Wir Kinder der Kriegskinder
eBook - ePub

Wir Kinder der Kriegskinder

Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs

  1. 192 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Wir Kinder der Kriegskinder

Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ihre Eltern waren Kinder im Zweiten Weltkrieg. Bombenhagel, Zerstörung und Flucht haben viele erlebt. Fast alle hatten sie Hunger und vor allem Angst, große Angst. Das wirkt nach - auch auf ihre eigenen Kinder, die heute zwischen 30 und 50-jährigen: Da ist das Gefühl, sich nicht verwurzeln zu können, die eingeimpfte Sparsamkeit oder das übergroße Sicherheitsbedürfnis der Eltern – Familiengeschichte wirkt lange weiter. Der Bericht über das Lebensgefühl einer ganzen Generation, die im langen Schatten des Krieges aufwuchs.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Wir Kinder der Kriegskinder von Anne-Ev Ustorf im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Politique et relations internationales & Politique publique. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

1. Die Kriegskinder
Starke Eltern, schwache Eltern

Das „Tosen des Krieges“

Die Sonne scheint, fröhlich singend sitzen mein Bruder und ich auf dem Rücksitz des Opel Kadett meiner Großeltern. Wie so oft haben wir gemeinsam ein Wochenende auf dem Land verbracht, in einem kleinen Holzhäuschen am Rande eines Rapsfeldes in der Nähe von Bad Segeberg. Schon seit Jahren genießen meine Großeltern dort ihre freien Tage, oft mit meiner Uroma im Schlepptau, und entfliehen so der Enge ihrer Hamburger Stadtwohnung. Wir lieben diese Wochenenden in der Natur. Hinter dem Häuschen baut meine Großmutter Kartoffeln, Karotten und Salat an, und nichts begeistert uns Kinder mehr, als ihr zu helfen, das Gemüse zu ernten und es anschließend gemeinsam zu essen. Am Ende des Grundstücks, zur kleinen Landstraße hin, dann das Revier meines Großvaters: Zwei Bienenstöcke in einem kleinen Kiefernwäldchen. Stundenlang sitzt mein Opa dort auf einem Hocker, raucht Zigarillos und beobachtet seine Bienen. Schon als Kind frage ich mich oft, worüber genau der schweigsame Mann die ganze Zeit nachdenkt.
Nachdem meine Großeltern uns zu Hause abgeliefert haben, summen mein Bruder und ich die Lieder, die wir während der Autofahrt gesungen hatten, noch weiter: „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ und „Heho, spannt den Wagen an“ sind unsere Favoriten. Als meine Mutter uns hört, bringt sie uns sofort zum Schweigen. „Singt das nie wieder!“, weist sie uns an und murmelt dann kopfschüttelnd. „Dass Mutti immer noch ihre Lieder aus dem Arbeitsdienst singen muss.“ Mein Bruder und ich haben das Gefühl, uns für etwas schämen zu müssen – nur wofür, das wissen wir nicht genau. Erst ein halbes Jahrhundert später begreife ich, dass für meine Großeltern in den Kriegsjahren, den Jahren ihrer Jugend, der wohl schönste und gleichzeitig auch fürchterlichste Abschnitt ihres Lebens stattfand. Beim Auflösen ihrer Wohnung finde ich Tagebücher, Fotoalben, Ahnenpässe, Verwundetenabzeichen und Soldbuch-Auszüge aus NS-Zeiten, sorgfältig in Ordnern archiviert. Von der Zeit „unter Adolf“, wie sie oft sagten, hatten sie sich offensichtlich nie ganz verabschiedet.
Mein Großvater, 1918 in Mecklenburg geboren, hatte 14 Jahre lang Tagebuch geführt, von 1928 bis 1943. Seine Einträge reichen von seinen Sommer- und Winterlagerfahrten mit verschiedenen nationalen Jugendgruppen als zehnjähriger Knirps bis hin zu seinen Luftwaffeneinsätzen in Russland und Rumänien im Jahr 1943 und dokumentieren eindrucksvoll, wie die nationalsozialistischen Jugendorganisationen ihre jungen Mitglieder zu prägen vermochten. Im Tagebuch meines halbwüchsigen Großvaters dominieren eingeklebte Schwarz-Weiß-Drucke, die Jungen in kämpferischen Positionen zeigen, darunter handschriftlich sorgfältig kopierte Zeilen wie „Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein“. Ab 1938 finden sich auch Hakenkreuze in seinem Tagebuch, parallel zu seinem beginnenden Landdienst in Mecklenburg, während dessen er inbrünstig hofft, endlich zur Wehrmacht einberufen zu werden: „Nun muss die Entscheidung fallen“, schreibt er 1939. „Nach unserem vergeblichen Harren, nach Ostpreußen oder nach Oberschlesien zu kommen, muss jetzt eine Klärung kommen.“ Kurze Zeit später wird er zur 22. Staffel des Flieger-Ausbildungsregiments in Güstrow einberufen. Zeilen über Zeilen von nationalsozialistischen Gedichten und Liedertexten dokumentieren diesen neuen Lebensschritt. In den kommenden drei Jahren führt ihn seine Position als Mechaniker der Transportstaffel des IV. Fliegerkorps monatelang nach Brüssel und Paris. Diese Jahre scheinen für ihn voller Abenteuer zu sein: Sauftouren mit seinen Kumpels und humorvolle Beschreibungen des Fliegeralltags dominieren seine Erinnerungen. Kein kritischer, besorgter Gedanke findet Eintrag in sein Tagebuch – oder vielleicht behält er solcherart Reflexionen lieber für sich? Andere Aufzeichnungen scheinen dagegen zu sprechen. Als er in Brüssel beobachtet, wie die Bevölkerung angesichts der deutschen Besatzer panisch die Stadt verlässt, schlussfolgert er: „Noch immer strömen Flüchtlinge durch die Straßen. Oh, welch ein Elend. Wieder hat die Bevölkerung der feindlichen Propaganda das Wort Barbaren geglaubt.“ Auch während seines einjährigen Dienstes in Paris von Juni 1940 bis Juni 1941, „der schönsten Stadt der Welt“, findet mein mittlerweile 23-jähriger Großvater nichts dabei, einer aggressiven Besatzungsmacht anzugehören. Wie ein Tourist zieht er mit seinen Kameraden durch die Straßen der Stadt, bewundert die Architektur, kehrt in Kneipen und Restaurants ein, besucht Kinos, das Theater oder die Oper. „An uns zieht das Leben der Franzosen vorbei“, schreibt er. „Wie viel Spaß macht es uns, in diesen Zeiten uns hier zu tummeln.“ Vom Leiden der Zivilbevölkerung, den Judenverfolgungen, der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer – kein Wort. Er ist überzeugt von seiner Mission: „Oft wird mir das Herz groß, wenn wir über die Schlachtfelder von 1914 –1918 fliegen“, schreibt er 1941. „Dieser Krieg hat alles wieder gut gemacht. Zur Heimat könnte uns dieses Land nie werden, es fehlen die Seen und Wälder. Der Atlantik dagegen ist anders.“
Nach Paris werden die Einträge sporadischer, für meinen Großvater geht es weiter nach Rumänien und wenig später nach Russland. Manchmal klingen vorsichtige Klagen über die bittere Kälte im Osten an, über Ratten in den Zelten und Verluste unter den Kameraden. Im Jahr 1943 enden die Tagebucheinträge mit dem Gedicht: „Niemand weiß, wie lange das Tosen dieses Krieges noch dauern wird / Drum will ich den Sang beschließen / Niemand wird heut schon wissen, was die Zukunft gebiert / Aber: Trotzdem blühen Rosen.“
Aus seinem Soldbuch geht hervor, dass er in den kommenden zwei Jahren an drei Gefechten teilnimmt und in der rechten Brust durch einen Granatsplitter verwundet wird – doch er hat Glück, der Großteil des Splitters bleibt in einem Fotobüchlein mit Familienbildern stecken, welches er stets in seiner rechten Brusttasche aufbewahrt. Seine letzten Kriegsstationen sind das Lazarett Bad Bramstedt und Elmendorf im Ammerland, wo er an aussichtslosen Kämpfen gegen die Alliierten teilnimmt. Im Mai 1945 wird er von den Briten verhaftet und als Kriegsgefangener zum Arbeitsdienst auf einem Hof in der Nähe von Stade verurteilt.
Wie mag es meinem Großvater ergangen sein, als er im Februar 1946 endlich nach Schwerin zurückkehrte? Vermutlich war er froh, den Krieg überlebt zu haben. Wie seine Heimatstadt mag aber auch sein Weltbild in Trümmern gelegen haben. Er kam zurück als Besiegter – und blühende Rosen waren nirgends zu sehen. Stattdessen seine junge Frau Käthelies mit seiner Erstgeborenen auf dem Arm, meiner Mutter Annegret, die am 21. Mai 1945 zur Welt kam und ein dünnes Baby war. Auch meiner Großmutter, 1922 geboren, wird es in dieser Zeit vermutlich nicht besonders gut gegangen sein. Abgesehen von den existenziellen Nöten der Nachkriegszeit im besetzten Schwerin, dem als traumatisch erlebten Einmarsch der Russen und dem langen Bangen um ihren Mann, von dem sie seit Kriegsende kein Wort gehört hatte, war es vermutlich auch für sie nicht leicht, zu den Besiegten zu gehören. Sie hatte im BDM als Jungführerin mit Begeisterung in diversen Ernte- und Arbeitsdienstlagern gedient. Ein Fotoalbum belegt diese Zeit: Meine junge Großmutter beim Kartoffelsammeln, beim Heuernten und bei Sommerfesten, uniformiert, meist gut gelaunt inmitten einer Schar gleichaltriger Mädchen. Im Hintergrund fast immer: Die Hakenkreuzflagge. Wie eine ausgedehnte, fröhliche Klassenfahrt wirken die Bilder dieser Jahre auf mich. Vom Grauen des Nationalsozialismus keine Spur. Doch auch dieses Album endet im Jahr 1943. Danach: Nichts mehr.

Im Krieg geboren

Als das „Reich“ in Trümmern lag, war mein Großvater 27 und meine Großmutter 23 Jahre alt. Wie mag es in ihnen ausgesehen haben? Waren sie erschüttert vom Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, von der Enttarnung der Helden ihrer Jugend als millionenfache Kriegsverbrecher? Oder waren sie einfach nur froh, überlebt zu haben?
Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks beschreibt in seinem Buch Warum folgten sie Hitler? den Nationalsozialismus als kollektiven Rauschzustand, der eine suchtartige Abhängigkeit auf seine Anhänger ausübte – und erklärt so das „schwarze Loch“, in das viele „Berauschte“ nach der Niederlage fielen.
Ob auch meine Großeltern in so ein „schwarzes Loch“ fielen, werde ich nie erfahren – inzwischen sind beide verstorben. Sicher ist jedoch, dass für sie eine mühsame Zeit der Neuorientierung begann. Mein Großvater besuchte eine Lehrerfortbildung und erhielt Ende 1946 eine Anstellung an einer Dorfschule in der Nähe von Schwerin. Bezahlt wurde er überwiegend in Naturalien, so dass die Familie zumindest keinen Hunger leiden musste. Nutzten meine Großeltern aber die langsam einkehrende Ruhe, um sich kritisch mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wenn wir ihren nostalgischen Erzählungen über die Zeit „unter Adolf“ glauben schenken dürfen, dann taten sie dies weder zu diesem Zeitpunkt noch später.
Der 1928 geborene Journalist Heinrich Jaenecke beschreibt die so genannte Stunde Null nach Kriegsende als „den großen Schlussstrich, den die Mehrheit der Deutschen unter das Kapitel Hitler zog – eine Amputation des Bewusstseins, die die ‚Vergangenheit‘, wie die Umschreibung für das ‚Dritte Reich‘ lautete, aus dem Gedächtnis löschte. Man glaubte, sie damit los zu sein wie ein krankes Glied, das der Chirurg entsorgt“ ( Jaenicke: „Die Stunde Null“, in: GEO EPOCHE, Nr. 9). Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich widmeten sich diesem Phänomen in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern und beschrieben, wie es den Deutschen nach dem Krieg weder gelang, um das Leid ihrer Millionen Opfer noch um die eigenen Schmerzen und Verlusterfahrungen zu trauern. Diese doppelte Unfähigkeit zu trauern führte sogar zu „einer Panzerung gegen Gefühle überhaupt“, glaubt der Bremer Psychoanalytiker und Publizist Hans-Jürgen Wirth (Wirth: Kriegskinder an der Macht).
Auch bei meinen Großeltern mag dies der Fall gewesen sein. In den Jahren nach dem Krieg arbeiteten sie hart, um mit ihren drei Töchtern überleben zu können – aber über Emotionen wurde in dieser Familie, wie in so vielen anderen deutschen Familien, kaum mehr gesprochen. Reflexion, Auseinandersetzung, Innehalten: Das sind und waren Fremdworte. Es galt, stets zu funktionieren.
Als traumatisch wurde das Kriegsende auch auf Seiten meiner Großeltern väterlicherseits erlebt. Durch einige glückliche Fügungen überlebte mein Großvater den Krieg als U-Boot-Mechaniker in Königsberg und Kiel. Er lag mit Mandelentzündung im Lazarett in Kiel, als sein U-Boot torpediert wurde und mit der gesamten Besatzung an Bord sank. Im Jahr 1941 war sein ältester Sohn, mein Onkel, unehelich zur Welt gekommen. Die Eltern meiner damals erst 18-jährigen Großmutter empfanden die Schande als so groß, dass die Schwangerschaft vor den Nachbarn versteckt werden musste. Meine Großmutter wurde in ein Heim für gefallene Mädchen nach Berlin gebracht, um dort in aller Heimlichkeit ihr Kind auszutragen. Nach fünf Wochen türmte sie aus dem Heim und schaffte es zurück nach Hamburg, wo ihre Eltern die Wohnung mit Decken verhängten, damit sie ja niemand zu Gesicht bekam. Wenig später steckte man sie in die Frauenklinik Bülowstraße in Altona, wo sie gegen Kost und Logis Betten beziehen und Windeln auskochen musste, bis mein Onkel in einer Bombennacht im Luftschutzkeller der Klinik endlich das Licht der Welt erblickte. Vier Wochen durfte sie ihn noch stillen, dann musste sie ihn in der Krippe des Katholischen Krankenhauses Rahlstedt abgeben – fortan war ihr nur noch erlaubt, ihn hin und wieder zu besuchen. Als mein Onkel im Alter von anderthalb Jahren deutliche Anzeichen von Hospitalismus zu zeigen begann, ließen sich die Großeltern erweichen und nahmen das uneheliche Kind mit nach Hause. Im Herbst 1944 dann wurde meinem Großvater von seinem Posten in Königsberg aus Urlaub gewährt, um zu heiraten. In nur 24 Stunden Heimataufenthalt heirateten meine Großeltern und zeugten anschließend meinen Vater. Er wurde im Juni 1945 im zerbombten Hamburg geboren, ein mageres Kind, das in den kommenden Jahren viele Verschickungen über sich ergehen lassen musste, um an Gewicht zuzulegen. Es sollte Monate dauern, bis ihn sein Vater erstmals zu Gesicht bekam: Mein Großvater geriet in Dänemark in Kriegsgefangenschaft und war für die Familie einige Zeit verschollen. Nach seiner Heimkehr lag er monatelang im Bett, litt an Alpträumen, an ausgeprägten Ängsten vor engen Räumen, der Dunkelheit, dem Keller. Vermutlich holten ihn seine Kriegserfahrungen als U-Boot-Mechaniker wieder ein. Nach heutigen Kriterien würde man bei ihm wahrscheinlich eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren.
Die Familie meines Vater erlebte die Nachkriegsjahre in vielerlei Hinsicht als traumatisch: Arbeitslosigkeit, Geldnot, Hunger quälten die Familie im zerbombten Hamburg. Hinzu kamen noch begrenzte Wohnverhältnisse, denn kurz nach Kriegsende wurde eine ausgebombte vierköpfige Familie in die Wohnung meiner Großeltern mit zwangseinquartiert. Noch heute berichtet mein Vater von Brotsuppe und der täglichen Suche nach Lebensmitteln. Meine Großmutter sagte stets, dass sie diese Zeit, wenn es ihr denn möglich wäre, gern aus ihrem Leben streichen würde. „Bis Mitte der 1950er Jahre ging es uns richtig schlecht“, berichtet sie.
Die belastenden Erlebnisse meiner mütterlichen und väterlichen Großeltern in Kriegs- und Nachkriegszeit wirken noch heute auf die Familie. Sie prägten meine Eltern und haben im Zuge dessen auch mich geprägt, obwohl ich erst zwei Generationen später, 1974, geboren wurde.
Meine Eltern wurden beide kurz nach Kriegsende geboren, in einer Zeit, die keine optimalen Startbedingungen für sie bot: Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit erschwerten das Leben der Großeltern, traumatische Kriegserfahrungen, Schuld und Scham mögen auf ihnen gelastet haben. Meine Großeltern waren kaum in der Lage, meinen Eltern die Sicherheit, emotionale Präsenz und Zugewandtheit zu schenken, die sie als kleine Kinder gebraucht hätten.
Ich glaube, dass diese schwierigen Startbedingungen für meine Eltern noch heute Folgen haben: So zumindest erkläre ich mir viele ihrer für mich nicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen und Ängste. „Kriege versprühen ihr Gift weit über den Lebenszyklus direkt Betroffener in die Seele sehr viel später Geborener. Und manchmal erzeugen sie sogar generationsübergreifende Traumatisierungen“, erklärt auch der Psychiater Peter Heinl, der seit Jahren über die Spätwirkungen von Kriegserfahrungen auf die Generation der Kriegskinder, also die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, forscht (Heinl: Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg).
Ich glaube, dass das Gift des Krieges bisweilen noch in den Seelen der Kinder der Kriegskinder zu finden ist, den ungefähr zwischen 1955 und 1975 Geborenen. Längst nicht alle sind von generationsübergreifenden Traumatisierungen betroffen. Auch werden viele ihre Probleme überhaupt nicht in einen Zusammenhang mit den Kriegserfahrungen der Großeltern und Eltern bringen. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen.

Seelische Folgen der Kriegskindheit

Nicht alle Kriegskinder hatten an den Folgen des Krieges zu tragen. Gerade in ländlichen Gegenden Deutschlands gab es Kinder, die ein stabiles Umfeld und ihnen zugewandte Bezugspersonen hatten und somit nicht allzu große Entbehrungen hinnehmen mussten. Sie konnten seelisch unbeschadet groß werden. Auf eine große Zahl der zwischen 1930 und 1945 Geborenen trifft das jedoch nicht zu. Laut psychologischer Studien sind 30 Prozent aller im Zweiten Weltkrieg geborenen Deutschen traumatisiert – durch Heimatverlust, Trennungen, Bombardierung, Hungersnot, Flucht und den Tod nahestehender Angehöriger. In den letzten Kriegsjahren waren existenzielle Verluste für die kriegstreibenden Deutschen an der Tagesordnung. Im Jahr 1945 war jeder Zweite auf der Flucht, mehr als zwei Millionen deutsche Zivilisten starben infolgedessen, über die Hälfte Frauen und Kinder. 5,5 Millionen Kinder hatten ihre Heimat verloren; eine weitere halbe Million Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, starben durch den Bombenkrieg. Jeder achte männliche Deutsche kam im Krieg ums Leben. Es gab in dieser Zeit kaum jemanden, der im näheren Umfeld nicht mehrere Personen zu betrauern hatte: Männer, Söhne, Kinder, Familie, Freunde. Es gab 1,7 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halbwaisen. Auch die Kinder, deren Väter noch lebten, sahen diese oft jahrelang nicht: Im Frühjahr 1947 waren noch 2,3 Millionen Kriegsgefangene in Alliiertenlagern und 900.000 Kriegsgefangene in sowjetischen Lagern. Ein Viertel aller Kinder wuchs dauerhaft ohne Vater auf. Tod, Hungersnot, Armut, Depression und ein großes Wertevakuum prägten diese Zeit.
Für viele Kriegskinder haben diese traumatischen Erfahrungen zahlreiche Spätfolgen: Depressionen, Ängste, Schlaflosigkeit, psychosomatische Beschwerden, Flashbacks. Elmar Brähler, Professor für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie an der Uni Leipzig, untersuchte in einer Studie die Langzeitfolgen von Ausbombung und Vertreibung für die zwischen 1930 und 1945 Geborenen und stellte fest, dass überdurchschnittlich viele Menschen dieser Geburtsjahrgänge später von einer geringen Lebenszufriedenheit berichteten und unter ausgeprägten Ängsten, Bindungsschwierigkeiten und Depressionen litten. Er fand auch heraus, dass körperliche Erkrankungen wie Herz- und Kreislaufbeschwerden oft in Zusammenhang mit den Kindheitserlebnissen standen. Der Psychologe warnt vor einer Unterschätzung der Langzeitfolgen der Kriegserlebnisse: „Die traumatischen Folgen sind weder für das Umfeld noch für die Betroffenen selbst leicht zu benennen: Trotzdem belasten sie aber oft das ganze Leben.“
Doch nicht alle Kriegskinder haben schreckliche Erinnerungen – manche Kriegskinder denken auch positiv an diese Zeit zurück, an aufregende Spiele inmitten rauchender Ruinen oder den Nervenkitzel bei der Suche nach Bombensplittern. Möglicherweise dienen diese Erinnerungen dazu, die angstvollen inneren Bilder auf Abstand zu halten. Auf jeden Fall dürften sie eine reflektierte Auseinandersetzung erschweren.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Langzeitstudie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung unter 400 Patienten, die zwischen 1990 und 1993 eine Psychoanalyse beendeten. Bei 54 Prozent der Probanden hatte der Krieg Spuren hinterlassen: körperliche Langzeitschäden durch Mangelernährung, Probleme mit der Selbstfürsorge, psychosomatische Beschwerden, Einsamkeit, Flucht in Leistung, Empathiestörungen, Identitäts- und Beziehungsstörungen. Belastend sei dabei nicht nur die Kriegszeit, sondern ebenso die Nachkriegszeit gewesen, stellten die Psychoanalytiker fest. Viele Kinder hätten für ihre durch Ausbombung, den Verlust des Ehemannes oder Vergewaltigung emotional erstarrten Mütter gesorgt und es angesichts dessen selbst nicht geschafft, eigene Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Kehrte der abwesende, häufig idealisierte Vater zerrüttet aus der Gefangenschaft zurück, war auch er meist nicht in der Lage, Vaterfunktionen wahrzunehmen. „Durch die starke Bindung an die hilfsbedürftigen Eltern konnten die Kriegskinder ihre affektiven Fähigkeiten nicht gut ausbilden“, erklärt die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber. Die kognitiven Fähigkeiten dagegen seien bei dieser Generation meist sehr gut ausgeprägt. Das lässt sich nicht bestreiten: Viele sitzen heute an Schaltstellen in Politik und Wirtschaft.
Fälschlicherweise glauben viele Menschen, dass nur die Kriegskinder, die alt genug waren, um sich an konkrete belastende Ereignisse zu erinnern, heute noch mit den Folgen des Erlebten zu kämpfen haben. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Jahrgänge 1942 bis 1945, die kaum oder keine Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre im Krieg oder die Zeit unmittelbar danach haben, leiden besonders an den Spätfolgen ihrer frühen Erfahrungen – oft, ohne es zu wissen. Das beobachtete auch die Journalistin Sabine Bode, die in ihrem Buch Die vergessene Generation – die Kriegskinder brechen ihr Schweigen ein Porträt der Kriegskindergeneration lieferte. In einem Interview mit dem NDR Anfang 2007 berichtete sie: „Die älteren Kriegskinder, die ihren Eltern während der Kriegs- und Nachkriegszeit unterstützend zur Seite stehen konnten, haben diese Zeit häufig relativ gut überstanden, ohne Traumatisierung. Oft waren sie später sogar sehr erfolgreich, viele von ihnen gingen in helfende Berufe. Aber die kleineren Kinder, die in den letzten Jahren des Krieges geboren wurden, die haben die Katastrophen umso schlimmer erlebt. Je kleiner sie waren, umso schwerer hatten sie’s. Obwohl es zu dieser Zeit überhaupt nicht die Empfindung gab, dass die Kleinen viel gelitten hätten.“
Diese Tatsache lässt sich wohl so erklären: Gerade pränatale Erlebnisse und frühe Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren wirken sich maßgeblich auf unsere seelische und körperliche Gesundheit und emotionale Entwicklung aus. Babys lernen von ihren Bezugspersonen, ihren eigenen inneren Zustand zu deuten: So gut oder schlecht wie die Bindungsperson – meist die Mutter – die eigenen Gefühle regulieren kann, gelingt dies auch dem Baby. Es ist auf einen schützenden Erwachsenen angewiesen, der ihm hilft, das Erlebte einzuordnen und zu bewältigen. „Babys erleben alles erst mal als Stress, ob das Hunger ist, Durst oder ein neues Geräusch“, erklärt mir der Münchner Psychiater und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch in einem Interview. „Dann greift die Mutter ein und beruhigt das Baby. So hilft sie ihm, Stück für Stück die eigenen Impulse kennenzulernen und einzuordnen.“ Später kleidet die Mutter (oder der Vater) die Gefühle ihres Kindes in Worte und bringt ihm so bei, dass es Namen für unterschiedliche Emotionen wie Freude, Wut oder Angst gibt. Die Fähigkeit, Gefühlszustände anderer erkennen, Empathie empfinden und eigene Gefühlszustände regulieren zu können, stammt aus dieser ...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. Vorwort
  3. Einleitung
  4. 1. Die Kriegskinder Starke Eltern, schwache Eltern
  5. 2. Verlorene Heimat Sich nirgendwo zu Hause fühlen
  6. 3. Ein Leben in Sicherheit und frei von Mangel Von dem Wunsch nach persönlicher Entwicklung und Selbstverwirklichung
  7. 4. Kein Platz für Gefühle Lernen, Ängste und Wünsche wahrzunehmen und darüber zu sprechen
  8. 5. Scham und Schweigen Wie sexuelle Übergriffe die Familiengeschichte prägen
  9. 6. Ein schwieriges Erbe Wenn die Last der Geschichte besonders schwer ist
  10. 7. Schuld und Täterschaft Was der dritten Generation zu tun bleibt
  11. 8. Resilienz und Verarbeitung Was bei der Bewältigung der eigenen Geschichte hilft
  12. Ausblick: Kriegskinder in Deutschland heute
  13. Dank
  14. Literaturverzeichnis