Montessori von Anfang an
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Montessori von Anfang an

Ein Praxishandbuch für die ersten drei Jahre des Kindes

  1. 240 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Montessori von Anfang an

Ein Praxishandbuch für die ersten drei Jahre des Kindes

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Das Buch gibt einen wichtigen, praxisnahen Beitrag zur Erziehung junger Kinder nach Maria Montessoris Konzept für 0-3 Jahre. Auf der Basis langjähriger Erfahrungen erläutern die Autorinnen auf äußerst kenntnisreiche und feinfühlige Weise die Entwicklung der ersten drei Jahre, und erklären, was Eltern und pädagogische Fachkräfte tun können, damit ihr Kind Selbstvertrauen, Unabhängigkeit und positive Beziehungen zu seiner Umwelt aufbauen kann.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783451345593

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Bevor wir mit den praktischen Kapiteln beginnen, die den Kern dieses Buches ausmachen, ist es wichtig, zwei weitere Gedankengänge über die Bildung des menschlichen Wesens zu betrachten. Wenn wir das Menschenkind bei der monumentalen Aufgabe seines Selbstaufbaus unterstützen wollen, müssen wir verstehen, woher im Menschen die Energie zu diesem Selbstaufbau und die positive Einstellung dem Leben gegenüber kommen. Wie können wir die Begeisterung und die Interaktion mit der Umgebung fördern? Und wodurch werden sie gehemmt? Wenn wir zweitens anerkennen, dass das Kind zum Zeitpunkt seiner Geburt noch unfertig ist, müssen wir darlegen, welche spezifische Aufbauarbeit notwendig ist, damit es sich zu einem vollkommenen Individuum entwickeln kann. Beide Aspekte treten bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen dem Menschen und allen anderen Lebewesen ans Licht.
Wir haben festgestellt, dass das Kind bei seiner Geburt noch unfertig ist. Unsere Rolle als Erwachsene besteht daher darin, unsere Kinder bei der enormen Aufgabe ihres Selbstaufbaus zu unterstützen. Nur auf diese Weise können sie zu voll entwickelten Erwachsenen heranwachsen und das Potenzial ausschöpfen, mit dem sie von Geburt an ausgestattet sind. Das Ausmaß dieser Herausforderung sowohl für den Erwachsenen als auch für das Kind unterscheidet uns Menschen von allen übrigen Lebewesen. Zwar stimmt es, dass einige Tierjunge besonders unter den Säugetieren ebenfalls in unreifem Zustand auf die Welt kommen. Jedoch ist ihre Reifungsaufgabe weitgehend durch ihre Gene vorprogrammiert und ihre Instinkte folgen einem eng gesteckten Entwicklungspfad. Erhalten sie die Pflege, die vom Schöpfungsplan für ihre Art vorgesehen ist, benötigen sie lediglich Zeit, um größer zu werden und zu erwachsenen Tieren heranzureifen. Allerdings bezahlen sie einen Preis für die durch die Gene vorbestimmte Art ihrer Existenz. Ihre Flexibilität im Hinblick auf ihre Anpassungsfähigkeit an die Umwelt ist begrenzt. Beispielsweise sind Fohlen und Kälber (nach der Muttermilch; A. d. Ü.) dazu bestimmt, Gras und Getreide zu fressen; Tiger- und Löwenjunge dagegen ernähren sich von kleinen Säugetieren. Ebenso ist die Art und Weise vorprogrammiert, in der sie auf andere existenzielle Herausforderungen reagieren: Ihr Fell hält sie warm, Hörner und scharfe Zähne dienen ihnen zur Verteidigung, schnelle Beine lassen sie aus Gefahren entkommen etc.
Das menschliche Kind auf der anderen Seite wird nicht mit instinktgesteuerten Verhaltensmustern geboren, die die Grundbedürfnisse seines Überlebens sichern; seine Verhaltensoptionen sind unbegrenzt. Keine von der Natur vorgegebenen Muster begrenzen unsere Möglichkeiten, Ideen zur Sicherung unserer Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schutz, Kleidung, Fortbewegung und Verteidigung zu entwickeln. Statt spezifischer Weisungen über die Instinkte sind uns innere Neigungen (engl. »human tendencies«)7 zu bestimmten Verhaltensweisen gegeben. Obwohl wir nackt und wehrlos geboren werden, ohne Schutz vor der Witterung und ohne jegliches instinktive Wissen darüber, welche Nahrung für uns gefahrlos ist, haben wir dank dieser inneren Neigungen gut überlebt; unsere Verhaltensanlagen sind verantwortlich für die Entwicklung unterschiedlichster Kulturen im Laufe der Jahrtausende, angefangen vom Leben der prähistorischen Menschen bis hin zum modernen Telekommunikationszeitalter. Montessori bot uns eine Beschreibung dieser inneren Neigungen als Hilfe an, um uns verständlich zu machen, auf welche Weise Kinder auf die Umgebung reagieren, in die sie hineingeboren wurden. Ihre Absicht war nicht, die Liste möglicher Verhaltensweisen zu begrenzen oder festzuschreiben. Denn jeder von uns könnte zweifellos eine ganz andere Liste aufstellen. Trotzdem können die folgenden Gedanken als eine Art allgemeine Richtschnur dienen. Zum besseren Verständnis und leichteren Einprägen haben wir sie in vier Gruppen unterteilt.
Die erste Gruppe bezieht sich auf die Beantwortung der Frage: Was gibt es da draußen? Sie umfasst die Aspekte Exploration (Entdeckung / Erforschung), Orientierung und Ordnung. Menschliche Wesen machen sich auf, die sie umgebende Umwelt zu erforschen und die ihr innewohnenden Möglichkeiten zu entdecken. Wenn wir das tun, müssen wir allerdings auch in der Lage sein, den Weg zu unserem Ausgangspunkt zurück zu finden. Dafür sind Orientierung und Ordnung notwendig. Wir müssen uns eine mentale Landkarte unserer Umgebung konstruieren und einen inneren Sinn für Richtung, Entfernung, Zeit und Abfolge entwickeln. Unsere Ausdrucksmöglichkeit durch Sprache und die Organisation unseres Denkens basieren auf dieser Fähigkeit, Ordnungsprinzipien zu erkennen und in unserem Leben zu verwenden. Wenn die inneren Neigungen nach Orientierung und Ordnung gestört werden – etwa durch Veränderung der geografischen oder emotionalen Umgebung –, erleben wir Orientierungslosigkeit und Stress. Wenn wir umgekehrt daran gehindert werden, unsere Umwelt physisch oder intellektuell zu erforschen, tendieren wir dazu, uns gelangweilt oder sogar deprimiert zu fühlen.
Eine zweite Gruppe innerer Antriebe hilft uns, mit den Resultaten unserer Erkundungen oder Erforschungen umzugehen: Was könnte ich tun mit dem, was es da gibt? Unsere Neigung zu abstraktem Denken und unsere Vorstellungskraft erlauben uns, aus dem, was wir um uns sehen und finden, Neues zu erschaffen. All das, was wir in unserem modernen Leben an Bequemlichkeiten und Erleichterungen kennen, wie auch jede Vorstellung von Seelengröße, Mut und Liebe, entstand aus unserer angeborenen Neigung, uns etwas vorzustellen, das uns nicht konkret zugänglich ist. So beobachteten die frühen Menschen, wie die Tiere ihre Hufe zum Graben gebrauchten und sich mit ihren Hörnern verteidigten und entwickelten aus dieser Erkenntnis Geräte und Verteidigungswerkzeuge für den eigenen Gebrauch. Über Jahrtausende wurden Beispiele für menschlichen Mut und Opferbereitschaft in Erzählungen an junge Menschen weitergegeben und immer neue Generationen träumten von heroischen Taten und von Leistungen, durch die sie selbst etwas für die menschliche Gesellschaft beitragen würden.
Die dritte Gruppe ist die größte und umfasst den entscheidenden Übergang vom Traum zur Wirklichkeit: Wie kann ich meine abstrakten Ideen Wirklichkeit werden lassen? Um diesen Sprung zu schaffen, sind den Menschen fünf Schlüssel-Verhaltensmuster gegeben: Manipulation (Handhabung), Genauigkeit, Wiederholung, Fehlerkontrolle und Selbstvervollkommnung. Jede einzelne dieser menschlichen Neigungen war dafür nötig, um ein Kleidungsstück passend zu machen, eine Schutz bietende Behausung zu konstruieren, ein Schiff zum Segeln zu bringen oder eine Raumfähre zum Fliegen zu bringen. In der Welt der Ideologien wurden aufgrund dieser Verhaltensweisen Kommunismus und Faschismus erprobt, aber als untauglich erachtet, genauso wie heute Demokratien mit dem Traum nach Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen in vielen Teilen der Welt angestrebt und immer wieder neu geprüft werden.
Die letzte Gruppe besteht aus einer einzigen Neigung. Sie kann jedoch mit vollem Recht als Schlüssel zu allen anderen bezeichnet werden, denn sie betrifft eine seelisch-geistige Gabe: Die Gabe, uns selbst ohne Einschränkung anderen mitzuteilen. Diese Verhaltensweise beantwortet die Frage: Wie kann ich anderen über das berichten, was ich getan habe? Wir nennen das Kommunikation. Ohne sie wäre jede neue Generation gezwungen, alles Wissen und alle Weisheit der Vergangenheit neu zu entdecken. Mit der Fähigkeit zur Kommunikation stehen wir quasi auf den Schultern von Riesen und können in jedem Jahrzehnt in allen Bereichen menschlicher Bestrebungen zu neuen Höhen fortschreiten.
Das neue Zeitalter der globalen Telekommunikation macht uns die Gedanken und Leistungen aller Menschen aus Gegenwart wie Vergangenheit in einem Ausmaß zugänglich, das sich früher niemand hätte vorstellen können. Die Möglichkeiten sind enorm. Aber auch die Herausforderungen werden exponentiell größer. Wie können wir das uns ständig umgebende Geplapper und den Lärm in unserer technologischen Welt zum Schweigen bringen und Zeit und Gelegenheit finden für jene Kommunikation, die am allerwichtigsten ist? Die Intimität der Liebe, das Verständnis und der Respekt eines Menschen für einen anderen, zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Natur, an Orten der Andacht und in unseren Ehen.
Alle diese Verhaltenstendenzen (»human tendencies«, nämlich: Exploration, Orientierung, Ordnung, Abstraktion, Imagination, Manipulation, Genauigkeit, Wiederholung, Fehlerkontrolle, Vervollkommnung und Kommunikation) sind während unseres gesamten Lebens wirksam. Allerdings äußern sie sich anders, wenn wir älter werden. Die Neigung zum Erforschen drückt sich sehr verschieden aus, je nachdem, ob es sich um ein Baby von sieben Monaten, ein Kind von sieben Jahren, einen Jugendlichen im Alter von siebzehn oder einen älteren Menschen von siebenunddreißig oder siebzig Jahren handelt. Das Phänomen des Erforschens bleibt jedoch ein konstantes Muster menschlichen Verhaltens von der Geburt bis zum Tod. Da diese inneren Verhaltensimpulse unser ganzes Leben lang wirksam sind, und zwar in einem Ausmaß, dass sie für menschliche Erfahrungen als universell gültig bezeichnet werden können, ist jeder von uns in der Lage, sie in sich selbst zu erkennen. Wir müssen dazu lediglich unser tägliches Verhalten betrachten.
Kinder nutzen die Phasen ihrer Entwicklung – darauf wurde in der Einleitung hingewiesen – zur Unterstützung ihres Selbstaufbaus. Besonders auf der ersten Stufe der Entwicklung machen sie Gebrauch von ihrem absorbierenden Geist, um ihre unmittelbare Umgebung aufzunehmen und von den sensiblen Phasen, um spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten wie das Laufen und Sprechen zu erwerben. Auf späteren Entwicklungsstufen reagieren sie auf der Basis bestimmter psychologischer Charakteristika, die ihnen helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln.
Es sind diese Verhaltenstendenzen, die von Geburt an bis hin zu späteren Phasen des Persönlichkeitsaufbaus wirksam sind und einen kontinuierlichen Bezug zur Umgebung bilden, die das Kind befähigen, ein voll funktionsfähiger Erwachsener zu werden. Sie liefern unser ganzes Leben lang die Energie und den Enthusiasmus für grundlegende und dauerhafte Beziehungen zu unserer Umwelt. Wenn sie bei unseren alltäglichen Aktivitäten voll in Funktion treten, ganz gleich in welchem Alter wir uns befinden, erleben wir Freude und das Gefühl, voller Leben zu sein. In dem Maß, in dem sie fehlen, fühlen wir uns lustlos und unengagiert.
Unsere Lebensenergie ist direkt an die Art und Weise gekoppelt, mit der unsere Umgebung die »menschlichen Neigungen« in unserem Alltagsleben zulässt und ermutigt. Daraus folgt, dass Kinder mehr brauchen als Gelegenheiten, auf die Umwelt zu reagieren; sie benötigen Ermutigung. In den folgenden Kapiteln werden wir Vorschläge diskutieren, wie die häusliche Umgebung so für das Kind gestaltet werden kann, dass die »menschlichen Neigungen« des Kindes aktiv unterstützt werden. Sie werden bemerken, dass unsere Vorschläge den gerade gängigen Trends und Medienauffassungen oft widersprechen. Beispielsweise reden Psychologen heute über die Notwendigkeit der »Stimulation« in der kindlichen Umwelt. Das Problem damit ist, dass dieser Begriff vage ist. In bester Absicht reagieren Eltern darauf im Übermaß und die Kinder leiden eher Schaden als dass ihnen geholfen wird. Wie Sie in späteren Kapiteln sehen werden, ist ein einfacher, aber gut durchdachter Plan, der die spezifische Aufbauarbeit eines Kindes in einem bestimmten Lebensalter unterstützt, die hilfreichste Herangehensweise.
Auch sollten wir nicht vergessen, dass die Aufgabe menschlicher Entwicklung ebenfalls das Schaffen eines Zuhauses für Erwachsene umfasst. Um unsere Menschlichkeit zu entwickeln, müssen wir die natürlichen Impulse des Menschen in uns allen nähren. Unser Zuhause sollte also auch das Bedürfnis der Erwachsenen nach Erforschung, Orientierung, Ordnung, Vorstellungskraft, Exaktheit, Wiederholung, Fehlerkontrolle, Manipulation (Aktivität mit der Hand), Vervollkommnung und Kommunikation widerspiegeln. All diese Verhaltensimpulse des Menschen sind deutlich erkennbar zum Beispiel in der Musik, der Kunst oder in anderen Formen spirituellen Ausdrucks, die darauf hindeuten, dass sie auch in unserem Zuhause ihren rechtmäßigen Platz haben. Die Aufgabe, unsere häusliche Umgebung bewusst zu gestalten, oblag in vergangenen Zeiten in erster Linie den Frauen. Aber egal, wer heutzutage diese Verantwortung übernimmt, die Gestaltung eines Zuhauses ist von entscheidender Bedeutung für unser menschliches Dasein. Und obwohl manche Menschen heutzutage den größten Überfluss genießen, den die Welt je gekannt hat, stellen wir fest, dass die Gestaltung einer häuslichen Umgebung, die von Schönheit, Ordnung und Einfachheit geprägt ist und so dem menschlichen Geist dient, eine außerordentlich herausfordernde Aufgabe bleibt.
Wir wenden uns nun wieder dem Kind zu, das wir zum Zeitpunkt seiner Geburt als »unvollkommen« bezeichnet haben. In mancher Hinsicht teilen einige Säugetiere diesen Mangel, wenn sie geboren werden. Auch sie bedürfen in unterschiedlichem Ausmaß eine Zeit lang der Fürsorge ihrer Eltern, bevor sie voll ausgebildete erwachsene Tiere werden. Keine andere Art jedoch benötigt die Unterstützung von erwachsenen Mitgliedern der Gruppe für nahezu ein Vierteljahrhundert. Das ist die Zeitspanne, die Montessori für den Menschen als notwendig erachtete, um die Persönlichkeitsbildung bis zum erwachsenen Individuum abzuschließen. Ihre Schlussfolgerung wird durch wissenschaftliche Untersuchungen neuerer Zeit bestätigt, die belegen, dass die grundlegenden neuronalen Strukturen in den Frontallappen des menschlichen Gehirns erst im Alter von ca. vierundzwanzig Jahren voll entwickelt sind. Denn in den Frontallappen sind bei uns die am weitesten entwickelten Fähigkeiten zum Denken und Erkennen, bis hin zur Weisheit, angesiedelt.
Was muss das menschliche Kind vollbringen, um zu einem voll ausgebildeten Menschen heranzuwachsen? Die Entwicklung des Gehirns mithilfe von Sinneswahrnehmungen und die Interaktion mit der unmittelbaren Umgebung bilden den Beginn der Reife des Kindes. Diese Entwicklung ist bei jedem Kind individuell; kein Gehirn gleicht dem anderen. In diesem Sinn sind wir alle »Originale«. Tatsächlich bildet jeder Mensch ein so individuelles Gehirn aus, dass es erstaunt, dass wir überhaupt in der Lage sind, einander zu verstehen und miteinander zu kommunizieren. Trotzdem können wir das – entgegen aller statistischer Wahrscheinlichkeit.8
Die nach außen feststellbare Manifestation der Gehirnentwicklung ist die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes als Individuum mit wachsender Unabhängigkeit, koordinierten Bewegungen, Sprache und einem ausgebildeten Willen. In all diesen Bereichen muss das Kind von seinen ersten Lebenstagen an Fortschritte machen, um zu einem voll entwickelten Menschen zu werden.
Für ein Tierjunges ist die möglichst frühe Unabhängigkeit Grundlage für das physische Überleben. Für das menschliche Kind bedeutet Unabhängigkeit die Fähigkeit, selbstständig Dinge zu tun, und ist damit eine äußerst wichtige psychologische Komponente; sie ist der Weg zu Zuversicht und Selbstvertrauen. Das Kind wird als jemand geboren, der ständig umsorgt werden muss. Nach und nach erhält es Hilfen, um grundlegende Aktivitäten selbst und unabhängig zu verrichten, bis es schließlich in der Lage ist, auch für andere etwas zu tun. Damit das Kind Vertrauen in diesen Prozess des Unabhängigwerdens setzen kann, muss der Erwachsene genau das richtige Ausmaß an Herausforderung für das Kind bereitstellen. Auch Erwachsene verlieren die Zuversicht, wenn sie sich Situationen gegenübergestellt sehen, die zu bewältigen sie keine Chance sehen. Und doch versetzen wir Kinder regelmäßig in diese Situation, wenn wir nicht über einfache tägliche Routinen nachdenken und uns nicht überlegen, wie ein Kind in einem bestimmten Alter diese selbstständig bewältigen kann.
Alles, was wir in den nachfolgenden Kapiteln beschreiben werden, ist geeignet, dem Kind zu zunehmender Unabhängigkeit bei seinen Aktivitäten zu verhelfen und es dadurch zu befähigen, seinerseits andere zu unterstützen, die weniger können, weil sie entweder jünger oder aus anderen Gründen in ihrer Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten sind. Montessori entwarf spezifische Lernumgebungen, die das Kind – in der Schule wie im häuslichen Milieu – zu unabhängigem Handeln befähigen und so auch seine intellektuelle Unabhängigkeit wachsen lassen. Die souveräne Selbstbeherrschung, die Kinder aus guten Montessori-Schulen auszeichnet, ist die Eigenschaft, die von anderen Pädagogen am häufigsten bemerkt wird.
Die Bedeutung der Unabhängigkeit liegt in dem Selbstbild, das sie dem Kind eröffnet. In der Montessori-Erziehung resultiert Selbsteinschätzung aus realen Leistungen durch eigenverantwortliches Handeln. Erwachsene können Kindern kein Vertrauen und kein Selbstwertgefühl durch Lob und Beurteilung von außen geben; diese müssen das Ergebnis eigener Anstrengungen des Kindes sein. Ein Kind untersucht einen Gegenstand, vielleicht eine Mohrrübe, zuerst mit den Sinnen des Sehens, Tastens und Riechens. Wenn seine Lernumgebung sorgfältig vorbereitet ist, kann es die Mohrrübe im Alter von etwa fünfzehn Monaten mit einer kleinen Gemüsebürste säubern. Im Alter von achtzehn Monaten ist es in der Lage, einen Gemüseschäler zu verwenden, damit einen Streifen nach dem anderen abzuschälen und diese dann in einen Behälter zu entsorgen. Anschließend kann es ein kleines Messer mit nicht allzu scharfer Klinge verwenden und die geschälte Möhre in Stücke schneiden, um sie zu essen oder für die Familienmahlzeit vorzubereiten. Im Alter von fünf Jahren kann ein Kind sein eigenes Lunch-Paket für die Schule mit ausgewählten Zutaten und einem Minimum an Unterstützung durch einen Erwachsenen zubereiten. Solch eigenständige Leistungen führen beim Kind zu der Einstellung, selbstständig etwas meistern zu können und so letztendlich zu Selbstvertrauen. (Sicherheitshinweis: Erwachsene müssen bei solchen Tätigkeiten stets in der Nähe des Kindes sein und das Geschehen überwachen).
Ziel einer solchen Unabhängigkeit des Kindes ist nicht, den Erwachsenen das Leben zu erleichtern. Tatsächlich erfordert die Unterstützung der kindlichen Unabhängigkeit zumindest zu Anfang große Anstrengungen und viel Überlegung seitens der Erwachsenen. Montessori ermutigt uns, diese Mühen auf uns zu nehmen, damit die Kinder das Selbstvertrauen erfahren können, das daraus erwächst, nicht darauf warten zu müssen, dass jemand anderes die notwendigen Dinge tut. Nicht um der Erwachsenen willen helfen wir den Kindern, beim täglichen Handeln unabhängig zu werden; wir tun es für die Kinder selbst.
Die langsame Entwicklung koordinierter Bewegungen bei jungen Kindern ist einer der deutlichsten Hinweise darauf, dass sie sich zum Zeitpunkt der Geburt noch in einem embryonalen Zustand befinden. Die lange Zeitdauer, während der ihnen eine vom Willen gesteuerte Bewegungskoordination fehlt, ist im Tierreich nicht bekannt. Das junge Fohlen steht bereits unmittelbar nach der Geburt auf und läuft – wenn auch noch auf etwas wackligen Beinen – innerhalb weniger Stunden bereits neben seiner Mutter her. Zweifellos hat die Sicherheit bei dieser frühen Mobilität oberste Priorität. Die frühesten Bewegungen des Fohlens sind durch Instinkte gesteuert, nicht durch den Willen. Das menschliche Kind dagegen muss zielgerichtete Bewegungen entwickeln, die vom Verstand gesteuert werden. Eine solche Bewegungsentwicklung ist abhängig vom mentalen Aufbau, der erst im Lauf der Zeit und durch direkte Interaktion mit der Umgebung entsteht.
Es ist die einzigartige Aufgabe der Menschen als »Agenten« des Wandels im Universum, die von uns verlangt, zu denken, bevor wir handeln. Wenn wir Kinder bei einer gesunden Entwicklung ihrer Bewegungskoordination unterstützen wollen, müssen wir das Ziel der Verantwortlichkeit zuoberst in unserem Denken verankern. Das bedeutet, dass wir für das Kind eine Lernumgebung vorbereiten müssen, die zu Aktion mit einem Zweck und mit der Möglichkeit daraus entstehender Konsequenzen anleitet. In späteren Kapiteln werden wir die Gestaltung einer solchen Lernumgebung eingehend beschreiben. An dieser Stelle reicht es festzustellen, dass die gegenwärtige Praxis, Babys und Kleinkinder in Gitterbettchen, Laufställchen, sog. Babyschaukeln oder Lauflernhilfen etc. einzusperren, sie an frühen Erfahrungen der Bewegung und Erkundung ihrer Umgebung hindert. Außerdem empfehlen Kinderärzte heutzutage, dass Babys aus Sicherheitsgründen zum Schlafen auf den Rücken gelegt werden sollten. Wenn Babys von ihren Eltern während der Wachzeiten nicht ganz bewusst auf den Bauch gelegt werden, verbringen sie nicht genügend Zeit in dieser Lage, um die nötige Muskelkraft in den Armen aufzubauen, die es ihnen erlaubt, sich zu der von der Natur vorgesehenen Zeit auf die Knie zu erheben, zu krabbeln und schließlich zu laufen. Diese Verzögerung im Erwerb koordinierter Bewegung hat möglicherweise für die weitere Entwicklung des Kindes Folgen, die in ihrem vollen Umfang noch nicht ab...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Geleitwort
  4. Vorwort der Autorinnen
  5. Einführung
  6. 1 Der Selbstaufbau des Menschen
  7. 2 Das Neugeborene willkommen heißen
  8. 3 Die Welt erobern
  9. 4 Die Hand und das Gehirn
  10. 5 Zur Koordination krabbeln
  11. 6 Praktisches Leben
  12. 7 Sorge für die eigene Person
  13. 8 Sprache und Intelligenz
  14. 9 Die Entwicklung des Willens
  15. 10 Zusammenfassung
  16. Literaturverzeichnis
  17. Sachregister
  18. Personenverzeichnis
  19. Anmerkungen