Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt
Zum aktuellen Forschungsstand
Nivedita Prasad
Von geschlechtsspezifischer Gewalt wird ausgegangen, wenn Frauen aufgrund ihres Geschlechts Gewalt ausgesetzt sind, oder aber wenn es sich um eine Form von Gewalt handelt, von der Frauen überproportional betroffen sind (vgl. CEDAW 1992: Abs. 6). Auch digitale Gewalt hat eine geschlechtsspezifische Komponente (vgl. z.B. EIGE 2017), daher ist es nur folgerichtig, dass sie zunehmend auch Beachtung in entsprechenden Dokumenten und Berichten zu geschlechtsspezifischer Gewalt findet. So findet sich bereits 2006 in einem Bericht der UN zu Gewalt gegen Frauen ein expliziter Hinweis auf Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) gestützte Gewalt (vgl. UN General Assembly 2006: Abs. 105). Seither finden sich immer wieder implizite und explizite Hinweise auf digitale Gewalt in vielen internationalen Dokumenten, Studien, Berichten oder Studienarbeiten zu Gewalt gegen Frauen, allerdings unter sehr unterschiedlichen Terminologien, wie z.B. IKT Violence, Cyberstalking, Cyberharassment, Digital Violence, Online Violence, Internet based Violence oder Technology-related Violence against Women und Technology-based Abuse. Hierbei kann es sich um Online Hate Speech handeln oder aber um digitale Gewalt im sozialen Nahfeld. Der Fokus dieses Artikels liegt auf der Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt im sozialen Nahfeld – häufig im Kontext von (Ex)Partnerschaften.
Im Rahmen einer Studie des Pew Research Center zu Online Harassment (kurz: Pew-Studie) wurden sowohl Frauen als auch Männer zu ihren Erfahrungen mit digitaler Gewalt befragt; so konnten ihre Erfahrungsberichte direkt gegenübergestellt werden. Dieser Vergleich hat ergeben, dass Frauen überproportional von sexueller Belästigung betroffen sind (vgl. Pew Research Center 2017: 10). Auffällig ist, dass Frauen und trans Personen auch häufig im Kontext ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder Geschlechtsidentität diskreditiert wurden (vgl. ebd.: 14f.). Die UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt gegen Frauen weist zudem darauf hin, dass der Schaden von Online Gewalt gegen Frauen verstärkt durch gesellschaftliche Stigmen wird, denen Frauen besonders ausgesetzt sind (vgl. UN Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 25). Auch können Auswirkungen desselben Missbrauchs auf Frauen und Mädchen aufgrund intersektionaler Machtverhältnisse durchaus unterschiedlich sein (vgl. Henry/Powell 2018: 30; European Women’s Lobby 2017: 7). So werden Women of Color rassistisch/sexistisch beleidigt, behinderte Frauen ableistisch/sexistisch und/oder lesbische Frauen sexistisch/homophob (vgl. auch Amnesty International 2017).
Annäherung an den Begriff digitalisierte geschlechtsspezifische Gewalt
Die Verwendung dieser sehr unterschiedlichen Begriffe hindert die Annäherung an den Begriff »digitalisierte geschlechtsspezifische Gewalt«; erschwerend kommt hinzu, dass häufig Phänomene – wie psychische Gewalt – beschrieben werden, die auch auf digitale Gewalt zutreffen können, ohne dass dies explizit benannt wird. Digitale Gewalt auf psychische Gewalt zu reduzieren birgt die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, hierbei handele es sich durchgängig um eine Form von Gewalt ohne körperliche Bedrohung/Handlung. Es wird ignoriert, dass digitale Gewalt auch zu körperlicher und sexualisierter Gewalt führen kann, z.B. wenn öffentlichen Gewaltaufforderungen gefolgt wird, Personen durch digitale Mittel aufgespürt werden oder Täter häuslicher Gewalt digitale Technik nutzen, um die Wirkmächtigkeit ihrer Gewalt zu verstärken. Hier verschränken sich physische Gewalt und psychische Gewalt mittels digitaler Technik. Gewalthandlungen können so immer weiter über die Sphäre des »Hauses« hinausreichen (vgl. Frey 2020: 46).
Es finden sich im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) verschiedene Artikel, die implizit oder explizit Anwendung auf digitale Formen von Gewalt finden können, so z.B. psychische Gewalt (Art. 33), Stalking (Art. 34) oder sexuelle Belästigung (Art. 40). Im Kontext von Stalking geht der Kommentar der Istanbul-Konvention explizit auf »Verfolgung in der virtuellen Welt« (Europarat 2011: Abs. 182) und »unerwünschte Kommunikation […] insbesondere über moderne Kommunikationswege und die IKT« (ebd.) ein. Auch in der Beschreibung von bedrohendem Verhalten wird »die Schaffung falscher Identitäten oder die Verbreitung falscher Informationen im Internet« (ebd. Abs. 183) erfasst.
Der UN-Frauenrechtsausschuss bezieht sich 2017 in einer Allgemeinen Empfehlung auf digitale Gewalt, indem er digitale Umgebung als einen Ort nennt, wo Gewalt gegen Frauen stattfinden kann (vgl. CEDAW 2017: Abs. 20). In Anlehnung an die Definition des CEDAW Ausschusses ergänzt die UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt gegen Frauen die Definition von Gewalt gegen Frauen als:
»jede Handlung einer geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen, welche teilweise oder vollständig durch die Nutzung von IKT wie Handys und Smartphones, das Internet, soziale Medien, Plattformen oder EMail begangen, unterstützt oder verstärkt wird, gegen eine Frau, weil sie eine Frau ist oder Frauen überproportional betrifft.« (UN-Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 23, Übersetzung N.P.)
Geschlechtsspezifische digitale Gewalt – wie von der UN-Sonderberichterstatterin definiert – kann zum einen in Form von Online Hate Speech auftreten, welches sich vorwiegend gegen politisch agierende Frauen oder trans Personen im öffentlichen Raum richtet, häufig durch fremde Täter*innen. Zum anderen tritt sie als Erweiterung/Verstärkung von Formen analoger Gewalt auf – vorwiegend durch (Ex-)Beziehungspartner, oder solche, deren partnerschaftliches Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. In einer Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung ergänzt Frey das Feld der Erwerbsarbeit und Öffentlichkeit (Frey 2020: 12) als eines, in dem digitale geschlechtsspezifische Gewalt stattfinden kann. Während Online Hate Speech nicht zuletzt durch rechtliche Auseinandersetzungen, die durch öffentliche Personen geführt wurden, immer häufiger auch öffentlich diskutiert wird und dadurch ins Bewusstsein rückt, ist die Digitalisierung von Gewalt im sozialen Nahfeld hingegen ein Themenkomplex, der nur langsam in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die meisten Beschreibungen und Definitionen von digitaler Gewalt sich vorwiegend auf Online Hate Speech fokussieren und Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt im persönlichen Umfeld eher vernachlässigen (siehe z.B. Human Rights Council 2013: Abs. 66, Amnesty International 2017, Lembke 2018). Allgemeine Definitionen zu Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahfeld hingegen berücksichtigen häufig die Besonderheiten der Nutzung von IKT nicht.
Eine aktuelle und ziemlich umfassende Studie ist die des Forschungszentrums Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring (kurz: Wiener Studie) aus dem Jahr 2018. Hier wurden 61 Berater*innen, 42 Personen im Rahmen von Fokusgruppen und über 1.000 Internetnutzerinnen in einer repräsentativen Stichprobe im Alter von 25 bis über 64 Jahren zu »Gewalt im Netz gegen Frauen und Mädchen in Österreich« befragt. Diese Untersuchung verwendet eine Definition, die sowohl Online Hate Speech als auch digitale Gewalt im sozialen Nahfeld abdeckt und definiert Gewalt im Netz als:
»jede sprachliche (durch Schrift oder aufgezeichnete Sprache) oder darstellende (durch Bild oder Video) Äußerung, verbreitet oder zugestellt durch das Medium Internet, die von unmittelbaren und/oder mittelbaren EmpfängerInnen als bedrohlich, herabwürdigend oder verunglimpfend empfunden wird oder durch die die EmpfängerInnen sich in ihrer Lebensgestaltung auf unzumutbare Weise beeinträchtigt fühlen. Bezugspunkt ist nicht ausschließlich das individuelle Empfinden, sondern das Empfinden eines wahrnehmbaren Teiles der rechtsverbundenen Sprachgemeinschaft. Besonders zu berücksichtigen ist dabei jeder Ausdruck der Diskriminierung auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Orientierung, einer körperlichen oder intellektuellen Beeinträchtigung oder des Geschlechts.« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 28 [Herv. i.O.])
Im Rahmen der Pew-Studie wurden 4.248 erwachsene US-Amerikaner*innen zu Online Belästigung befragt. Online Belästigung wurde hier durch die Darstellung möglicher Handlungen wie Beschimpfungen, absichtliches öffentliches Beschämen, physische Bedrohungen und Stalking beschrieben (vgl. Pew Research Center 2017: 3f.). Auch hier wird deutlich, dass sowohl Hate Speech als auch Online Gewalt im sozialen Nahfeld abgefragt wurden.
Eine der wenigen Definitionen, die sich ausschließlich auf digitale Gewalt im sozialen Nahraum fokussiert, ist die seit 2017 regelmäßig aktualisierte Definition des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), da dort die Spezifizität von digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld im Fokus steht. Der bff definiert digitale Gewalt als:
»alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet. Digitale Gewalt funktioniert nicht getrennt von ›analoger Gewalt‹, sie stellt meist eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken dar.« (bff 2019: o.S.)
Neben expliziten Definitionen können auch Beschreibungen psychischer Gewalt auf einzelne Formen digitaler Gewalt Anwendung finden, so z.B. in einem Bericht der Grundrechteagentur der Europäischen Union (FRA), in dem unter psychischer Gewalt neben ökonomischer Gewalt und Erpressung, auch kontrollierendes Verhalten, »Herabsetzen oder Demütigen in der Öffentlichkeit oder Privatsphäre, Verbieten, die Wohnung zu verlassen, bzw. Einschließen, Zwingen, gegen ihren Willen pornografisches Material anzusehen, absichtliches Verängstigen oder Einschüchtern sowie mit Gewalt drohen oder damit drohen, jemand anderen zu verletzen« (FRA 2014: 25) aufgeführt wird.
In der Erfassung von psychischer Gewalt wurden im Rahmen der let...