kunst heute – und wie steht es um ihre oft beschworene Autonomie? Wolfgang Ullrich, Kunsthistoriker aus Westdeutschland mit Wohnort Leipzig, stellt Fragen an die Gegenwartskunst und ihre Vermarktung, die über das rein Ästhetische hinausgehen.Damit hat er 2019 eine weitreichende Debatte provoziert: Dem in der ZEIT formulierten Vorwurf, Neo Rauch und andere in der DDR groß gewordene Maler würden unter Verweis auf die Freiheit der Kunst vermehrt rechte Positionen einnehmen, begegnete der Künstler mit dem großformatigen Bild "Der Anbräuner". In den Feuilletons und im Netz folgte Entrüstung.Wieso kam es zu solch heftigen Reaktionen? Wolfgang Ullrich tritt einen Schritt zurück und stellt fest, dass es ( jenseits dieses Falls) um grundsätzliche Konfliktlinien geht: Vordergründig um das Verhältnis zwischen Künstler und Kritiker. Dann um die offenbar wachsende Spannung zwischen Ost- und Westdeutschland. Und am Ende um den alten neuen Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Heimat mit festen Grenzen und dem Wunsch nach Offenheit und Pluralismus.Ein wichtiger Beitrag zur Debattenkultur zwischen Ost und West.

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1Die Rechtsverschiebung der Idee autonomer Kunst

Am Morgen des 24. Juni 2019 erhielt ich eine Mail aus der Redaktion der ZEIT – mit der Bitte um ein Telefonat möglichst noch am selben Vormittag, denn: »Es drängt ein wenig«. Ich hatte keine Ahnung, worum es gehen könnte. Am Telefon erfuhr ich dann, dass ein Artikel von mir, den die Zeitung einen Monat zuvor gedruckt hatte, nicht ohne Folgen geblieben war: Neo Rauch hatte darauf mit einer ungewöhnlichen Form von Leserbrief geantwortet, nämlich mit einem eigens gemalten Bild. Man beschrieb es mir als eine Art Karikatur, die einen Mann zeige, der mit seinen Exkrementen male. Dieser Mann sei offenbar ich. So sei die von ihm mit einem Hitlerkopf und einem Hitlergruß beschmierte Leinwand mit den Initialen »W.« und »U.« signiert. Innerhalb der Redaktion sei umstritten, ob man Rauchs Bild veröffentlichen solle, daher wolle man auch meine Meinung hören.
In dem Artikel in der ZEIT hatte ich für einige Teile der Kunstwelt eine politische Rechtsverschiebung diagnostiziert und das unter anderem mit Zitaten aus Interviews mit Neo Rauch belegt.1 Diese Verschiebung ist für mich jedoch mit einer anderen Entwicklung verbunden, auf die ich in dem Text zuerst einging. So wird die seit dem späten 18. Jahrhundert und während der gesamten Moderne wichtige Idee autonomer Kunst seit einigen Jahren von etlichen Vertretern der Kunstwelt, vor allem von linken Intellektuellen und einer jüngeren Kuratorengeneration, kritisch gesehen. War man lange überzeugt, dass eine Kunst, die ohne Rücksichtnahmen auf ästhetische, moralische oder soziale Konventionen und allein nach eigenen, sich selbst auferlegten Prinzipien – autonom – entsteht, aufklärender und emanzipatorischer sein kann als eine Kunst, die sich den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben anpasst, und bestand man daher auf einem speziellen Freiheitsprivileg für sie, so fragt man heute, ob dies nicht gerade zu Werken führen kann, die ziemlich unsensibel gegenüber der sozialen Wirklichkeit sind. Verfestigt autonome Kunst vielleicht sogar – so die Befürchtung – bestehende Formen von Unrecht und Diskriminierung, zumal meist nur eine kleine Elite in den Genuss eines solchen Freiheitsprivilegs kommt?
Diese Frage wurde in den letzten Jahren in etlichen Debatten verhandelt. In ihnen ging es etwa um die Darstellung von Schwarzen durch weiße Künstler, die maßgebliche Diskriminierungserfahrungen nicht gemacht haben, aber auch um Sexismus oder um gesellschaftlich geächtete Formen von Sexualität wie Pädophilie. Sollte es wirklich unter ein Freiheitsprivileg fallen, so etwas darzustellen? Hieße das nicht, Unrecht und Leid zu dulden, solange es im Namen der Kunst geschieht? Und sollte man sich auf einen zeitlosen Standpunkt zurückziehen können, von dem aus alles als Sujet der Kunst berechtigt erscheint, egal ob es heute akzeptiert wird oder nicht? Immerhin wäre es dann doch vielleicht möglich, so ließe sich dafür argumentieren, Zugang zur Erfahrungswelt von Pädophilen zu bekommen und sie, ihre Weltsicht, vielleicht sogar ihr Leiden an der eigenen Sexualität besser zu verstehen. Und kann man wirklich ausschließen, dass es in einer fernen Zukunft einmal eine Gesellschaft gibt, die anders zu Pädophilie steht als die heutige? Doch aus solchen Gründen für eine unbedingte Freiheit der Kunst zu plädieren, lehnen mittlerweile selbst viele Angehörige des Kunstbetriebs ab. Sie wollen der Kunst keine privilegierte Stellung mehr zubilligen und glauben nicht mehr an die lange gepredigten kunstreligiösen Formeln, wonach Künstler Zugang zu sonst verschlossenen Wahrheiten haben oder als Avantgarde einer besseren Welt fungieren können.
Manchmal kommt es daher sogar zur Forderung, bestimmte Werke nicht mehr öffentlich zu zeigen. Beispielsweise wurde 2017 vom New Yorker Metropolitan Museum of Art die Abhängung des 1938 entstandenen Gemäldes Träumende Thérèse des deutsch-polnisch-französischen Malers Balthus verlangt, da es ein junges Mädchen, das dem Maler Modell gesessen hatte, in einer sexuell anzüglichen Pose zeige.2 Gerade im Zuge der gleichzeitigen #MeToo-Debatte erschien es manchen nicht länger erträglich, dass »unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit« sexuelle Ausbeutung betrieben und legitimiert werde. So formulierte es die Kunstwissenschaftlerin Julia Pelta Feldman und plädierte dafür, die Unversehrtheit von Menschen ernster zu nehmen als die Unversehrtheit einzelner Werke. Für sie »verblasst« jede »Gewalt, die sich gegen Kunst wendet, im Vergleich zur Gewalt, die Menschen angetan wurde«.3
Das moderne westliche Konzept eines Freiheitsprivilegs für autonome Kunst ist aber nicht nur durch linke Intellektuelle, feministische Bewegungen und Minderheiten, die sich vermehrt Gehör verschaffen, in die Defensive geraten. In meinem Artikel nannte ich als weiteren Grund die Globalisierung der Kunstwelt. So gibt es mittlerweile sowohl bei kuratierten Events als auch im Handel viele Akteure aus Asien, Afrika oder der arabischen Welt, die nicht mit typisch westlichen Unterscheidungen wie der zwischen freier und angewandter Kunst sozialisiert wurden. Ohne solche Unterscheidungen verlieren aber auch die spezifischeren Ideen von Kunstfreiheit und Kunstautonomie an Bedeutung. Sie relativieren sich noch weiter dadurch, dass die nicht-westlichen Akteure, deren Kulturen jeweils eigene Kunstbegriffe haben, inzwischen ihrerseits die Menschen im Westen beeinflussen. So erscheinen Kunstautonomie und Kunstfreiheit auf einmal sogar als ideengeschichtliche Auslaufmodelle. Wie einiges andere, etwa die Wertschätzung antiker Mythologie, das unbedingte Streben nach Individualität oder die ausschließliche Orientierung an Hochkultur, kann man sie zum erweiterten Repertoire lange unhinterfragter Prioritäten des vielzitierten privilegierten »alten weißen Mannes« zählen.
Dadurch aber passiert zweierlei. Wer befürchtet, selbst der Mentalität eines »alten weißen Mannes« bezichtigt zu werden, wird sich von allem distanzieren wollen, was damit assoziiert ist, fortan also etwa auch auf uneingeschränkte Plädoyers für die Kunstfreiheit verzichten und sich nicht länger auf Topoi der romantisch-westlichen Kunstreligion wie den Geniekult berufen. Doch wer umgekehrt die Vormachtstellung des »alten weißen Mannes« bewahren oder zurückgewinnen will – oder schon die Rede davon für Unsinn hält –, identifiziert sich auf einmal mit allem, was bedroht erscheint. Neben vielen, die die Idee der freien Kunst oder der Hochkultur noch eher aus bildungsbürgerlicher Gewohnheit vertreten, wollen manche sie nun also vor allem deshalb schützen und neu beleben, weil sie sich generell in Opposition zu feministischen und minderheitenbewussten Intellektuellen sowie zu globalisierungsfreundlichen, liberalen Milieus empfinden. Die paradoxe Folge davon ist, dass die Idee eines Freiheitsprivilegs für Kunst, nachdem sie über mehrere Generationen hinweg gerade von aufgeklärten, emanzipatorischen und liberalen Strömungen stark gemacht worden war, nun nicht mehr von progressiven Milieus, sondern verstärkt von Rechten reklamiert wird. Denn vor allem sie sind es, die ihre Schwierigkeiten mit Minderheiten, Fremden und Feminismus haben. Für sie gehört die Freiheit der Kunst auf einmal wie Weihnachten oder der Bikini zur Identität jener westlich-modernen Kultur, die sie vor zu viel Globalisierung, Multikulturalismus und Islamisierung schützen wollen.
In meinem ZEIT-Artikel mutmaßte ich, dass das Freiheitsprivileg autonomer Kunst manchen umso unsympathischer wird, je mehr es in die Nähe rechten Denkens gerät, wohingegen andere, denen diese Idee wirklich wichtig ist, auf einmal dazu neigen, rechten Topoi gegenüber insgesamt aufgeschlossener zu werden. Plötzlich fragen sie sich vielleicht, ob doch etwas dran sein könnte an der Diagnose einer »linksgrünen Kulturhegemonie«, wenn schöne Bilder in den Museen nicht mehr sicher sind vor aggressiven Tugendwächtern, die allenthalben Sexismus, Rassismus, Unrecht wittern.4 Und wo soll das überhaupt noch hinführen? Wer wird nach Balthus der nächste sein, dessen Abhängung gefordert wird? Wird die Kunstfreiheit nicht längst der sogenannten political correctness geopfert?
In den beliebten Untergangsszenarien, die ausgehend von wenigen Fällen entwickelt werden, verbinden sich oft kulturpessimistische und reaktionäre Motive – und die Idee der Kunstfreiheit gerät zum tagespolitischen Kampfbegriff. Mit meinem Artikel wollte ich eigentlich eine Debatte darüber anstoßen, ob es wirklich im Sinne der Kritiker dieser Idee sein kann, dass sie eine Aneignung von rechts erfährt. Man kann sie damit zwar umso leichter als diskreditiert erachten und noch heftiger gegen sie ins Feld ziehen, was aber nur wieder zu Eskalationen auf der Gegenseite, zu noch schärferen Trotzreaktionen – von kunstreligiösen Aufwallungen bis zu aggressivem Verhalten gegenüber Frauen und Minderheiten – führt. Wie sollte sich eine weitere Polarisierung der Gesellschaft da noch verhindern lassen?
Eine sachliche Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen freier Kunst ist schon jetzt kaum mehr möglich. Dadurch aber könnte – und das ist die Sorge, die ich trotz meiner eigenen Abneigung gegenüber kunstreligiösen Topoi habe – mehr verlorengehen, als selbst viele heutige Kritiker dieser Idee sich wünschen. So frage ich mich, was wohl passiert, wenn man ganz darauf verzichten würde, Kunst als relativ eigenständigen Bereich zu bewahren, in dem unabhängig von jeweils herrschenden Geschmacksidealen und Moralvorstellungen fiktionale Überhöhungen sowie Verfremdungen in Form oder Inhalt erlaubt sind – in dem grundsätzlich alles möglich ist. Würden ohne künstlerische Experimente mit anderen Weltbildern und ohne freie Ausgestaltung von Phantasien in Kunstwerken nicht Fähigkeiten der Imagination verkümmern, die aber etwa wichtig sind, um die Gegenwart besser zu erkennen und um in der eigenen Lebenswelt bewusster handeln zu können?
Nicht romantisch-idealistisch, sondern ganz pragmatisch, geradezu utilitaristisch möchte ich daher dafür plädieren, die Kunst als eine Institution zu pflegen, in der Differenzen und Alternativen zum jeweiligen kulturellen Status quo zugelassen sind. Obwohl ich die Autonomie-Idee immer wieder nicht nur in gesellschaftspolitischer Ambition, sondern auch im Hinblick auf die Folgen für die Kunst kritisiert habe,5 gerate ich damit allerdings in den Verdacht, selbst ein »alter weißer Mann« zu sein – und kann mich dieses Verdachts schon rein äußerlich nicht erwehren. Tatsächlich hatte ich erst ein paar Wochen vor Erscheinen meines ZEIT-Artikels erlebt, dass bei einer Diskussion in Wien eine Reihe von Studentinnen protestierend den Raum verließ, weil ich offenbar etwas zu viel über den Verlust der Idee freier Kunst gesprochen und daher genau dem Schema eines noch-privilegierten, naiv-unsensiblen Vertreters westlicher Hochkultur entsprochen hatte. Mir ist also bewusst, wie schnell einseitige, gar radikale Positionen unterstellt werden – und interpretiere das als Beleg dafür, wie nervös und polarisierend die gesamte Debatte geführt wird.
Wird die Autonomie-Idee von links zunehmend ignoriert oder dezidiert abgelehnt, so wird sie von rechts aber nicht nur adoptiert, sondern auch verändert. In ihrem Mittelpunkt steht nicht länger die Erwartung, dass eine Kunst, die möglichst unkorrumpiert von externen Einflüssen ist, ihrerseits emanzipatorisches Potenzial entwickeln kann. Vielmehr erscheint autonome Kunst, so die These meines Artikels, als ein Hort, wo inmitten einer vermeintlich von Verboten und Rücksichtnahmen durchsetzten Welt noch ein letzter Rest an Freiheit existiert – und wohin sich der allseits bedrohte westliche, weiße, meist männliche Künstler zurückzieht, um sich zu verteidigen oder auch zum Gegenschlag zu rüsten. Autonomie bedeutet dann also Selbstbehauptung, sie steht gar für eine Haltung des Widerstands und der Dissidenz, die sich entsprechend martialisch und rebellisch aufladen lässt.

2Neo Rauchs Oppositionskurs

In meinem Artikel erwähnte ich mehrere Beispiele eines derartigen Verständnisses von Autonomie, etwa den vom rechten Antaios-Verlag publizierten Philosophen Frank Lisson, der Künstler dazu auffordert, sich »aus tiefster Notwendigkeit gegen das Gewissen seiner Zeit« zu stellen; »erst die Repression« würde »die besten Kräfte im Künstler mobilisier[en]«. Je mehr ein Künstler sich in Opposition befindet und gegen vielfältige Formen der Zähmung und Moralisierung wehrt, desto autonomer ist er also – und desto besser und bedeutender wird das, was er schafft. Zu derartiger Selbstverteidigung und Selbstbehauptung bedarf es gemäß Lisson aber heroischer Männlichkeit. Der Rang einer Kultur hänge davon ab, »wie viril die Männer in ihr sind«.1 Frauen hingegen scheinen zu bedeutender Kunst von vornherein nicht disponiert.
Gewiss muten solche Gedanken eher alt als neu an. Sie erinnern etwa an (kontextlos herausgepickte) Wendungen Nietzsches, der Künstler als »Kraftthiere« pries, denen »eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems« zu eigen sei.2 Oder man denkt an die Behauptung der italienischen Futuristen, Schönheit gebe es »nur noch im Kampf«, sowie an ihr Eintreten für Militarismus und Patriotismus, an ihre Misogynie und ihre Opposition gegenüber Moralismus.3 Gerade innerhalb der ziemlich machohaften Avantgarden finden sich immer wieder ähnliche Motive männlicher Selbstbehauptung, und es wäre eine Untersuchung wert, sie in ihrer Entwicklung sowie in ihrem Verhältnis zur Idee autonomer Kunst zu betrachten. Eine Arbeitshypothese könnte dabei sein, dass jene Motive vor allem vom autonomen Künstler, Autonomie-Konzepte hingegen oft von autonomen Kunstwerken und ihren Eigenschaften handeln, ein Unterschied also darin besteht, ob Autonomie Ausdruck einer künstlerischen Haltung ist – etwa eines Strebens nach Außenseitertum und einer Ausnahmestellung – oder aber ein Werkprinzip meint – etwa die Preisgabe von Mimesis-Ansprüchen.
Auch Neo Rauch, das prominenteste Beispiel meines ZEIT-Artikels, kommt wiederholt auf seine künstlerische Haltung zu sprechen. Sie dürfte noch stark von Erfahrungen in der DDR geprägt sein. Dort sei er schon in der Jugend »in eine innere Emigration getrieben« worden, wie Rauch 2017 in einem Interview mitteilte; während er zeichnete, habe er »still vor sich hingeflucht«.4 Sein Studium bei Arno Rink und Bernhard Heisig in Leipzig endete ungefähr zeitgleich wie die DDR, die ersten Jahre als freier Künstler erlebte Rauch also in einer Umbruchszeit voller Unsicherheiten. Schon in den neunziger Jahren stellten sich aber größere Erfolge ein, im Jahrzehnt darauf kam es zum internationalen Durchbruch, was sowohl rasch steigende Preise für seine Gemälde als auch eine Reihe musealer Ausstellungen zur Folge hatte. Obwohl innerhalb der Kunstkritik nicht unumstritten,5 gilt Rauch seither als wichtigster ostdeutscher Künstler seiner Generation. Neben seinen Bildern liefern aber auch etliche seiner Interviews Diskussionsstoff. In ihnen finden sich nämlich immer wieder Aussagen, die ziemlich anders klingen als das, was sonst von global erfolgreichen Künstlern zu hören ist. Vertreten die meisten von ihnen eine pluralistisch-kosmopolitische Weltsicht, so geht Rauch regelmäßig auf Distanz dazu. Seinen Abstand zum vorherrschenden Ton der aktuellen Kunstwelt bekundet er zum Teil auch mit schroffen Worten und provokanten Vergleichen.
Die Übermalung eines Gedichts von Eugen Gomringer, das 2011 auf der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule angebracht und 2017, wie im Fall von Balthus im Zuge der #MeToo-Bewegung, von einigen als sexistisch verurteilt wurde, kritisierte Rauch 2018 als »Talibanisierung unserer Lebenswirklichkeit«.6 Diese Formulierung ist ein gutes Beispiel für die Eskalation und Polarisierung der Debatten über Kunst. Denn obwohl mancher Beitrag, in dem die Übermalung des Gedichts zur Grundsatzfrage stilisiert wurde, zu schrillem Aktionismus neigte, erscheint es doch als umso provokanter, feministische Anliegen auf dieselbe Stufe zu stellen wie den radikalen (und zudem antifeministischen) Islamismus der Taliban. Mit seiner Wortwahl erklärt Rauch die Kritiker des Gedichts, das durch die Übermalung ja nicht aus der Welt geschafft worden war, zu fanatischen, kulturfremden Ikonoklasten. Selbst mit Blick auf ex...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Vorbemerkung
  4. 1. Die Rechtsverschiebung der Idee
  5. 2. Neo Rauchs Oppositionskurs
  6. 3. Autonomie als Selbstbehauptung
  7. 4. Dissident und Denunziant
  8. 5. Der Kritiker als Feindbild
  9. 6. Kulturkampf
  10. 7. Revolutionäres Bewusstsein und
  11. 8. DDR 2.0
  12. 9. Rechte Rezeption
  13. 10. Charity und Populismus
  14. 11. Wut im Bild
  15. Abbildungen
  16. Anmerkungen
  17. Danksagung
  18. Über den Autor