Teil II
Fitness als Maß
Goldene Mitte
Nachdem ich mich durch die Arbeit an diesem Buch wieder mit meiner Vergangenheit als Profisportler auseinanderzusetzen begann, stöberte ich erstmals in meinem Leben durch die dicken Ordner, in denen meine Eltern Hunderte von Zeitungsartikeln über mich gesammelt hatten. An die ersten Fotos von mir als Kind und Jugendlicher konnte ich mich noch gut erinnern. Ab EM- und Olympiasieg aber schien es, als hätte ich das allermeiste noch nie gesehen. Das galt gerade auch für die großen Geschichten, die über mich geschrieben worden waren. Wahrscheinlich hatte ich sie damals aus Selbstschutz gar nicht erst angeschaut oder sofort wieder verdrängt. Denn die ausführlichsten Artikel waren oft auch die kritischsten. Und wenn man mich pries, dann waren die begleitenden Fotos, zu denen ich mich hatte hinreißen lassen, um so peinlicher: in der Thüringer Allgemeinen mit bloßem Oberkörper vor dem imposanten, Kaiser Wilhelm gewidmeten Kyffhäuserdenkmal, in der Super Illu in Shorts und Frottee-Sweater neben einem quietschgelben, von mir signierten Jeep oder im Stern völlig nackt als der verwundete, im Fackelschein von zehn Musen beweinte griechische Krieger Achilleus.
Aber was mich jetzt im Nachhinein am heftigsten traf, war, wie ich noch 2006, 2007, ja 2008 in Interviews ungeniert über meine Rückkehr in die Weltspitze räsonierte. Jahre, in denen ich froh sein konnte, wenn ich die 800 Meter in 1 Minute 47 lief – 3 Sekunden langsamer als meine Bestzeit. Sicher, ich konnte mir damals gar nichts anderes leisten als gute Miene zur mauen Leistung zu machen. Nur bin ich kein besonders guter Lügner, und deshalb musste ich mir ein ganzes Stück weit auch geglaubt haben. Wie konnte das sein?
Handicap als Ansporn
In einem der vielen Interviews, zwischen großspurigen Sprüchen wie »Ich will der Boris Becker des Laufens werden«, »Man wird nicht durch Zufall Erster« und später dann »Ich bin wieder heiß« oder »Ich brenne wieder«, stolperte ich über einen Absatz, in dem ich meinen eher geringen Kniehub und meine im Vergleich zu anderen Top-800-Meter-Läufern eher kurze Schrittlänge damit erklärte, dass ich als Kind einen Scheuermann gehabt hatte – eine sich während des pubertären Wachstumsschubs herausbildende Fehlentwicklung der Brustwirbelsäule: »Die Knorpel zwischen den Wirbeln sind etwas versteift, deswegen ist mein Laufstil etwas mehr nach hinten geneigt, sehr aufrecht.«
Die Erklärung war äußerst plausibel. Seltsam war nur, dass es mir jetzt so schien, als hörte ich sie zum ersten Mal. Hatte ich das Urs Weber von der Zeitschrift Runner’s World damals wirklich so dezidiert gesagt? Aber er konnte es sich auch nicht einfach zusammengereimt haben. Ich musste ihm schon vor mir aus von dem Scheuermann erzählt haben, der bei mir mit 17, 18 im Rahmen sportmedizinischer Untersuchungen diagnostiziert worden war.
Bei einer starken Form des Scheuermanns kann sich ein Buckel bilden, in meinem Falle aber war er durch ein ausgeprägtes, auch durch meine Größe bedingtes Hohlkreuz kompensiert worden. Deshalb hatte ich nie bewusst Beeinträchtigungen erfahren. Vielleicht aber auch, weil ich generell kein so starkes Schmerzempfinden habe. Ich habe mir als Kind auch mal das Wadenbein gebrochen und es überhaupt nicht gemerkt. Nur, dass mir die Wade nach einem Zweikampf beim Fußball ein paar Wochen lang ein bisschen wehtat. Erst sehr viel später wurde beim Röntgen zufällig festgestellt, dass der Knochen nicht mehr gerade stand, sondern versetzt zusammengewachsen war.
Mein Trainer Dieter Hermann nannte mich wegen meines flachen Laufstils »den Schleicher«. Sprinter heben ihre Knie stark an und machen besonders große Schritte, aber ich lief von Natur aus eher kraftsparend wie ein Langstreckenläufer mit geringem Kniehub. Wenn wir in der Trainingsgruppe bei feuchtem Wetter laufen gegangen sind, dann waren danach alle mit Schlammspritzern bedeckt, bis zum Kopf hoch, und bei mir waren nur ein paar Spritzer an der Wade.
Hermann wollte darum aus mir zunächst einen Langstreckenläufer machen und war völlig überrascht über meine Sprinterqualitäten. Ich bin die 100 Meter fliegend – also ohne Anlaufphase – unter zehn Sekunden gelaufen und war auch zwei Jahre in der 400-Meter-Staffel der deutschen Nationalmannschaft. Die 400 Meter sind die längste Sprintdisziplin, und wenn ich den Scheuermann nicht gehabt hätte, wäre ich vielleicht ein Sprinter geworden. Auf jeden Fall lagen dort meine größten Stärken. Von meinen physischen Anlagen her war ich nicht gerade dazu bestimmt, ein Mittelstreckenläufer zu werden.
Aber Handicaps können eben auch ein enormer Ansporn sein, möglich zu machen, was eigentlich unmöglich scheint. Das gilt umso mehr, wenn man wie ich das Handicap einfach nicht wahrhaben will. Es kann darum sehr gut sein, dass ich, wenn ich keinen Scheuermann gehabt hätte und Sprinter geworden wäre, es nie in die internationale Top-Liga geschafft hätte. Oder Michael Johnson ohne seine steife Wirbelsäule und Usain Bolt ohne seine für einen Sprinter eigentlich viel zu langen 1 Meter 96 keine solchen Ausnahmeläufer geworden wären.
Das Tückische an meinem Erfolgsmärchen war nur, dass ich fest davon überzeugt war, es noch mal und noch mal wiederholen zu können. Ja, es mir sogar schuldig zu sein, gegen jede Schwäche, die sich bemerkbar machte, immer noch gnadenloser anzukämpfen. Und tatsächlich, zunächst klappte das auch. Anfang 2000 hatte ich einen Muskelfaserriss, ich konnte erst wenige Monate vor Olympia wieder richtig trainieren und war dann um so ehrgeiziger. Aber mein Eifer, krankheitsbedingte Rückstände umgehend wettzumachen und in die noch nicht ganz abgeklungenen Verletzungen hinein schon wieder anzutrainieren, strapazierte meinen Körper so sehr, dass ich nur immer wieder neue Verletzungen provozierte. Ich geriet in einen Teufelskreis, der mich schließlich mehrere Jahre lang außer Gefecht setzte.
Fantastische Ziele
Aber ich wollte es partout nicht wahrhaben, sondern träumte davon, 2008 in Peking wieder ganz vorne mit dabei zu sein und 2012 in London gleich noch einmal. Da wäre ich dann zwar schon 34 gewesen, aber irgendwie hatte ich die Vorstellung, meine Krankheitsjahre müssten mir am Ende meiner Karriere gutgeschrieben werden, das wäre doch nur gerecht …
Auch als es 2009 unausweichlich geworden war, meiner Karriere als Läufer ein Ende zu setzen, fand ich sogleich ein Schlupfloch für eine neue Unmöglichkeit: Jetzt, mit 31, wollte ich doch noch mal Fußballer werden. Nicht als Profi, so verblendet war ich nicht, aber ich wollte zurück zu meinem alten Team, SV Blauweiß 91 Bad Frankenhausen, für das ich auch schon gespielt hatte, bevor ich mich ganz aufs Laufen konzentriert hatte. Der Trainer, Wolfgang Hoffmann – ein alter Jugendfreund meines Vaters –, war noch derselbe wie damals vor 15 Jahren, und auch im Team gab es viele alte Bekannte. Wir spielten in der Bezirksliga, es war also nicht todernst, und ich musste ja sowieso weiter Sport treiben, um mich vorsichtig abzutrainieren.
Doch gleich beim ersten Punktspiel bin ich nach sechs Minuten Spielzeit bei einem Kopfball unglücklich gelandet und habe mir am rechten Bein alle Außenbänder gerissen. Unglücklicherweise auch noch genau einen Tag vor meiner Hochzeitsreise nach Kanada. Statt die Reise abzusagen, ließ ich das Bein schnell eingipsen und fing noch während der Reise wieder an zu trainieren. Ich konnte nicht laufen, aber bin scharf gewalkt. Das war von Anfang bis Ende ein riesiger Fehler. Man hätte da eigentlich eine OP machen und das Bein ruhigstellen müssen. Dadurch, dass ich es gleich wieder belastet habe, hat mein Sprunggelenk sehr gelitten, und es hat sich eine Arthrose gebildet. Bei größeren Belastungen habe ich heute oft starke Schmerzen. Fußballspielen kann ich seither gar nicht mehr, das mache ich höchstens noch mal Weihnachten mit Freunden und kann danach eine Woche lang kaum auftreten. Alle meine Verletzungen aus dem Leistungssport sind verheilt und auskuriert – nur das Sprunggelenk ist meine Schwachstelle. Ich kann nicht so viel laufen, wie ich möchte. Meine ein, zwei Laufeinheiten pro Woche, das ist schon gut. Vielleicht werde ich in fünf bis zehn Jahren gar nicht mehr richtig laufen können, sondern nur noch radfahren und schwimmen.
Wie blöd kann man sein? Manchmal frage ich mich, ob wir uns, je mehr wir über unseren Körper wissen, nur umso dümmer mit ihm anstellen. Sicher, unsere Lebenserwartung ist über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich gestiegen und viele schwere Krankheiten lassen sich heute komplett heilen, aber das setzt uns auch in den Irrglauben, gar nicht mehr richtig auf uns achten zu müssen – irgendein Arzt, irgendein Vitamin, irgendeine Diät wird es schon richten. Einmal nachgefüllt, repariert, justiert und gut ist.
Fit heißt passend
Unser Körperverständnis gleicht heute weitenteils dem einer Maschine. So wie sich Menschen Gott als ihr Ebenbild vorstellen, so wiederum die Menschen als Ebenbild der von ihnen geschaffenen Maschinen – Maschinen, die reibungslos zu funktionieren haben, sonst sind sie kaputt beziehungsweise krank. Doch Mensch zu sein hat keinen bestimmten Nutzen, dem wir gesund völlig gerecht werden können und krank eben nicht. Mensch zu sein, das ist eine Unzahl von Möglichkeiten, und je gesünder wir sind, desto besser können wir uns ihnen stellen.
Einem solch dynamischen Verständnis von Gesundheit wird am ehesten das englische Wort Fitness gerecht. Fitness ist ein der Evolutionstheorie entlehnter Begriff und meint hier das Überleben in einer ökologischen Nische: Lebewesen und Umwelt passen – fit – zueinander. In der Wohlstandsgesellschaft hat die Fitness eine anspruchsvollere Bedeutung bekommen. Fit zu sein heißt hier nicht mehr nur, dass wir überlebensfähig sind, sondern dass unsere körperliche Verfassung uns erlaubt, ein unseren Ansprüchen an uns selbst gerecht werdendes Leben zu führen. Weshalb wir, obgleich wir heute auch dick wie eine Tonne und mit nur wenigen Schritten pro Tag älter werden können als ein agiler Steinzeitmensch, uns doch nicht als fit erachten würden: Ständig kommt man dann ins Schwitzen und aus der Puste, und ab den mittleren Jahren muss man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Insulin spritzen sowie Betablocker und Blutverdünner einnehmen. Etwas später gibt es künstliche Knie und eine künstliche Hüfte. Eine künstliche Wirbelsäule gibt es noch nicht, weshalb man die Schmerzen im untrainierten, überlasteten Rücken nur mit Pillen stillen kann. Vielleicht fault einem auch noch ein Fuß ab oder man hat chronisch offene Beine, dann werden die Schmerzen so stark, dass man sie nur noch mit Opiaten einigermaßen in Schach halten kann, weshalb man – die schlechte Durchblutung tut ein Übriges – auch nicht mehr richtig klar denken kann. Nein, so möchte sicher niemand leben. Nein, wir möchten schlank und beweglich sein, keine Frage.
Magersucht und Muskelsucht
Aber wie schlank, wie beweglich genau eigentlich? Das ist eine Frage, die wir uns in der Regel nie stellen. Wir haben so viel damit zu tun, schlanker und beweglicher zu werden, und sind uns jetzt schon sicher, dass es nie genug sein wird.
Dabei steigt in unserer Gesellschaft nicht nur die Zahl derer, die übergewichtig sind und sich kaum bewegen, sondern genauso, wenn nicht schneller, die Zahl derer, die mager- oder muskelsüchtig sind. Magersüchtige gefährden ihre Gesundheit akuter, als wenn sie jeden Tag nur Burger und Pommes essen würden. Auch wenn in Deutschland jedes Jahr nur einige Tausend Fälle klinisch diagnostiziert werden, gelten 1,1 Prozent aller Frauen und 0,3 Prozent aller Männer als magersüchtig, 0,3 Prozent aller Frauen und 0,1 Prozent aller Männer leiden an Bulimie. Bei Jugendlichen in der Wachstumsphase liegen die Schätzungen deutlich höher.
Und muskelsüchtig? Das Wort kommt Ihnen komisch vor, davon haben Sie noch nie gehört? Aber wie sonst würden Sie Menschen nennen – in diesem Fall sind es vor allem Männer –, die ihr ganzes Leben darauf ausrichten, mehr Muskeln zu entwickeln und dabei vor Doping nicht zurückschrecken? Im Kapitel »Doping« komme ich darauf noch detailliert zu sprechen – auch hier sind die Gesundheitsrisiken massiv.
Selbst wenn Sie ganz sicher sind, vor solch einem Körperfanatismus schon allein deshalb geschützt zu sein, weil sie eh viel zu bequem sind, ist es sinnvoll, nicht nur das eine, sondern beide ungesunden Extreme im Blick zu haben. Also nicht nur vom Schrecken Übergewicht getrieben zu werden, während vor uns ein leerer Horizont liegt – die Idealform, egal wie weit man schon gekommen ist, unsichtbar dahinter. Sondern dass wir die Idealform als etwas Handgreifliches begreifen, das ganz genauso wie die reale Form zwischen den Extremen liegt. Die Idealform ist nicht etwas Utopisches, dem wir uns bestenfalls nähern können – nie werden wir so perfekt sein wie eine Maschine, nie so perfekt wie Gott –, sondern ganz und gar von dieser Welt.
Das erreichbare Ideal
Es geht beim Fitsein wie auch sonst im Leben darum, die richtige Balance zu finden, die gesunde Mitte. Bereits in der griechischen Antike galt das Maßhalten zwischen den Extremen als eine zentrale Tugend, die von der richtigen Ernährung bis zur richtigen Dosis Mut alles umfasste. Der griechische Philosoph Aristoteles schreibt: »Es gibt also drei Grundhaltungen: Zwei fehlerhafte, durch Übermaß und Unzulänglichkeit gekennzeichnet, und eine richtige: die Mitte.« Dann gibt er Beispiele: Großzügigkeit ist die goldene Mitte zwischen Geiz und Verschwendung, Tapferkeit die zwischen Feigheit und Tollkühnheit.
Mit der Christianisierung ging diese Idee eines guten Lebens zusehends verloren. Jetzt ging es darum, einem unerreichbaren Ideal nachzustreben – Jesus. Egal, wie sehr wir uns anstrengen, nie werden wir wohltätig, ehrlich, bescheiden, friedlich und weise genug sein. Oder später im Kapitalismus: reich genug. Und als Leistungssportler: schnell genug, hoch genug, weit genug ...
Heute ist wieder viel von der »Mitte« die Rede. In der Politik ist die Mitte zu einem Kampfbegriff geworden, mit dem man versucht, der Mehrheit nach dem Munde zu reden. Mitte ist hier der Durchschnitt dessen, was es schon gibt: schnödes Mittelmaß. In der Lebensphilosophie gilt es, die verloren gegangene »innere Mitte« wiederzufinden. Hier ist die Mitte so etwas wie ein ursprünglicher Wesensker...