1. Let’s talk about Sex – im Islam
Sexualität ist ein ebenso eigenes wie interessantes Thema, tabuisiert und doch irgendwie immer und überall präsent. Für das Verständnis muslimischen Lebens ist sie ein Schlüsselthema, denn kaum etwas prägt so sehr und so nachhaltig die islamische Ethik und Rechtslehre, das Leben von Individuum, Familie und Gesellschaft, die Möglichkeiten und Grenzen der Integration, aber auch den politischen Islam mit seinen legalistischen und militanten Ausprägungen wie die Sexualität.
Der Islam ist per se eine mit zahlreichen Regeln behaftete Religion, die das Leben der Gläubigen im religiös-rituellen Bereich, aber auch im Alltag, im Umgang in Ehe, Familie und Gesellschaft wie in Fragen der öffentlichen Ordnung gestaltet. Persönliche wie politische Spielräume gibt es streng genommen nur dort, wo die Religion keine verbindlichen Regeln vorgibt. Die normativen Quellen des Islams – Koran und Sunna – enthalten somit auch zahlreiche Hinweise auf das regelgerechte Sexualverhalten der Menschen, die von Rechtsgelehrten mit Ratschlägen und Fatwas an die Gläubigen ausgelegt und weitergedacht werden und in einem umfassenden einschlägigen Verhaltenskodex münden, der insbesondere im persönlichen Umgang der Geschlechter innerhalb und außerhalb der Ehe zu beachten ist und über dessen Einhaltung Familie und Gesellschaft, gelegentlich aber auch staatliche Stellen wachen.
Auf der einen Seite steht das positive Bekenntnis zur grundsätzlich zu bejahenden und zwingend auszulebenden menschlichen Sexualität, die als gute Gabe Gottes der Fortpflanzung wie dem Vergnügen der Menschen dient. Ein Verzicht auf gelebte Sexualität erscheint abwegig bis unmöglich und noch dazu als Verweigerung gegenüber der göttlichen Schöpfungsordnung.
Gleichzeitig bedarf es umfangreicher Maßnahmen, um den so ausgeprägten Geschlechtstrieb zu kontrollieren, denn nichts ist schlimmer als Zina – Unzucht – Sex außerhalb der Ehe. Damit es so weit erst gar nicht kommt, muss alles vermieden werden, was zur Unzucht führen könnte. Je nach Strenge der Auslegung kann es hier um ungestörte Zweisamkeit, den Austausch von Zärtlichkeiten oder auch bereits den Blickkontakt oder das Händeschütteln mit dem anderen Geschlecht gehen, das Telefonieren oder die Klassenfahrt.
Eine Fülle von sozialen und rechtlichen Regeln sowie Mechanismen sozialer Kontrolle ist dazu angetan, ein regelgerechtes Sexualleben sicherzustellen und abweichendes Verhalten insbesondere von Mädchen und Frauen zu vermeiden. Hierzu zählt die im traditionellen Milieu noch recht strenge Trennung der Geschlechter, insbesondere aber die Kleiderordnung, die gewährleisten soll, dass die weiblichen Reize nicht zu unsittlichen Gedanken oder gar Handlungen reizen. In der Folge werden unter anderem gemischter Sport- und Schwimmunterricht, die Teilnahme an Klassenfahrten, die Teilnahme muslimischer Jugendlicher am sozialen Leben ihrer Altersgenossen und vieles mehr infrage gestellt. In allen Fällen geht es um das eine: die Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung in Fragen der Sexualmoral, die in religiös orientierten Familien im Konfliktfall allemal höher bewertet wird als beispielsweise Bildung und soziale Integration. Auch die im westlichen Denken so wertvolle Autonomie und Selbstbestimmung kann sich allenfalls in den von der Religion gesetzten Regeln bewegen und ist diesen unterzuordnen.
Dabei ist das regelgerechte Sexualverhalten insbesondere von Mädchen und Frauen so zentral für die Beurteilung ihrer Moral und Frömmigkeit, dass jedes noch so kleine Zuwiderhandeln offenbar durch kein noch so großes Engagement in anderen, von der Religion für wichtig erachteten Bereichen wettgemacht werden kann. Der Zustand ganzer islamischer Gesellschaften wird maßgeblich an der sichtbaren Einhaltung islamischer Sexualmoral festgemacht. In der Auseinandersetzung mit dem Westen nimmt die Werbung für eine strenge Auslegung islamischer Kleidervorschriften, eine vermehrte Abschottung der Frauen und die Aufgabe jeder sexuellen Selbstbestimmung deutlich zu. Angesichts der großen Anzahl von Muslimen, die als Minderheiten in kulturell anders geprägten Gesellschaften leben, werden partielle Lockerungen im Umgang der Geschlechter und im Umgang mit den strikten Normen islamischer Sexualmoral vom konservativen Mainstream-Islam bis hinein in alle Strömungen des Islamismus als westliche Einflussnahme und Einfallstor des Teufels bekämpft.
Durch die strenge Moral entstehen zahlreiche Doppelbödigkeiten, indem abweichende und unerwünschte Verhaltensweisen mal verteufelt, mal schlicht geleugnet werden: heimliche Beziehungen, häufig mit »ausweichenden« Sexualpraktiken wie Analverkehr zur Vermeidung von Schwangerschaft und Entjungferung, Homosexualität, sexueller Missbrauch, Pornographie, Prostitution. Was nicht sein kann, das nicht sein darf, und wenn es gar nicht zu übersehen ist, dann ist es sicher dem Wesen nach zutiefst unislamisch, möglicherweise Teil einer Verschwörung, die den Islam vernichten will. Die Folgen dieser Vogel-Strauß-Politik sind erheblich: Präventionsprogramme beispielsweise gegen Aids sind in mehrheitlich muslimischen Ländern kaum durchführbar, da eben die meisten »Risikoverhaltensweisen« schlicht ignoriert werden. Ganze Bevölkerungsgruppen wie Homosexuelle oder Prostituierte werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt und leben häufig mit großer Angst oder gar außerhalb der Legalität. Opfern sexueller Gewalt wird jede Hilfe versagt, indem man das Thema schlicht ignoriert oder das Opfer zum Täter macht. Doch auch im militanten Jihad ist Sex ein Thema: als Mittel der besonderen Unterstützung und Ermutigung der Kämpfer bis zur Legitimation von Versklavung zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung.
Die vielschichtigen Aspekte islamischer Sexualmoral und ihrer Umsetzung im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, islamischer Werteordnung und westlicher Welt, Integration und Parallelgesellschaft sollen im Rahmen dieses Buches beleuchtet werden. Es ist kein Blick in muslimische Betten, sondern auf die vielen Aspekte des islamischen Normensystems, die sich um das Thema Sex drehen.
Manch einer mag jetzt die Relevanz der religiösen Normen für das reale Leben infrage stellen. Die Diskrepanz einer Weltanschauung zwischen Theorie und gelebter Praxis kann ja bisweilen groß sein. Wie relevant sind also tatsächlich die Vorgaben der Religion für das Sexualleben der Musliminnen und Muslime? Werden sie als Handlungsanweisungen angenommen und umgesetzt, oder schreiben die vielen Religionsgelehrten, die sich mit besonderem Eifer dieser Thematik annehmen, an der Lebensrealität vorbei? Natürlich liegt die Antwort irgendwo dazwischen, wenngleich sie eine große Nähe zur tatsächlichen Relevanz der religiösen Regeln in diesem Bereich aufweist. Für die islamische Welt gilt zunächst in fast zu verallgemeinernder Form, dass das islamkonforme Sexualverhalten beider Geschlechter, in besonderer Weise aber der Mädchen und Frauen, als in die Zuständigkeit der Gesellschaft oder auch des Staates fallend angesehen wird. Wo beispielsweise die islamische Kleidung der Frau staatlicherseits gefördert oder gar verordnet wird, macht man sich ein Geschlechterbild zu eigen, das im Islam verwurzelt ist. Die hier so oft betonte Freiwilligkeit des Kopftuchtragens beispielsweise spielt in solchen Kontexten gar keine Rolle. Es geht nicht um die individuelle Freiheit der Lebensgestaltung, sondern um die Einhaltung und Durchsetzung der religiösen Normen, die für alle gelten sollen. Was diesbezüglich der Staat nicht regelt und sanktioniert, erledigen Familie und Gesellschaft, die mit Argusaugen darüber wachen, dass es keine unerlaubten Kontakte zwischen den Geschlechtern gibt, Mädchen sich sittsam und zurückhaltend verhalten und auf ihre Jungfräulichkeit bedacht sind, unerwünschte Personengruppen wie Homosexuelle und Prostituierte ignoriert oder geächtet werden und vieles mehr. Die vielen Erfahrungen und Berichte aus diesem Bereich stellen keine bedauerlichen Einzelfälle dar, sondern sind die Regel und prägen das Leben der überwältigenden Mehrheit der Muslime. Natürlich sind diese nicht alle damit einverstanden, jedoch muss jedes von der Norm abweichende Verhalten gerade im Bereich der Sexualität heimlich geschehen, mit der steten Angst vor Entdeckung und Bestrafung. Auch wenn die mehrheitlich muslimischen Länder sich heute hinsichtlich ihrer Islamauslegung und Orientierung an der Scharia unterscheiden, ist bei unserem Thema eine allzu große Differenzierung leider unangebracht. Auch in Staaten, die in weiten Teilen eine westliche Gesetzgebung übernommen haben und beispielsweise schon lange und dezidiert auf die Anwendung des islamischen Strafrechts verzichten, gilt im Bereich Frau, Familie, Ehre und Sexualität der Islam, und das selbst bei Menschen, die eigentlich nicht sonderlich religiös sind. Über westliche Kleidung, die Vernachlässigung der religiösen Pflichten, ja selbst ein gelegentliches Feierabendbier lässt sich eher hinwegsehen als über den drohenden Ehrverlust durch das Sexualverhalten der Tochter, Schwester oder Ehefrau.
Wie in allen Religionsgemeinschaften, so gibt es natürlich auch unter Musliminnen und Muslimen eine große Bandbreite von der strengen religiösen Observanz in allen Bereichen bis zur totalen Ignoranz oder gar Ablehnung der eigenen religiösen Zugehörigkeit mit allen nur denkbaren Abstufungen zwischen beiden Polen. Das Leben gestaltet sich gerade in der Minderheitensituation wie in Deutschland, die zumindest hinsichtlich der staatlichen Rahmenbedingungen die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung zulässt, in der Realität sehr vielfältig. Allerdings bezeichnen sich 87 Prozent der Muslime hierzulande als religiös oder sogar sehr religiös, auch in der jungen Generation.1 Das bedeutet nicht, dass sie alle streng islamisch leben, sehr wohl aber dass sie empfänglich sind für religiöse Werte und Normen, gerade in einem Kernbereich des Glaubens, wie ihn Sexualität, Geschlechterrollen, Ehe und Familie darstellen.
Also dann: Let’s talk about Sex – im Islam!