Vive la famille
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Vive la famille

Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können

  1. 224 Seiten
  2. German
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Vive la famille

Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können

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Über dieses Buch

Vielleicht hätte sie in Deutschland nie Kinder bekommen. Vielleicht hätte sie ihrer Karriere als Journalistin den Vorzug gegeben. Aber inzwischen lebt sie in Frankreich – und im Nachbarland gehören Kinder zum Alltag. Es ist das Natürlichste überhaupt, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Unterhaltsam erzählt Annika Joeres ihre Erlebnisse in Frankreich. Und das, was wir von den Franzosen alles lernen können. Und es ist klar: Dieses Buch wird das Geheimnis der französischen Großfamilie lüften. Endgültig!

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Information

Die sorglose Betreuung

„Um ein Kind glücklich groß werden zu lassen, braucht es Dutzende Personen.“
Marlène Schiappa, Vorsitzende des französischen Vereins „Maman travaille“ („Mutter arbeitet“)
„Wie alt ist denn Ihr Sohn?“, fragte mich die Leiterin der Kita in unserer Stadt, als ich im dritten Schwangerschaftsmonat bei ihr auftauchte, um Fred rechtzeitig anzumelden. Mein Bauch wölbte sich längst noch nicht, Fred war mir noch nicht anzusehen. „Er wird erst in sechs Monaten geboren“, antwortete ich. Die Leiterin lachte herzlich. „Na, Sie sind ja eine ganz Schnelle.“ So früh sein Kind anzumelden, ist in Frankreich nicht üblich. Sich schon bei der Empfängnis um die Betreuung zu sorgen, auch nicht. Jede Stadt geht selbstverständlich davon aus, dass die in ihr geborenen Kinder auch betreut werden müssen, und so hat fast jedes Dorf eine eigene Krippe und zusätzlich ein großes Netz an staatlich geprüften Tagesmüttern. Hat die Kita zu wenige Plätze, was gerade in Großstädten auch häufiger vorkommt, melden Eltern ihre Kinder bei Tagesmüttern an. Die Adresse bekommen sie von einer städtischen Beratung, die uns mit einer Liste von Tagesmüttern und der Telefonnummer unserer Kita versorgte.
In Frankreich stellt sich nicht die Frage, ob wir unseren Sohn betreuen lassen können, sondern eher, wie lange und von wem. „Nimmst du acht Stunden am Tag oder mehr? Willst du eine Tagesmutter oder besser eine Kita?“, fragte mich Céline. Ich fühlte mich reich beschenkt. Die ganz freie Wahl hatten wir dann aber leider doch nicht: Weil unsere kleine Stadt gerade rasant wuchs, wurden auch hier die Kitaplätze rar. So ging Fred für sieben Monate zu einer Tagesmutter in unserer Wohnstraße und dann erst mit einem Jahr in die Kita. Zuerst fanden wir es ohnehin ideal, ihn als viermonatiges Würmchen zu einer einzigen Bezugsperson zu geben. Das kam uns menschlicher vor, als ihn in einer großen Gruppe zu sehen. Wir trafen uns mit drei „Nounous“, die wir zu Fuß erreichen konnten. Die eine schreckte uns ab, weil auf ihrer Terrasse Aschenbecher mit Dutzenden Zigarettenstummeln standen – sie seien von ihren Söhnen, sagte Madame, aber irgendwie verleidete uns der Anblick ihren ansonsten netten Empfang. Die zweite hatte gerade ihre Ausbildung fertig und schien uns mit auswendig gelernten Sätzen zu antworten, das war uns unheimlich. Für die dritte entschieden wir uns schließlich, sie hatte noch drei weitere kleine Kinder und war sehr herzlich und ein eher großmütterlicher Typ. Sie kochte selbst und fand, dass die industriellen Babygläschen „stinken“ würden, das gefiel uns schon einmal. In ihrem Garten hielt sie Gänse und versprach, mit den Kleinen häufig spazieren zu gehen.
Aber später waren wir doch sehr froh, in die Kita wechseln zu können. Die Nounou, wie Tagesmütter auf Französisch heißen, war zwar tatsächlich sehr herzlich und lieb zu Fred. Erschrocken stellte ich aber fest, dass sie die Kinder bei Regenwetter immer mal wieder vor den Fernseher setzte. Zwar ist es den Nounous offiziell verboten, Kinder unter einem Jahr vor die Flimmerkiste zu hocken, aber unsere löste dieses Dilemma, indem sie Fred in seinem Sitz umdrehte und die älteren Kinder Zeichentrickfilme gucken ließ. Wir waren sehr unglücklich damit. Eine staatliche Aufsicht, so empfanden wir damals, ist für uns die bessere Variante. Selbst wenn eine Erzieherin in der Kita mal nicht so toll sein sollte, gibt es immer noch andere, die das ausgleichen können. Und einen Fernseher haben die öffentlichen Kitas natürlich ohnehin nie.
Französische Eltern haben wie deutsche ganz unterschiedliche Vorlieben für Nounous oder die „crèche“. Julie konnte sich nicht zwischen einer Tagesmutter und dem Kitaplatz entscheiden. Die Kita in ihrem Dorf war gerade neu gebaut und hübsch ausgestattet, die Nounous waren ebenso sympathisch wie nah zu ihrem Haus. Die Finanzanalystin hat sich dann für eine Nounou entschieden, die in ihrem Garten Hasen hielt. Julie erinnerten die Tiere an ihre eigene Kindheit, beim ersten Treffen konnte sie Möhren verfüttern. „Wir hatten tatsächlich die Qual der Wahl“, sagt sie. Ärztin Mathilde gibt ihren Sohn direkt in der Klinik in der Betriebs-Kita ab – wie auch immer ihre Arbeitszeiten sind. Viele größere Betriebe, Krankenhäuser und Universitäten halten wie selbstverständlich eigene Kindergruppen für ihre Angestellten. „Tom und ich gehen gemeinsam aus dem Haus, und wenn ich wegen eines Notfalles noch länger arbeiten muss, gehe ich bei der Kita vorbei und sage Bescheid“, sagt Mathilde.
Hans und ich entschlossen uns schließlich, Fred an vier Tagen von 8.30 Uhr bis 17.30 Uhr betreuen zu lassen. Eine Zeitspanne, die viele Deutsche erschreckt. „Huch, das ist aber lange“, sagen meine Freundinnen, „er ist doch noch so klein.“ Sie versuchen, vor mir ihr Bestürzung zu verbergen, weil sie eigentlich auch für eine Betreuung sind und wissen, wie gerne ich arbeite. Aber ich kann ihnen ansehen: In Deutschland ist es noch immer verpönt, ein Kind so lange in der Kita zu lassen, wie es eigentlich jede durchschnittliche Arbeitnehmerin benötigt. Einige sagten auch: „Ich könnte das nicht!“ Ein Satz der impliziert: „Wieso kannst du das? Fühlst du dich nicht seltsam damit? Vermisst du deinen Sohn denn gar nicht?“
Doch, ich vermisse ihn häufiger mal am Tag. Wenn ich mittags auf die Uhr gucke, stelle ich mir vor, wie Fred gerade seine Vorspeise isst, um 14 Uhr, wie er in seinem Bettchen schläft, und um 16 Uhr, womit er wohl gerade spielt. Aber wenn ich um kurz nach 17 Uhr mit dem Fahrrad zur Kita fahre, hatten wir beide einen sehr erfüllten Tag hinter uns. Ich habe neben meinem Schreiben manchmal noch joggen oder ein paar Tomatenpflanzen setzen können, er konnte mit Gleichaltrigen spielen. Wie gerne Fred in die Kita geht, ist für jeden sichtbar, wenn er morgens von meinem Arm direkt in die Bauecke oder auf die Rutsche rennt. Am Anfang hatte ich noch befürchtet, wir könnten ihm fremd werden und er sich mehr an die Erzieherinnen wenden als an uns. Aber dem ist zum Glück nicht so. Wenn wir ihn abholen, rennt er uns freudig entgegen, und wir fühlen uns ihm sehr nahe. Inzwischen, so sagt Hans, „zahlen wir auch dafür, damit Fred einen schönen Tag zum Spielen hat.“
Natürlich hatten Hans und ich am Anfang große Bedenken, ihn bis in den frühen Abend betreuen zu lassen. Halbe Tage zu arbeiten, wie so viele Frauen in Deutschland, kam für mich aber nicht in Frage – die meisten Redaktionen können noch am späten Nachmittag Texte annehmen, damit sie möglichst aktuell geschrieben sind. Eine Analyse über die Pariser Präsidentschaftswahlen oder die Flüchtlingsdramen am Mittelmeer lassen sich schlecht am späten Vormittag abgeben. So hatten wir keine Wahl – Fred musste entweder bis mindestens 17.30 Uhr betreut werden, oder ich oder Hans hätten zuhause bleiben und unseren Beruf mindestens teilweise an den Nagel hängen müssen. In Deutschland wäre es wohl auf Letzteres hinausgelaufen, denn die wenigsten Kitas haben so lange geöffnet.
Für Französinnen und Franzosen ist das undenkbar. Sie jammern sogar häufig, wenn die Kita schon um 18.30 oder 19 Uhr schließt. Viele haben sogar noch längere Öffnungszeiten. Die beiden Kinder von meiner Freundin Juliette in Paris gehen in eine staatliche „crèche“, die von morgens um 5 bis abends um 22 Uhr geöffnet hat, von Montag bis Samstag. Juliette entwickelt in ihrem Beruf eine Stunde außerhalb von Paris einen philosophischen Stadtpark, sie lädt Schulklassen und Künstlergruppen ein und muss mal morgens und mal abends und auch mal am Wochenende arbeiten. So ist ihre Tochter an einem Tag von 14 bis 22 Uhr und am nächsten wiederum von 8 bis 17 Uhr in der Kita. Es genügt, wenn sie den Erzieherinnen einen Tag vorher die Zeiten für den folgenden mitteilt. „Das ist ja superflexibel, unglaublich“, sagte ich zu Juliette. „Und die Kinder machen das mit?“ „Ich versuche schon, dass sie möglichst regelmäßige Zeiten haben. Aber meine beiden Kleinen freuen sich, wenn ich auch mal morgens mit ihnen ins Schwimmbad gehen kann, für sie hat das Flexible auch gute Seiten.“
Franzosen sind davon überzeugt, dass ihr Kind in der Kita „sozialisiert“ wird, dass sie ein erster Schritt in die Gesellschaft ist, hin zu einem Leben in der Gemeinschaft. Für Frauen, die gerne ausschließlich bei ihrem Kind bleiben wollen, ist es daher sehr schwer. Lise ist Logopädin und hat seit der Geburt ihrer Tochter ihren Arbeitsbeginn immer mal wieder hinausgezögert. Zuerst wollte sie sechs Monate zuhause bleiben, dann ein Jahr, inzwischen sind es zwei Jahre. Lise ist unglaublich aktiv, sie organisiert Treffen von bilingualen Kindern, hat einen Club für Mütter von Frühchen ins Leben gerufen – obwohl ihre Tochter wunschgenau zur Welt kam – und spielt in einem Orchester Geige. Ihre Tochter ist immer mit dabei. Ich glaube, sie sieht schon mit Bangen dem Kindergarten entgegen. In der ersten Zeit hatten Freunde und Familie noch Verständnis und sagten zu ihr, sie solle die Zeit genießen. „Jetzt werfen mir die Leute mehr oder weniger unverhohlen vor, zu sehr um mein Kind zu kreisen und es egoistisch an mich zu binden. Das nervt mich sehr.“
Es wäre schön, wenn Frankreich und Deutschland voneinander lernen könnten – und den Frauen, so wie es auch Badinter fordert, wirklich die freie Wahl lassen würden. In Frankreich haben arbeitende Frauen eindeutig den besseren Stand. Die Betreuung von Kleinkindern ist ein fester gesellschaftlicher Konsens, die Diskussionen drehen sich nur noch um Kleinigkeiten. So setzen sich konservative Parteien eher für die Subventionierung der Tagesmütter ein, weil dies ihrem Ideal entspricht, individuelle Lösungen für Familien zu finden. Die Sozialisten hingegen wollen mehr Kitaplätze, weil diese staatliche Einrichtung Kinder aus allen Schichten erreicht und mischt. Die Pariser Parlamentarier kennen das System schon aus eigener Erfahrung. Inzwischen sind die ersten französischen Kita-Generationen längst erwachsen – und sie können an sich selbst ablesen, dass sie zu emotional stabilen Erwachsenen mit einer guten Beziehung zu ihren Eltern herangewachsen sind. Diese Erfahrung fehlt den Berliner Abgeordneten. Diejenigen, die heute über Kitaplätze entscheiden, wurden selbst noch in den allermeisten Fällen mindestens bis zum Kindergarten ausschließlich von ihrer Mutter betreut. So wollen in Deutschland einige Konservative auch heute noch Frauen dafür belohnen, zuhause zu bleiben.
Meine deutschen Freundinnen haben häufig wahre Odysseen hinter sich, um ihr Kind anzumelden. „Ich war bei vierzig Kitas“, erzählte Christine. Bis auf wenige Ausnahmen läuft das System völlig unorganisiert. Jede Familie kann sich überall eintragen lassen, und die Wartelisten sind auch willkürlich: Keine Kita ist verpflichtet, ihre Liste nach dem Zeitpunkt der Anmeldung abzuarbeiten. Manche entscheiden einfach nach Sympathie, andere behaupten, sie bräuchten mal wieder mehr Mädchen in ihrer Einrichtung, der dritten passen die gewünschten Betreuungszeiten für ein Kind nicht. Sie sind zu lang oder zu kurz, das Kind ist zu alt oder zu jung für die Gruppe, die Eltern wirken zu aufdringlich oder, im Gegenteil, desinteressiert: Wer einen Platz ergattert, hat häufig einfach Glück gehabt. Oder vielleicht bei der Anmeldung eine Jacke in der Lieblingsfarbe der Leiterin getragen, wie es Christine vermutete.
Für die Familien beginnt mit dem Wunsch nach Betreuung eine anstrengende Suche, die an Assessment-Center erinnert. „Ich habe mich jedes Mal freundlich vorgestellt, ich habe sofort erwähnt, dass ich flexibel arbeiten und unsere Wunschzeiten anpassen kann und dass ich mich gerne für Ausflüge oder Feiern bei den Einrichtungen einbringen möchte“, sagte Christine. Als ihre Tochter Pauline geboren war, klapperte sie alle Kitas noch einmal ab. Sie zog sich einen neuen Pullover an und hoffte inständig, Pauline würde nicht so laut und untröstlich brüllen, wie sie es manchmal in den Wochen zuvor getan hatte. Nervös wie vor einem Vorstellungsgespräch klopfte sie an. „Es ist unangenehm, wie eine Bittstellerin aufzutreten – für eine Leistung, die wir auch noch teuer bezahlen. Aber wir haben ja keine Wahl.“
Deutsche Eltern müssen sich regelrecht bei den Kitas bewerben, sie müssen um die wenigen spärlichen Plätze buhlen. „Ich war in der Elternzeit vor allem damit beschäftigt, mein Kind anständig unterzubringen“, sagt Christine. „Auf meine Arbeit als Physiotherapeutin konnte ich mich kaum vorbereiten. Stattdessen klapperte ich mit Pauline im Tragetuch eine Krippe nach der anderen ab. Niemand konnte mir zusagen, und niemand sagte mir ab. Alles stand bis wenige Wochen vor meinem Arbeitsbeginn in den Sternen. Natürlich fragte ich mich immer wieder: Ist es das wert? Soll ich vielleicht doch länger zuhause bleiben?“ Die ewige und unabsehbare Suche zermürbt viele Eltern, sie lässt sie an ihrem Entschluss zweifeln.
Die letzten Wochen vor dem Kitabeginn, dann, wenn sich die Eltern auch wieder auf ihren Beruf einstimmen müssen, sind häufig eine Zitterpartie. „Wir hatten bis Ende August noch keine Zusage für einen Platz, also haben wir einen Vertrag mit einer Tagesmutter abgeschlossen. Die kostete uns selbst mit den Zuschüssen des Jugendamtes 400 Euro im Monat, also doppelt so viel wie der Platz in einer Kita. Anfang September dann hatten wir plötzlich zwei Zusagen – weil sich alle Eltern so wie wir dutzendfach anmelden, herrschte ein unglaubliches Chaos. Uns kam das teuer zu stehen: Wir haben den Kitaplatz angenommen und mussten die Tagesmutter aber noch laut Kündigungsfrist drei Monate lang weiter bezahlen. Wegen der doppelten Buchung fielen auch noch die Subventionen weg – so mussten wir das volle Gehalt der Tagesmutter bezahlen, insgesamt 1300 Euro“, erzählt der Vater einer zweijährigen Tochter.
Ein verrücktes System. Die Kitas verteilen nach Gutdünken ihre Plätze, wissen aber selbst nicht, ob die Anmelder immer noch interessiert sind. So geraten deutsche Eltern monatelang in einen Strudel aus Hoffen und Bangen. Das Betteln geht bis zur Grundschule weiter, wenn dann wiederum die Plätze für die Offenen Ganztagsschulen vergeben werden. Wer einen Platz erhält, muss froh sein und darf keinen Ärger machen. „Wir wagen es nicht, unseren Sohn einmal früher abzuholen. Dann würde es sofort heißen: Sie brauchen den Platz ja gar nicht“, erzählt eine Mutter.
Franzosen gehen davon aus, dass die Kinder selbst einen Platz benötigen – unabhängig von den Eltern. „Wir können zusehen, wie die Kinder hier autonomer werden“, sagt Gaël, die Leiterin unserer Kita. „Sie verbringen ihren Tag wie in einer Großfamilie. Und wie in einer Großfamilie auch können wir uns nicht lange mit einem Kind beschäftigen, wir können es trösten, aber nicht stundenlang herumtragen, wir können ihm beim Essen helfen, aber nicht täglich sein Lieblingsgericht servieren. Natürlich ist das auch hart für die Kinder – sie sind nicht mehr die Prinzen und Prinzessinnen wie zu Hause.“ Gaël hat selbst vier Kinder, und bei jedem ist sie ein Jahr zuhause geblieben, weil sie möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen wollte. Sie ist also keine hartgesottene Vertreterin der frühen Betreuung. Aber sie ist überzeugt, dass es den Kleinen bei ihr gut geht. „Wir öffnen ihnen die Augen für ein gemeinschaftliches Leben.“
Marlène Schiappa, Vorsitzende der sehr präsenten Vereinigung „maman travaille“ („Mama arbeitet“), rühmt bei ihren Auftritten im Fernsehen und im Radio immer wieder die Vorteile einer aktiven Mutter. Schiappas Blog wird in Rankings zu den zehn einflussreichsten französischen Seiten im Internet gezählt – sie hat also viele Fans. „Arbeitende Mütter verdienen für ihr eigenes Leben und für das ihrer Kinder, sie sind ein gutes Vorbild für eine unabhängige und häufig auch erfüllte Frau. Um ein Kind glücklich groß werden zu lassen, braucht es Dutzende Personen – allen voran auch den Vater, die Tanten und Onkel, die Großeltern, die Tagesmütter, die Lehrer, die Freundinnen. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe.“
Gesellschaftlich bedeutet auch, dass die Eltern entlastet werden. Französische Pädagogen erwarten von den Eltern nicht, ständig präsent zu sein. Zwei Wochen vor Weihnachten gab uns die Erzieherin eine Karte – mit seinen Patschehänden hatte Fred Kringel auf sie gemalt, sie kündigte die Weihnachtsfeier in der Kita an. „Was soll ich denn mitbringen?“, fragte ich, „Kekse oder Stollen vielleicht?“ „Na, das lassen Sie mal unsere Sorge sein, unsere Köchin wird schon Kuchen backen.“ Wie immer verlangt meine französische Kita nicht, dass ich backe und knete, bastele und vorbereite, knüpfe und male, koloriere und klebe. Trotzdem hatten wir eine schöne Weihnachtsfeier: Sie begann an einem Freitagabend um 18 Uhr – dann, wenn alle arbeitenden Menschen normalerweise frei haben. Die Köchin hatte vier nougatgefüllte „Bûches de Noël“ zubereitet, wir tranken Orangensaft aus Pappbechern, und ein Angestellter aus dem Rathaus erschien als dicker Nikolaus verkleidet und verteilte Bilderbücher an die Kleinen. Einige Eltern trudelten erst um 19 Uhr ein, gerade noch rechtzeitig, um die etwas überflüssige Laudatio des Bürgermeisters zu hören. Auch das Sommerfest fand an einem Samstagmorgen statt, wenn alle Eltern frei haben und sich die arbeitenden Mütter nicht mit Gewissensbissen quälen, weil sie wieder als Erste das Büro verlassen und doch als Letzte im Kindergarten auftauchen.
Frankreichs Betreuungsvorsprung liegt nicht nur in der Anzahl der Plätze, die doppelt so hoch ist wie in Deutschland: Die Kitas erwarten nur wenig mehr von den Eltern, als dass sie ihre Kinder recht pünktlich morgens abgeben, Windeln auf Vorrat mitbringen und sie abends wieder abholen. Der Staat fühlt sich verantwortlich – und entzieht den Eltern, wenn man es negativ ausdrücken möchte, für eine bestimmte Zeit ihre Mitbestimmung. Dadurch aber haben französische Kleinkinder, Schüler und später Abiturienten eine gleichwertige Chance, sie sind nicht auf die Ambitionen ihrer Eltern angewiesen. Oder, wie es die französischen Philosophen Philippe Ariès und Georges Duby formulieren: „Die Entmachtung der Familie überträgt einer Außeninstanz die Verantwortung für zukunftsbestimmende Beschlüsse. Der Druck, unter den die Schüler durch die schulischen Verfahren (…) gesetzt sind, befreit die Eltern von dem Zwang, selber einen analogen Druck auszuüben, der die familiären Beziehungen nachhaltig beschweren könnte.“
In Deutschland aber, so sagt es Jan, Vater von zwei Kindern, „sind wir ständig damit beschäftigt, unsere Kinder in der Betreuung zu haben.“ Sein fünfzehn Monate alter Sohn geht in eine Kita, die Tochter in den Kindergarten. Beide haben völlig unterschiedliche Öffnungszeiten, je nach Tag muss Sohn Daniel entweder um 14, 15 oder 16 Uhr abgeholt werden. Wer zu spät kommt, dem wird die Tür vor der Nase verschlossen. Direkt neben dem Eingang hängen häufig Schilder mit Aufschriften wie dieser: „Nächsten Donnerstag bereiten wir uns auf das Osterfest vor und werden mit den Eltern basteln. Es wäre schön, wenn Sie einen Kuchen beisteuern könnten.“ Und kaum eine Mutter, die nicht am Mittwoch, wenn das Kind betreut wird und sie eigentlich ihre Steuererklärung machen wollte, in der Küche steht und rosa gezuckerte Muffins, Kellerkuchen aus zehn verschiedenen Schoko- und Keksschichten oder Cookies mit roten Gummibärchen zubereitet. Zum Geburtstag, zu Weihnachten, zum Sommerfest, zum Herbstfest, zu Halloween, zu Ostern, zu Nikolaus, zu Weihnachten und zu Sankt Martin sollen die Eltern basteln, sie sind eingeladen, die Kita zu verschönern, den Mond-Lampion ihres Kindes zu vollenden oder Pappmaché-Figuren für den Karneval zu kleben. Ein Fulltime-Job. „Die Kitas in Deutschland sind nicht für die arbeitende Bevölkerung gemacht, sondern für Hausfrauen“, sagt Jan. Es sei eine wahre „Muffin-Mafia.“
Auch ohne Muffin-backende Mütter müssen französische Kinder auf nichts verzichten. Auch ich freue mich, wenn Fred über den Nikolaus staunt, Ostereier sucht oder mit der Laterne singend durch die Straßen unseres Dorfes zieht. Aber ich habe keine Lust zu basteln, wenn es den Erzieherinnen einfällt, ich habe keine Lust zu backen, und ich finde es auch absurd, dass an einem Donnerstagnachmittag zehn Mütter nach jahrelangem Studium oder Ausbildungen um einen Basteltisch sitzen und Weihnachtssterne ausprickeln, während ihre Kinder in der Bauecke sitzen. Kann sich diese Szene jemand mit zehn Männern vorstellen?
Natürlich ist jedes Engagement in der Kita formal freiwillig. Aber welches Kind wundert sich nicht, wenn viele Eltern anwesend sind, aber seine eigenen nicht? Welches Kind ist nicht betrübt, wenn es einen Lampion unfertig mit nach Hause nehmen muss, weil die Mutter oder der Vater ihn nicht in der Kita eigenhändig zusammengeklebt hat? „Meine Tochter fragt uns schon: Warum warst du nicht da zum Basteln?“, erzählt Jan. Ständig müsse er auf der Hut sein, nichts zu verpassen, weil die Kitas gutgemeinte Optionen anbieten. Wahlfreiheiten, die zum Stress ausarten. Manchmal gibt es Aushänge, auf denen die Eltern ihre Kinder für eine Tanzstunde oder Kung Fu anmelden können – wer dies im morgendlichen Stress verpasst, hat am näch...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Glückliche Eltern haben glückliche Kinder
  4. Der unpassende Zeitpunkt
  5. Der unperfekte Vater
  6. Das gute Gewissen
  7. Die entspannte Geburt
  8. Die sorglose Betreuung
  9. Die geschätzte Großfamilie
  10. Die freie Zeit
  11. Der gerettete Beruf
  12. Das verständige Kind
  13. Das geteilte Essen
  14. Die feiernden Kinder
  15. Der gepflegte Körper
  16. Literatur
  17. Anmerkungen
  18. [Informationen zur Autorin]