Teil B
Der Orientierungsplan als Bildungskompass
1 Das Wesen des Orientierungsplans
Der baden-württembergische Orientierungsplan betont die Kinderperspektive und geht deshalb von den Motivationen der Kinder aus. „Was will das Kind?“, „Was braucht das Kind?“ und „Was kann das Kind?“ sind dabei die leitenden Fragen. Die Titel der Bildungs- und Entwicklungsfelder sind bewusst nicht an den Bezeichnungen von Fachsystematiken oder Schulfächern ausgerichtet, sondern entlang der Entwicklungsfelder des Kindes. Sinne, Körper, Sprache, Denken, Gefühl und Mitgefühl sowie Sinn, Werte und Religion heißen deshalb die sechs Bildungs- und Entwicklungsfelder, die für die Persönlichkeitsentwicklung, das Hineinwachsen in die Kultur und die Sozialisation eines Kindes von Geburt an leitend sind.
Das Hineinwachsen in die Kultur und deren Mitgestaltung betrifft Lebensformen und verschiedene Gruppen von Menschen. Entsprechend kulturell geprägte Handlungen sind beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten, Begrüßungsformen, die Art Geschichten zu erzählen, bildnerisch zu gestalten und Lieder zu singen. Das Hineinwachsen in kulturelle Lebensformen ist als Prozess zu verstehen, der pädagogisch zu begleiten ist. Er spiegelt sich in den Bildungs- und Entwicklungsfeldern wider. Diese sind, so wie das Leben selber in diesen Bereichen, eng miteinander verzahnt.
Wie ein roter Faden zieht sich beispielsweise die Sprachbildung durch alle Bildungs- und Entwicklungsfelder hindurch. Bildungsprozesse von Kindern sind nicht einem Feld allein zuzuordnen. Ein Kind, das laufen lernt, macht nicht nur Fortschritte in seiner Bewegungsentwicklung. Es nimmt einen anderen, viel größeren Raum wahr, erweitert seinen Handlungskreis und erfährt die Welt und sich selbst jetzt anders. Dieses veränderte Verhältnis zur Welt bedeutet nicht nur mehr Selbstständigkeit, sondern auch einen Sprung in der gesamten Entwicklung. Neue Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten entstehen. Die Gewichtung der Bildungs- und Entwicklungsfelder verändert sich mit zunehmendem Alter der Kinder entwicklungsbedingt und individuell.
Im Sinne einer kontinuierlichen Bildungsbiografie werden die Bildungs- und Entwicklungsfelder entwicklungsangemessen und an den individuellen Potenzialen der Kinder orientiert in der Schule in den einzelnen Fächern und Fächerverbünden fortgesetzt. Auch beim systematisierten schulischen Lernen spielen die zentralen Fragen „Was will das Kind?“, „Was braucht das Kind?“ und „Was kann das Kind?“ eine entscheidende Rolle und sind Ausgangspunkt für Lernstandserhebungen, mit deren Hilfe Lehrkräfte individualisierendes und differenzierendes Lernen in die Wege leiten.
In den Bezeichnungen der einzelnen Bildungs- und Entwicklungsfelder kommt zum Ausdruck, dass es sich nicht um die Vorverlegung des Unterrichts aus der Schule handelt, sondern um eine alters- und entwicklungsadäquate Zugehensweise für Kinder im Kindergartenalter und jüngere Kinder. Hierfür dient der Orientierungsplan als Bildungskompass für die pädagogischen Fachkräfte.
1.1 Festlegungen und Freiräume
Der baden-württembergische Orientierungsplan greift die Grundsätze der Förderung nach §§ 22, 22a SGB VIII auf und berücksichtigt die innovativen Entwicklungen der baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen.
„Eine Förderung der Kinder in Tageseinrichtungen unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des nach § 9 Abs. 2 erstellten Orientierungsplans für Bildung und Erziehung dient dem Förderauftrag nach § 22 SGB VIII“ (Kindertagesbetreuungsgesetz vom 19. Oktober 2010 – KiTaG – § 2a Abs. 3).
Nach § 9 Abs. 2 (KiTaG) entwickelt das Kultusministerium „im Benehmen mit dem jeweils berührten Ministerium mit Beteiligung der Trägerverbände und den kommunalen Landesverbänden Zielsetzungen für die Elementarerziehung, die in dem Orientierungsplan für Bildung und Erziehung festgelegt werden. Dabei spielt die ganzheitliche Sprachförderung eine zentrale Rolle. Satz 1 gilt entsprechend für Änderungen des Orientierungsplans für Bildung und Erziehung.“
Die Zielformulierungen aller Bildungs- und Entwicklungsfelder sowie die übergreifenden Ziele haben für die Einrichtungen und die Träger verbindlichen Charakter. Entsprechend den Prinzipien von Pluralität, Trägerautonomie und Konzeptionsvielfalt steht es in der Verantwortung der Träger und Einrichtungen, wie diese Ziele im pädagogischen Alltag erreicht werden.
Die individuelle Bildungs- und Entwicklungsbeobachtung jedes Kindes ist ein geeignetes Instrument, um die Grundlage für die Umsetzung der Zielsetzungen des Orientierungsplans und des Förderauftrags nach § 22 Abs. 3 SGB VIII zu erreichen. Es liegt deshalb auch in der Verantwortung der Träger und Einrichtungen, geeignete Beobachtungsverfahren einzusetzen, die Beobachtungen in angemessener Weise zu dokumentieren und auf der Basis der Bildungs- und Entwicklungsdokumentation regelmäßige Elterngespräche zu führen und sich über allgemeine Fragen zu dieser Thematik bei Elternveranstaltungen auszutauschen.
Sollte der Kindergarten mit Zustimmung der Eltern eine schriftliche Entwicklungsdokumentation praktizieren wollen, sind die datenschutzrechtlichen Belange zu beachten (siehe Datenschutz, Seite 72).
„Das Auge schläft, bis der Geist es mit einer Frage weckt.“
Afrikanisches Sprichwort und Grundsatz der Reggio-Pädagogik
Die mit den Zielformulierungen der Bildungs- und Entwicklungsfelder anschließend verbundenen konkretisierenden Fragen sind als Denkanstöße für die einzelne Erzieherin, für die Leiterin und für das Team zu verstehen. Sie sind nicht als abzuarbeitender oder vollständiger Katalog aufzufassen, sondern sie sollen Impulse für die Umsetzung der Ziele geben. Wichtig dabei ist, dass diese Denkanstöße im Team diskutiert werden und auch zur „Standortbestimmung“ des Kindergartens dienen.
Insofern eröffnen die Zielsetzungen Gestaltungsspielräume in der Umsetzung der Bildungs- und Entwicklungsfelder sowie in der Konzept- und Profilbildung unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der unterschiedlichen Lebenslagen im Wohnumfeld. Die Wege, die zur Zielerreichung beschritten werden, können je nach Vorortsituation unterschiedlich aussehen. Sie dienen allerdings immer der individuellen und differenzierten Begleitung und Förderung von Bildungsprozessen der Kinder.
Da die Ziele nur in einer Erziehungspartnerschaft zwischen pädagogischen Fachkräften der Kindertageseinrichtung und Eltern zu erreichen sind, liegt es in der Verantwortung der Träger und Einrichtungen, die Eltern regelmäßig an der Umsetzung des Orientierungsplans zu beteiligen.
Gleiches gilt für eine Dokumentation der individuellen Bildungs- und Entwicklungsprozesse jedes einzelnen Kindes. Dabei können unterschiedliche Verfahren zum Einsatz kommen. Die entsprechenden Datenschutzbestimmungen sind zu beachten (siehe hierzu die Ausführungen zum Datenschutz, Seite 72). In jedem Fall ist eine Dokumentation den Eltern auf Verlangen zu übergeben, spätestens gegen Ende...