Kann Kirche Demokratie?
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Kann Kirche Demokratie?

Wir Protestanten im Stresstest

  1. 176 Seiten
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Kann Kirche Demokratie?

Wir Protestanten im Stresstest

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Über dieses Buch

"Wehret den Anfängen" war gestern. Längst geht es darum, der Normalisierung rechtsextremer Positionen in Politik und Gesellschaft zu wehren. In diesem Stresstest der Demokratie stehen auch die Kirchen unter Druck. Die Angriffe von Seiten der AfD nehmen an Schärfe zu und zielen ganz offen auf eine Spaltung der Protestanten.Will die Evangelische Kirche dem widerstehen, muss sie ihre Anfälligkeiten für autoritäres, nationalistisches und ausgrenzendes Denken ebenso kennen wie ihre Resourcen, die sie zur Verteidigung der Demokratie mobilisieren kann.Der Fernsehjournalist und Theologe Arnd Henze benennt die Schwachstellen und Angriffsflächen und zeigt an vielen Beispielen, wie ausgeprägt das toxische Erbe protestantischer Demokratieverachtung und die Verknüpfung von Christ- und Deutschsein bis heute wirksam sind. Zugleich macht er Mut, die Gemeinden als Lernorte für den sozialen und kulturellen Wandel der Gesellschaft zu öffnen. Denn die Demokratie wird sich nur behaupten, wenn sie es schafft, dem verächtlichen Narrativ des Scheiterns eine neue Erzählung des Gelingens entgegen zu setzen. Arnd Henze istüberzeugt: Dazu können die Protestanten eine Menge beitragen - wenn sie sich den Herausforderungen mutig stellen, statt sich verzagt hinter Kirchenmauern zu verschanzen."In einer Zeit, in der die Demokratieverächter eine "180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik" fordern, sollten sich die Kirchen dringend ehrlich machen und ihre eigenen blinden Flecken in der Geschichtsschreibung neu in den Blick nehmen. Gerade deshalb bin ich aber überzeugt, dass die gegenwärtige Bewährungskrise für die Demokratie auch eine zweite Chance für den Protestantismus bedeutet. Die Chance nämlich, zum ersten Mal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – oder genauer: zu kämpfen." (Arnd Heinze)"Die Lektüre von Arnd Henzes Wahrnehmungen fordert heraus: zum Nachdenken, zum Widerspruch, zur Zustimmung. Vor allem ermutigt sie, notwendige Veränderungen anzupacken." (Nikolaus Schneider)"Die Lektüre von Arnd Henzes Wahrnehmungen fordert heraus: zum Nachdenken, zum Widerspruch, zur Zustimmung. Vor allem ermutigt sie, notwendige Veränderungen anzupacken." (Nikolaus Schneider)

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783451818264

III.

Im Glashaus – Die blinden Flecken des Protestantismus

So notwendig die harte Auseinandersetzung mit völkisch-nationalistischen und menschenfeindlichen Gruppierungen am politischen Rand der Gesellschaft ist – sie darf kein Ersatz für die noch ungleich schwierigere Beschäftigung mit der Frage sein, wie stark solche Positionen auch innerhalb der Kirchen wirksam sind. Der im Jahr 2018 veröffentlichte Bericht der Leipziger »Autoritarismus-Studie«, ehemals bekannt unter dem Namen Leipziger »Mitte«-Studie, widmet der »Religion als konfliktärem Faktor« ein eigenes Kapitel und widerspricht mit vielen beunruhigenden Belegen der gut gepflegten Annahme, religiöse Zugehörigkeiten und christliche Überzeugungen hätten eine immunisierende Wirkung gegen Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit.
Auch wenn die Abstände oft nicht groß sind: Fast durchgängig zeigen Protestanten und Katholiken eine stärkere Präferenz für solche Einstellungen als Konfessionslose. Das gilt für ein pauschales Zuwanderungsverbot für Muslime, das 44 Prozent der Kirchenmitglieder richtig finden, ebenso wie für ein vollständiges Innenstadtverbot für Sinti und Roma, das jeder zweite Christ unterstützen würde. Und im Kontrast zu den Voten von Kirchenleitungen und Synoden meint nicht einmal jedes fünfte Kirchenmitglied, dass der Staat bei der Prüfung von Asylanträgen großzügiger sein sollte. Auch hier ist die Haltung bei Konfessionslosen etwas liberaler.
Autoritäres Denken zeigt sich auch bei dieser Aussage: »Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind.« 88 Prozent der Katholiken und 86 Prozent der Protestanten stimmen dem zu. Fast 60 Prozent der Christen finden, man solle »wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen« – signifikant mehr als bei den Konfessionslosen. Einen mäßigenden Einfluss scheint das Christentum nur auf die Akzeptanz von Gewalt zu haben. Die ist vor allem bei den Katholiken mit gut 11 Prozent deutlicher schwächer ausgeprägt als bei den Konfessionslosen (20 Prozent). Aber ist die Sehnsucht nach dem Autoritären in ihrer sanften Variante wirklich ungefährlicher als in ihrer aggressiven Ausprägung am rechten Rand? Und was passiert, wenn sich – wie in Chemnitz – beides miteinander verbindet?
Noch aufschlussreicher sind die bereits zitierten Ergebnisse der Studie »Christ sein in Westeuropa« des renommierten US-amerikanischen Pew Research Centers. Denn sie unterscheiden zwischen praktizierenden und nichtpraktizierenden Christen. Die Ergebnisse sind dramatisch: So sagen in Deutschland 55 Prozent der regelmäßigen Kirchgänger beider Konfessionen, dass »der Islam grundsätzlich nicht mit der Kultur und den Werten unseres Landes vereinbar« sei, bei den Religionslosen sind es nur 32 Prozent. Eine ähnliche Diskrepanz ergibt sich bei der Forderung nach einer Reduzierung der Einwandererzahlen (48 zu 36 Prozent). Ein Ergebnis der Umfrage sollte besonders alarmieren: Rund 73 Prozent der regelmäßigen evangelischen und katholischen Gottesdienstbesucher meinen, man müsse deutsche Vorfahren haben, »um wirklich Deutscher zu sein.« Dieser Wert liegt drastisch über dem der Gesamtbevölkerung (49 Prozent) und ist mehr als doppelt so hoch wie bei Religionslosen! Fast genauso hoch ist die Zustimmung zur Aussage, nur in Deutschland Geborene könnten »richtige« Deutsche sein. Auf einen Messfehler sollte niemand hoffen: In vielen westeuropäischen Ländern sind die Zahlen ähnlich. Und überall in Westeuropa sagen weit überdurchschnittlich viele Kirchgänger, dass »unser Volk nicht perfekt, aber unsere Kultur anderen überlegen ist«.
Aus 22 solcher Fragen und Aussagen haben die Forscher des Pew Centers die sogenannte NIM-Skala entwickelt. Die Abkürzung steht für »Nationalist, anti-Immigration und anti-religious Minorities«. Je höher der Wert auf einer Skala zwischen 0 und 10 ist, desto konsistenter sind die Einstellungen in diesem Bereich. Mehr als vier von zehn Kirchgängern in Deutschland kommen dabei auf einen Wert zwischen fünf und zehn. Das sind fast doppelt so viele wie bei den nicht praktizierenden Christen (24 %) und noch deutlich mehr als bei den Konfessionslosen (18 %). Auch im europäischen Vergleich gehören die Gottesdienstbesucher in Deutschland zu einer unrühmlichen Spitzengruppe mit Österreichern, Italienern und Iren.
Die Studie des Pew Centers, die Teil eines weltweiten Forschungsprojektes über religiöse Einstellungen ist, macht eines deutlich: Menschen, die ihren christlichen Glauben aktiv praktizieren, stehen autoritären, ausgrenzenden und völkischen Einstellungen statistisch aufgeschlossener gegenüber als Menschen, die der Kirche nur auf dem Papier angehören.
Die beiden von mir zitierten Studien wurde im Sommer und Herbst 2018 veröffentlich. Die Leipziger Untersuchung hat im politischen Raum breite Resonanz gefunden. Aus den Kirchen habe ich dagegen kaum Reaktionen gehört. Sind die Untersuchungen überhaupt zur Kenntnis genommen worden? Hat sich der Rat der EKD mit den Ergebnissen beschäftigt? Die EKD-Synode oder eine der vielen Landessynoden? Die katholische Bischofskonferenz? Oder hat man die Zahlen beiseitegeschoben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
Die Hoffnung auf die immunisierende Wirkung des Glaubens dürfte zumindest erschüttert sein. Und beide Kirchen sollten den Gedanken zulassen, dass sie ausgerechnet mit ihrer Kerngruppe der regelmäßigen Gottesdienstbesucher Teil des Problems sind.
Ich werde jedenfalls in den folgenden Kapiteln von dieser Arbeitshypothese ausgehen und mich auf eine Spurensuche nach dem autoritären, völkischen und ausgrenzenden Erbe vor allem des Protestantismus in Deutschland machen. Es wäre allerdings auch dringend nötig, dass die Herausforderung auch auf katholischer Seite angenommen wird, denn dort sind die Werte noch beunruhigender. Mein Blick wird zwangsläufig einseitig, unvollständig und mitunter sogar ungerecht ausfallen. Der unzweifelhaft auch positive Beitrag der Kirchen zur freiheitlichen Demokratie ist aber bereits hinlänglich gewürdigt worden, wird von mir auch überhaupt nicht bestritten und kann deshalb als bekannt vorausgesetzt werden.

Jede Obrigkeit von Gott?

In ihrer langen Geschichte hat sich der Protestantismus oft eher von den Menschen als von den Mächtigen entfernt. Luther war auf die Unterstützung der reformatorisch gesinnten Fürsten angewiesen und ließ gegenüber dem Aufstand der Bauern jedes Maß verlieren. Das landesherrliche Kirchenregiment klammerte sich noch an den Anachronismus der Monarchie, als die industrielle Revolution längst neue Formen der Partizipation geschaffen hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts traten die Arbeiter in Scharen aus der Kirche aus, weil die Geistlichkeit in Treue an der Seite des Kaisers blieb. Für die Weimarer Republik hatte die überwältigende Mehrheit der protestantischen Pfarrerschaft nur tiefe Verachtung über. Der Widerstand im Nationalsozialismus war der mutige Kampf einer Minderheit, auch wenn sich nach Kriegsende viele damit schmückten. Der Beitrag von Kirchenleitungen und Gemeinden zur Demokratie des Grundgesetzes blieb bis Mitte der 1960er-Jahre höchst bescheiden. Inzwischen identifizieren sich zwar die meisten Christen mit der Demokratie – aber wie die zitierte Studie des Pew Centers zeigt, ist das Eis nach gerade einmal 50 Jahren noch oder schon wieder dünn.
Die Anfälligkeit des Protestantismus für die autoritäre Versuchung ergibt sich historisch aus einer vor allem im Luthertum überaus wirkmächtigen Auslegung des 13. Kapitels im Römerbrief: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.« (Röm. 13,1) Auf der Grundlage von Römer 13 unterschied Luther das geistliche Regiment, das von Gewaltfreiheit und Nächstenliebe geprägt war, vom weltlichen Regiment, das er vor allem als strafendes Schwertamt verstand. Doch während Luther dieses Schwertamt immerhin noch an die Aufgabe band, für äußeres Recht und Frieden zu sorgen, ging diese Beschränkung in der lutherischen Orthodoxie weitgehend verloren. Obrigkeit war Macht. Macht forderte Gehorsam. Ungehorsam war Sünde. Diese Engführung staatlicher Aufgaben auf das Schwertamt findet sich in Spuren sogar noch in der Barmer Theologischen Erklärung, wo die »Androhung und Ausübung von Gewalt« ausdrücklich als wesentliches staatliches Instrument und nicht, wie der Theologe Karl Barth später bedauert hat, als Ultima Ratio benannt wurde.
Neben der strengen, aber nüchternen Zwei-Reiche-Lehre, die vor allem durch das extrem pessimistische Menschenbild Luthers geprägt war, entwickelte sich eine zweite, eher triumphalistische Linie, die den autoritär geführten Staat als göttliche Schöpfungsordnung idealisierte. Auch diese Denkschule konnte sich auf Römer 13 berufen, sodass sich in der kirchlichen Praxis nicht selten der Pessimismus der Zwei-Reiche-Lehre mit dem Triumphalismus der Schöpfungsordnungstheorie auf unheilvolle Weise vermengte. Beiden gemeinsam war darüber hinaus, dass sie der staatlichen Obrigkeit ein hohes Maß an Eigengesetzlichkeit in weltlichen Fragen zugestanden.
Vor dieser historischen Folie bedeutet es einen entscheidenden Durchbruch, dass die Barmer Theologische Erklärung nicht mit Römer 13 argumentiert. Stattdessen stellt sie der 5. These ein Wort aus dem 1. Petrusbrief voran, das die Autorität des Staates dem Gehorsam gegenüber Gott unterordnet: »Fürchtet Gott, ehrt den König«. Noch wichtiger aber war, dass bereits in These 2 die falsche Lehre verworfen wird, »als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären.« Zu Deutsch: Der Blankoscheck für die Eigengesetzlichkeit staatlichen Handelns wurde zurückgezogen: Die »Obrigkeit« gewinnt ihre Würde nicht aus sich selbst heraus, sondern ausschließlich aus ihrer Bindung an Recht und Frieden. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht sie die kritische Begleitung der Kirche – und nur, wo der Staat dieser Aufgabe gerecht wird, hat er Anspruch auf Loyalität.
Die Barmer Theologische Erklärung bot in dieser Hinsicht ein starkes Fundament, einen Rechtsstaat zu begründen und sich der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit staatlicher Rechtsausübung bewusst zu bleiben. Trotz des Bekenntnisses aus dem Jahr 1934 hat in der Folgezeit aber nur ein kleiner Teil der Bekennenden Kirche das Unrechtshandeln des NS-Staates kritisiert. Und wie wir noch sehen werden, hat es auch nach 1945 noch eine Generation gedauert, ehe die evangelische Kirche begann, das obrigkeitliche Denken kritisch aufzuarbeiten und ein positives Verhältnis zum demokratischen Rechtsstaat zu entwickeln.

Das Gift des Antisemitismus

Wenn das Reformationsjubiläum für eines gut war, dann für die Klarheit, mit der sich die evangelischen Kirchen vom Antisemitismus Martin Luthers distanziert haben. Ich erinnere mich gut, wie manche Professoren im Theologiestudium noch Ende der 1980er-Jahre wortreich versucht hatten, Luthers Tiraden »Wider die Juden und ihre Lügen« zu relativieren und zu verharmlosen: Er sei halt enttäuscht gewesen über die Zurückweisung seines früheren Werbens um die Juden – und im Übrigen sei er ja auch sonst ein Mann der deftigen Worte gewesen. Man solle seine Aufrufe zu Vertreibung, Pogromen und Mord deshalb nicht auf die Goldwaage legen. Für alle Fälle hatten die Apologeten immer ein paar freundliche Zitate aus den Frühwerken des Reformators parat.
Heute gibt es zumindest in den protestantischen Kirchen große Einigkeit, dass die christlich begründete Judenfeindschaft eine wesentliche Wurzel des Antisemitismus und der Verfolgungsgeschichte des Judentums war und ist.
Bahnbrechend war dabei die langjährige Debatte in der rheinischen Landeskirche, die 1980 in die Synodalerklärung »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« mündete. Erstmals werden darin Versagen und Schuld der Kirche während der NS-Zeit in einen ursächlichen Zusammenhang mit »jahrhundertealten Vorurteilen und Entscheidungen der Christenheit« gestellt. Konkret verworfen wird vor allem die judenfeindliche Lehre von der Ersetzung des »alten« Gottesbundes mit Israel durch einen »neuen« Bund in Jesus Christus – und damit auch die Ersetzung Israels durch die Kirche als das vermeintlich »wahre Gottesvolk und wahre Israel«. Die wichtigste praktische Konsequenz war die Absage an die sogenannte Judenmission.
Was mich bis heute begeistert, ist der beispielhaft demokratische Prozess, der dem Synodalbeschluss nicht nur vorausging, sondern ihm auch nach der Verabschiedung folgte. Bevor sich die rheinische Synode in den Jahren 1988 und 2003 erneut mit dem Verhältnis zum Judentum beschäftigte, wurden die strittigen Fragen in den Gemeinden intensiv diskutiert. Mehr als 80 Prozent der Presbyterien brachten ihre Voten in den Entscheidungsprozess ein. Dabei ging es um hochkomplexe theologische, historische und politische Bewertungen. Behaupte also nie wieder jemand, man dürfe die kirchliche Basis nicht überfordern!
Was im Rheinland erarbeitet und erstritten wurde, hat anderen Landeskirchen genau diesen mühsamen Prozess erleichtert oder gar erspart. Mit dem Synodalbeschluss von 1980 gab es ja nun eine Vorlage, an der man sich orientieren konnte. Allerdings hat es nach dem rheinischen Synodalbeschluss noch 35 Jahre gedauert, bis sich auch die EKD-Synode rechtzeitig zum Reformationsjubiläum in aller Form von Luthers antijüdischen Hetzschriften distanzierte und ein weiteres Jahr später auch das Ziel der Judenmission verbindlich aufgab. An der offiziellen Haltung zum antijüdischen Erbe kann es nun nicht mehr den geringsten Zweifel geben. Die Kehrseite: Auf dem langen Weg zwischen 1980 und heute ist der diskursive Schwung in der Breite weitgehend erlahmt. Insofern ist die Einstimmigkeit der Beschlüsse einerseits eine gute Nachricht. Sie sollte aber nicht zu der Illusion verleiten, dass dieser Konsens auch für die Gemeinden gilt.
Auch hier sind es wieder einige nackte Zahlen, die belegen, dass die erhoffte Immunisierung gegenüber dem Antisemitismus im protestantischen Raum allenfalls partiell erreicht wurde, während judenfeindliche Haltungen unter Katholiken sogar überdurchschnittlich verbreitet sind. In der schon zitierten Studie des Pew Centers stimmen in Deutschland 18 Prozent aller Christen und sogar 26 Prozent der Kirchgänger der Aussage zu: »Die Juden übertreiben immer, wie sehr sie gelitten haben.« Und ähnlich viele meinen: »Die Juden verfolgen immer nur ihre eigenen Interessen und nicht die des Landes, in dem sie leben.«
Mit gerade einmal 42 Prozent würde nicht einmal jeder zweite praktizierende Katholik einen Juden als Familienmitglied akzeptieren. Die Absage des Zweiten Vatikanischen Konzils an jede Form von Judenfeindschaft scheint in den Gemeinden nur begrenzt angekommen oder in der restaurativen Ära unter Papst Benedikt wieder verloren gegangen zu sein. Immerhin ticken zumindest bei dieser Frage die Protestanten völlig anders: Fast 85 Prozent von ihnen hätten kein Problem mit einem jüdischen Angehörigen.
Die intensiven Debatten um das Verhältnis von Christen und Juden mögen die antisemitischen Einstellungen unter evangelischen Kirchgänger auf das Maß der Gesamtbevölkerung zurückgedrängt haben – sie als bleibende Realität zu unterschätzen oder zu relativieren, wäre aber fahrlässig.
Im Alltag der Gemeinden sind die Beharrungskräfte theologischer, politischer und kultureller Ressentiments weiter wirkmächtig. Und wenn in der rheinischen Landeskirche immer mal wieder darüber gestritten wird, ob man die Existenz des Staates Israel wirklich als »Zeichen der Treue Gottes« bezeichnen dürfe, mag das eine wichtige Debatte für theo...

Inhaltsverzeichnis

  1. Kann Kirche Demokratie?
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Einleitung
  7. I. Der Angriff auf die Demokratie
  8. II. Unheilige Allianzen – Christen und Populisten
  9. III. Im Glashaus – Die blinden Flecken des Protestantismus
  10. IV. Das toxische Erbe – Fehlstart in die Demokratie
  11. V. Aufbrüche – Lernfeld Demokratie
  12. VI. Glanz und Elend der politischen Predigt
  13. VII. Mut zur Weltlichkeit
  14. Dank
  15. Literatur
  16. Über den Autor