Wenn Auffälligkeiten in der psycho-sozialen Entwicklung auftreten
Geht es bei den Schwierigkeiten um mehr als um Intelligenz?
Wenn Eltern zu mir in die Praxis kommen, um die Intelligenz ihres Kindes beurteilen zu lassen, finden sie ihre Vermutung, dass ihr Kind besonders pfiffig und aufmerksam sei, oft bestätigt. Nicht selten sorgen sich die Eltern, ihrem Kind gehe es nicht gut; sie vermuten Lernschwierigkeiten oder eine Entwicklungsstörung, die genauer diagnostiziert werden müssten, damit zielgerichtete pädagogische Maßnahmen in die Wege geleitet werden können. Oft beobachten Eltern, andere Familienangehörige oder Freunde zwischen dem Kind und Gleichaltrigen Verhaltensunterschiede. Manchmal bestätigen Erzieher und Lehrer diese Einschätzung und verstärken so die Sorge der Eltern.
Wenn ein hochbegabtes Kind Verhaltens- oder Kontaktschwierigkeiten zeigt, ist es wichtig, sich diesem Problem zu stellen. In der Fachsprache werden hochbegabte Kinder, die gleichzeitig spezifische Schwierigkeiten haben, als »doppelt außergewöhnlich« bezeichnet. Tatsächlich kann es um spezifische Lernschwierigkeiten gehen, um Störungen in der Regulierung der Aufmerksamkeit, um Angst oder auch um Zustände, die Zwangsstörungen ähneln.
Hochbegabung ist aber keine Krankheit, sondern eine angeborene Gabe, ein Geschenk (wie das englische Wort »gifted« andeutet) – ein Geschenk, das erkannt und verstanden werden muss. Genauso wie alle anderen Kinder haben auch hochbegabte ein Recht darauf, ausgehend von ihren individuellen Voraussetzungen und eventuellen Schwierigkeiten gefördert zu werden.
Trifft die Diagnose einer Krankheit wirklich zu?
In Dänemark, ebenso wie in Deutschland, sind Psychologen, Lehrkräfte, Pädagogen, Kinderärzte, Krankenschwestern etc. traditionell nicht darüber informiert, was es für ein Kind oder einen Jugendlichen bedeutet, von Geburt an ein hohes intellektuelles Potenzial zu haben. Noch immer ist das Wissen in diesem Feld mangelhaft, im Hinblick sowohl darauf, wie diese Kinder identifiziert werden können, als auch auf den geeigneten pädagogischen Zugang. Dieser Mangel an Wissen kann dazu führen, dass Charakteristika hochbegabter Kinder mit Merkmalen neurologischer oder psychiatrischer Probleme verwechselt werden. Überraschend ist dies keineswegs, denn die Merkmale der beiden Gruppen sind einander ähnlich.
Um diese Merkmale genauer zu erkennen, muss man ermitteln, ob das Verhalten eines Kindes situationsabhängig ist, und beispielsweise der Frage nachgehen, ob die Schwierigkeiten unter bestimmten Umständen stärker hervortreten als unter anderen. Wenn eine psychiatrische Krankheit vorliegt, werden ein bestimmtes Verhalten oder besondere Merkmale situationsabhängig immer auftreten. Das trifft bei hochbegabten Kindern nicht zu. Denn bei ihnen wird man feststellen, dass die Schwierigkeiten vermindert auftreten oder ganz verschwinden, wenn sich das Kind in einem sozialen Umfeld mit Gleichgesinnten befindet und sich als ein Teil dieser Gemeinschaft fühlt.
Wie ich in der Praxis ein Kind kennenlerne
Eltern haben sich oft sehr gründlich Gedanken gemacht, ehe sie mit ihrem Kind zur Konsultation in meine Praxis kommen. Ihnen können Entwicklungsunterschiede zwischen ihrem Kind und anderen, gleichaltrigen Kindern aufgefallen sein. Bestimmte Entwicklungsunterschiede können mit einer Hochbegabung in Zusammenhang stehen. Es kommt auch vor, dass sich Familie, Freunde und Pädagogen Sorgen über auffälliges Verhalten des Kindes gemacht haben und den Eltern zu einer Untersuchung geraten haben. Wenn sich das Kind aber ansonsten gut entwickelt und wohlfühlt, wird selten ein pathologisches Verhalten vorliegen. Vielmehr hat man es dann ganz einfach mit mangelndem Wissen über die Merkmale zu tun, die typisch für hochbegabte Kinder sind.
Suchen die Eltern mich auf, weil es dem Kind nicht gut geht und es ein problematisches Verhalten zeigt, kann dahinter also einfach die Reaktion des Kindes auf eine Situation oder einen sozialen Zusammenhang stehen, in dem sich das Kind nicht wohlfühlt. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Kind in der ersten Klasse das Alphabet »lernen« soll, obwohl es schon lesen kann. Solche Kinder verhalten sich eventuell unruhig und stören den Unterricht, und die Lehrkräfte vermuten dann pathologische Verhaltensprobleme. Wenn die Lehrkräfte eine mögliche Hochbegabung nicht sehen und das Kind nicht fördern, sondern stattdessen versuchen, es »zu erziehen und ihm Grenzen zu setzen«, können schwierige Situationen entstehen.
Manche Eltern vermuten über längere Zeit hinweg, dass bei ihrem Kind Hochbegabung vorliegen könnte. Wenn aber das Kind nicht die Unterstützung erhält, die es braucht, kann dies dazu führen, dass es sich nicht gut entwickelt. Und es ist gleichermaßen problematisch, wenn es nichts von seinen Problemen nach außen dringen lässt oder nach außen hin entsprechende Reaktionen zeigt. Es können sich ernstzunehmende Symptome von Angst oder Depression entwickeln, die nicht auf einer pathologischen Veranlagung beruhen, sondern aus mangelnder Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse resultieren, die das Kind hinsichtlich seiner Entfaltung und dem Sammeln von Lernerfahrungen hat.
Andere Eltern wiederum möchten nähere Informationen über die Intelligenz ihres Kindes haben, weil in ihrem Umfeld das Kind nicht nur als hochbegabt wahrgenommen wird, sondern auch als emotional unausgeglichen; oft wird auch auf große Stimmungsschwankungen sowie auf Phasen von Mutlosigkeit und Rastlosigkeit hingewiesen. Bei einem solchen Kind besteht dann das Risiko einer schweren Fehldiagnose, wenn die Entwicklungs-Asynchronie nicht berücksichtigt wird. Diese Asynchronie entsteht, wenn manche intellektuelle Fähigkeiten besonders weit entwickelt sind, andere aber altersentsprechend erscheinen; daraus können Stimmungsschwankungen resultieren, ebenso Reaktionen, die vom Umfeld als sehr unreif und vielleicht sogar als pathologisch wahrgenommen werden können.
Es wenden sich auch Eltern an mich, deren Kinder neben ihrer hohen intellektuellen Leistungsfähigkeit auch tatsächlich Schwierigkeiten neurologischer bzw. psychiatrischer Art haben. Es kann sich um Lernschwierigkeiten, Legasthenie, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität (ADS), Zwangsstörungen (OCD) oder um Autismus-Spektrum-Störungen handeln. Bei diesen Kindern wird man folglich feststellen, dass die jeweiligen Schwierigkeiten in jeder Situation auftreten. So zum Beispiel, wenn es einem Kind schwerfällt, sich in der Schule unter dem Einfluss von Lärm und äußeren Einwirkungen zu konzentrieren, die Konzentrationsschwierigkeiten aber ebenso in einer ruhigen Umgebung, etwa zu Hause, auftreten.
Es ist wichtig, dass auch bei diesen Kindern die Intelligenz
bestimmt wird, um genau zu sehen, welche Ursachen ein bestimmtes Verhalten hat. In...